Keine Welle von Sozialprotesten: Lauwarm, leicht bewölkt
Einen „heißen Herbst“ hatten manche erwartet, von der Linkspartei über Rechtsextreme bis zu Baerbock. Doch der Massenaufstand blieb aus. Warum?
Die schrillsten Töne hatte Außenministerin Annalena Baerbock angeschlagen. Wenn im Winter das Gas ausgehe, „können wir überhaupt keine Unterstützung für die Ukraine mehr leisten, weil wir dann mit Volksaufständen beschäftigt sind“, sagte die Grüne im vergangenen Juli. Auch der Thüringer Verfassungsschutzchef Stefan Kramer warnte vor einer „hochemotionalen, explosiven und gewalttätigen Situation, wo es zu Straßenprotesten kommen wird, die von Extremisten unterwandert und geschürt werden“. Die Coronaproteste seien dagegen „wahrscheinlich eher ein Kindergeburtstag“ gewesen.
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Manche hofften, der Unmut über die enorme Inflation von zeitweise über 10 Prozent könnte sich in kraftvollen linken Sozialprotesten entladen. Andere fürchteten, der Themenkomplex aus Preissteigerung und Ukrainekrieg würde der Verschmelzung extremer Rechter und Querdenker einen Schub geben. „Wir haben den politischen Auftrag, den heißen Herbst anzuheizen“, befand der neurechte Vordenker Götz Kubitschek im August im Podcast seines „Instituts für Staatspolitik“.
Womit also würde zu rechnen sein? Mit Massendemos? Einer Gelbwestenbewegung? Gar mit Anschlägen?
Lagerübergreifend war der 5. September als Protestauftakt auserkoren worden. Der Linken-Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann hatte zur Kundgebung „Heißer Herbst gegen soziale Kälte“ nach Leipzig aufgerufen. Auch extreme Rechte wie der Ex-AfDler André Poggenburg, der Verschwörungsideologe Jürgen Elsässer und die „Freien Sachsen“ trommelten ihre Anhänger an jenem Montag nach Leipzig. Mit dem Slogan „Getrennt marschieren – gemeinsam schlagen“ versuchten sie zu suggerieren, es handele sich um eine gemeinschaftlich verabredete Aktion. Gregor Gysi, von den Linken als Redner geladen, musste sich eilig von solchen Querfrontavancen distanzieren.
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Doch blieb die Resonanz am 5. September verhalten – und das sollte sich auch in den Folgemonaten nicht ändern. Die AfD-Demo „Unser Land zuerst“ am 8. Oktober brachte etwa 10.000 Menschen nach Berlin; das Demonstrationsbündnis „Solidarischer Herbst“ von Paritätischem Wohlfahrtsverband, Campact und anderen mobilisierte zwei Wochen später rund 24.000. Massendemos waren das nicht.
„Der ‚heiße Herbst‘ war ja eher ein laues Lüftchen“, klagte Stefan Huth, der Chefredakteur der linken Zeitung junge Welt, bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz am zweiten Januarwochenende. Kurioserweise wählte Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang Ende Dezember gegenüber der Süddeutschen Zeitung dieselben Worte: „Was aktuell an Protesten läuft, ist eher ein laues Lüftchen.“
Das Frustpotenzial der Rekordinflation trieb die Menschen also nicht auf die Straße. Aber warum nicht?
Die Entlastungspakete kamen an
Mit ihren Hilfspaketen habe die Bundesregierung die Lage teilweise entschärft, glaubt Ulrich Schneider, der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Die Ampel sei zwar in die Lage „reingestolpert“, habe aber mit dem erhöhten Wohngeld, der Gaspreisbremse und den Einmalzahlungen für Rentner linke Forderungen teilweise erfüllt. „Viele fühlten sich entlastet“, sagt Schneider. Schon bei einem Treffen mit Gewerkschaftsspitzen Anfang September habe Bundeskanzler Olaf Scholz in Aussicht gestellt, die scharf kritisierte Gasumlage durch eine Preisbremse zu ersetzen. „Das führte dazu, dass die großen Gewerkschaften sich nicht an Demos beteiligten.“
Bettina Kohlrausch lässt bis zu dreimal pro Jahr Tausende Erwerbstätige und Arbeitsuchende zu ihrer sozialen Lage und den politischen Einstellungen befragen – das zählt zu ihrem Job als Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung. Es zeige sich, dass die finanziellen Sorgen, die im Zuge der Coronakrise und gestiegener Preise gerade bei den unteren Einkommen zugenommen haben, „antidemokratische Einstellungen“ speisten. „Ich hatte deswegen auch gedacht: Das Potenzial für einen heißen Winter ist da“, sagt Kohlrausch. Doch es sei nicht abgerufen worden.
Bei der jüngsten Befragung im November hatte 1 Prozent angegeben, sich durch die Hilfsmaßnahmen „sehr entlastet“ zu fühlen, 26 Prozent „etwas entlastet“, und weitere 42 Prozent stellten eine „geringfügige Entlastung fest“. Es sei „nicht so, dass die beschlossenen Entlastungen allen Menschen ihre finanziellen Sorgen nehmen“, sagt Kohlrausch. „Aber vielleicht haben die Leute doch das Gefühl, dass etwas passiert ist für sie.“
Zwar gebe es „viel Wut und viele Sorgen“, aber es existiere kein klares Feindbild aufseiten der Protestierenden, sagt der in Basel lehrende Soziologe Oliver Nachtwey. Die Regierung habe „sichtbar Bemühen gezeigt, mit dieser Situation umzugehen und die stärksten Notlagen einigermaßen abzufedern“. Das unterscheide die Ausgangslage für Sozialproteste etwa von der Zeit der Agenda 2010 in den Nullerjahren, als die Regierung als „unsozial, unnachgiebig und hart“ wahrgenommen worden sei, sagt Nachtwey.
Daphne Weber vom Parteivorstand der Linken hingegen glaubt, dass die Belastungen bei vielen erst verspätet spürbar werden. „Die große Rechnung kriegen viele erst jetzt.“ Hinzu komme, dass für viele Menschen Demonstrationen keine Option seien – sie suchten eher „Lösungen für sich“. Die Frage laute nun: „Was folgt jetzt langfristig an konkreter Solidarität. Da müssen wir die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften verstärken.“
Kein Triumph für Rechtsaußen
Auch die Rechten vermochten die Lage nur bedingt auszunutzen. In Plauen kamen im Herbst Tausende zu sogenannten Volksversammlungen zusammen. So etwa am 6. November, als sich rund 4.500 Menschen in der vogtländischen Kreisstadt versammelten, trommelten, „Freiheit“ riefen und Schilder mit Forderungen wie „Raus aus der NATO“, „Asylbetrüger abschieben“, „Frieden mit Russland“ oder „Stoppt die WHO“ vor sich hertrugen.
Zum Ende der DDR 1989 hätten Kundgebungen in Plauen eine führende Rolle gespielt – unter Verweis darauf würden dort heute Reden gehalten, die „vor Rassismus und Demokratiefeindlichkeit strotzen“, sagt Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen. Die großen Sozialproteste seien zwar in der Fläche ausgefallen. Aber es gebe lokale Hochburgen, wie eben Plauen oder Bautzen, wo weiterhin wöchentlich Tausende auf die Straße gehen. In Bautzen sei dies getrieben von einem harten Kern von Verschwörungsideologen, die sich mit einer „agilen Neonaziszene“ organisierten und unter anderem auch Ken Jebsen eingeladen hätten, so Nattke.
Insgesamt sehe er eine Protestermüdung: „Viele der Akteure sind seit Beginn der Coronaproteste 2020 durchgehend auf der Straße.“ Dazu komme, dass die neuen Themen teils kontrovers seien, etwa die Frage, ob Russland eher positiv oder eher als einstiger Besatzer betrachtet werde. Daher sei der inhaltliche Kitt jenseits des schwindenden Coronathemas dünn.
Johannes Kiess leitet ein Forschungsprojekt an der Universität Leipzig, das Hunderte verschwörungsideologische Telegram-Kanäle beobachtet. Die in der Pandemie entstandene Verbindung von Nazis und Querdenkern sei „stark und weiter da“, sagt Kiess. Doch die Energiekrise sei von der Politik „gut genug wegmoderiert“ worden, und so habe das rechte Spektrum darin „nie einen zündenden Punkt gefunden“.
Grabenkämpfe bei den Montagsdemos
Außerdem seien die untersten Einkommensschichten bei rechten Protesten kaum vertreten: „Das ist eher von der Mittelschicht getragen. Die schimpfen zwar über die hohen Benzinpreise, sind aber nicht existenziell bedroht.“ Grabenkämpfe und „Kleinstaaterei“ im rechten Lager hätten das ihrige getan: „Einig ist man sich nur, wenn es gerade einen Erfolg gibt. Und der ist im Herbst ausgeblieben.“ In Leipzig etwa hätten sich die rechten Montagsdemos zuletzt in drei separate Züge aufgespalten.
Auch der Magdeburger Rechtsextremismusexperte David Begrich glaubt, dass sich in den Coronaprotesten ein neues Milieu aus extremer Rechter und Querdenkern zusammengefunden habe. Die Inflation komme jedoch „bei vielen Menschen nicht stark genug an“, um Grundlage breiter Proteste zu sein. „Die aktuell hohen Flüchtlingszahlen aber werden gesehen. Und dafür gibt es in Ostdeutschland eine rassistische Deutungsfolie, die auf Resonanz stößt.“ Begrich erwartet deshalb eher eine „Wiederkehr der Proteste von 2015“. Denn Rassismus und die soziale Frage zusammenzuführen, das sei seit jeher das Erfolgsrezept der extremen Rechten.
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