Kein linker „heißer Herbst“: Die ausgefallene Revolte

Der linke „heiße Herbst“ ist gescheitert – es fehlt das revolutionäre Subjekt. Aber Gründe gibt es mehr. Eine Annäherung.

Demonstranten mit Schildern, Aaufschrift: Die Krise heißt Kapitalismus

Demonstration des Bündnisses Solidarischer Herbst im November Foto: Stefan Boness/Ipon

BERLIN taz | Die Stimmung ist elektrisierend, als sich am Mittwoch, den 17. August, 200 Menschen in der Reinhardtstraße vor der FDP-Parteizentrale versammeln. Es ist das Gefühl, Teil von etwas Großem, am Beginn von etwas Historischem dabei zu sein. Da stört es kaum, dass der erste linke Sozialprotest des sogenannten heißen Herbstes nur klein ist – es soll ja auch nur der erste Protest von vielen sein. Empathisch wird immer wieder erklärt: Die soziale Frage ist zurück.

Vier Monate später ist davon wenig übrig. Ein Blick in die Demokalender entblößt bezogen auf Sozialproteste eine gähnende Leere. „Früher hätten wir gesagt: Es herrscht keinerlei revolutionäre Stimmung“, sagt Uwe Hiksch, Mitinitiator von Heizung, Brot und Frieden, einem der drei größeren Berliner Protestbündnisse. In der Spitze konnte das bewegungsnahe Bündnis Umverteilen 7.000 Menschen auf die Straße bringen. Die meisten anderen Demos blieben wesentlich kleiner – und stets erschien vor allem das bereits politisierte, aktivistische Spektrum.

Das linke Projekt heißer Herbst ist gescheitert. Wahrscheinlich war der Optimismus, dass diese so ins gesellschaftliche Abseits gedrängte Linke aus dem Stand heraus eine soziale Revolte ausrufen kann, von Beginn an realitätsfremd. Vor allem ist es nicht gelungen, die eigentlich Betroffenen zu mobilisieren. „Die, ich sage mal, normalen Menschen nehmen der Linken nicht mehr ab, eine Kraft für positive Veränderung zu sein“, resümiert Hiksch nüchtern.

Gespalten hat die Linke Russlands Krieg in der Ukraine. Die Stimmen, die ernsthaft mit Russland sympathisieren, blieben stark marginalisiert, ungeklärt dagegen sind auch für junge Ak­ti­vis­t:in­nen die Fragen nach Sanktionen und Waffenlieferungen. „Unser Konsens ist, dass wir Putins Angriffskrieg verurteilen, aber die Sanktionsfragen haben wir im Bündnis ausgeklammert“, sagt selbst Toni Michels vom Umverteilen-Bündnis, in dem sich die sozialen Bewegungen – von Fridays for Future bis zur anarchistischen Perspektive Selbstverwaltung – zusammengeschlossen haben.

Zerstrittenheit als Zeichen der Schwäche

„Das, was in der antifaschistischen Tradition ja häufig gelingt, dass also Gruppen miteinander auf die Straße gehen, die sonst wenig miteinander zu tun haben, hat nicht funktioniert“, sagt auch Hiksch. Auf den Protesten von Heizung, Brot und Frieden wurden die Sanktionen durchaus zur Ursache der sozialen Verwerfungen erklärt. Für Hiksch ist die linke Zerstrittenheit ein Zeichen der eigenen Schwäche: „Je geringer der Einfluss einer Strömung ist, umso stärker werden die theoretischen Unterschiede ausdiskutiert.“

Doch allein an der Unsicherheit in der Sanktionsfrage liegt es nicht, dass die Sozial­proteste keine Wucht entfalten konnten. Auch die häufig von rechtsextremen Gruppen organisierten Montagsdemos sind zuletzt nicht mehr angewachsen. Zum groß angekündigten Protest der AfD gegen die Energiepreise unter dem Motto „Unser Land zuerst“ im Oktober kamen zwar 10.000 Menschen – auch hier erschien aber vor allem die eigene, rechtsradikale Stammklientel. In Umfragen hat die AfD dennoch zuletzt zugelegt.

Eine naheliegende Erklärung für die fehlenden Unruhen ist, dass die Ampel mit Entlastungen dämpfend auf die Proteststimmung eingewirkt hat: 200 Milliarden Euro zur Abfederung der Energiekosten, Preisbremsen, 49-Euro-Ticket, Übergewinnsteuer auf EU-Ebene – alles zentrale Forderungen der Sozialproteste. „Ehrlich gesagt ist, wenn auch stark verwässert, inzwischen unser halber Forderungskatalog erfüllt“, sagt Ines Schwerdtner von der Protestplattform Genug ist genug.

Die Not existiert

Doch nach wie vor greift die Armut um sich: Die Löhne werden von der Inflation aufgefressen, als Streikerfolg gilt inzwischen, wenn der Reallohnverlust wenigstens nicht allzu hoch ist. Wegen der drastischen Strom- und Gaspreise sitzen viele auch im Dezember noch in der kalten Wohnung. Und die Schlangen vor den Tafeln werden immer länger. Erklären kann also auch das Handeln der Regierung die fehlenden Proteste nicht komplett.

Hiksch sagt: „Es ist der herrschenden Theorie gelungen, die soziale Marktwirtschaft fest in den Köpfen vieler Ar­bei­te­r:in­nen zu verankern.“ Das sei aber nicht nur ein Erfolg der neoliberalen Dekaden, sondern auch Resultat der Schwäche der Linken. „Die gesellschaftliche Linke konnte in den letzten 30 Jahren im sozialpolitischen Bereich keinen einzigen Erfolg erringen“, sagt Hiksch. Selbst die Hartz-IV-Proteste, der letzte große von links geführte Sozialprotest, seien schließlich gescheitert.

Anders als in Frankreich oder Griechenland fehle schlicht das Bewusstsein, dass auf der Straße zu kämpfen tatsächlich zu Verbesserungen führen kann – selbst in der Linken. „Antifa-Gruppen aus Sachsen haben mir erzählt, die Sozialproteste seien das erste Mal gewesen, dass sie überhaupt etwas Produktives nach vorne machen“, berichtet Schwerdt­ner. Mit dem Problem hängt zusammen, dass die gesellschaftliche Linke offenbar nicht mehr in der Lage ist, die vorhandene Wut über die Zustände zu kanalisieren – was wiederum den Faschisten in die Hände spielt.

Entfernung von den Menschen

Gründe dafür seien etwa der fehlende Kampfgeist der Gewerkschaften – aber auch, dass sich die radikale Linke von den „normalen Menschen“ entfernt habe, sagt Hiksch. Tatsächlich sind linke Strukturen oft verschlossen für diejenigen, die sich nicht als privilegiert fühlen und die Dos and Don’ts der Szene beherrschen. Für Demos mobilisiert die radikale Linke häufig hauptsächlich in der eigenen Szene – und beschneidet sich damit selbst.

Laut Hiksch seinen zudem viele Großdemonstrationen der vergangenen Jahre – etwa gegen das Freihandelsabkommen TTIP – vom „rot-grünen Bildungsbürgertum“ getragen worden. Dieses sei aber vor dem Querfrontverdacht, den Po­li­ti­ke­r:in­nen zu Beginn des Herbstes streuten, zurückgeschreckt. Zudem sehe sich das Milieu häufig von der Ampel politisch repräsentiert.

Und so fehlt es der Linken schlicht an einem revolutionären Subjekt. Die Linke verfügt nicht mehr über die nötige Verankerung und Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung, um zu großen Sozialprotesten aufzurufen. „Die Beschäftigten sind ja angepisst. Nur ist das, was die gesellschaftliche Linke macht, bisher nicht sehr ansprechend“, sagt Schwerdtner.

Das muss aber nicht so bleiben. Anzeichen dafür, dass ein Umdenken eingesetzt hat, gibt es einige. Mit Deutsche Wohnen & Co enteignen ist eine Massenbewegung entstanden, die den Anspruch hat, einen Klassenstandpunkt zu vertreten. Die Berliner Krankenhausbewegung hat indes gezeigt, dass Arbeitskämpfe nicht isoliert geführt werden müssen, sondern die Gesellschaft als Ganzes angehen.

Ein Erfolg des lauen Protestherbstes war, dass sich etliche linke Ak­ti­vis­t:in­nen erstmals intensiv mit der sozialen Frage befasst haben. „Wann gab es denn mal eine Demo, wo Antifagruppen, #IchBinArmutsbetroffene und die Berliner Krankenhausbewegung zusammen auf die Straße gegangen sind?“, fragt Michels vom Umverteilen-Bündnis. Antikapitalismus habe stets „zum Kern“ der gesellschaftlichen Linken gehört, das Bewusstsein, dass die Verteilungsfrage alle Themenbereiche betrifft, sei durch die Proteste aber gestärkt worden.

Und so wollen die entstandenen Krisenbündnisse aktiv bleiben, Vorträge halten, sich in Organizing stürzen, sich bereithalten, um zu intervenieren, sollte die Stimmung doch noch einmal hochkochen.

Die Sozialproteste im Herbst waren das Zucken einer Linken, die nach vier neoliberalen Dekaden keine Lust mehr hat, sich auf die ewigen Abwehrkämpfe zu beschränken. Ja, der heiße Herbst ist gescheitert, angesichts der gegenwärtigen Schwäche der Linken war von etwas anderem auch gar nicht auszu­gehen. Doch das Scheitern könnte auch erst der Anfang sein. Es gibt schließlich eine Welt zu gewinnen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.