Protest in Ostdeutschland:Immer wieder montags
Gegen „Impfzwang“, Ukrainehilfe und Migranten: Seit Wochen gehen in Gera Menschen auf die Straße. Droht eine Radikalisierung?
23.11.2022, 11:22 Uhr
Immer wieder dröhnen die Forderungen aus den Boxen des Bollerwagens, den Christian Klar an der Spitze der Demonstration hinter sich herzieht. Es dürfe keine Russlandsanktionen mehr geben, keine Waffenlieferungen an die Ukraine, keine „Impfzwänge“ und „keine Massenzuwanderung“. Seit Jahrzehnten werde Thüringen „fremdbestimmt“, heißt es da, und es regiere ein „Parteienkartell“. „Wir haben lange genug stillgehalten“, hallt es über die dunklen Straßen Geras. Nun werde man die „Zerstörung der Lebensgrundlagen nicht mehr hinnehmen“.
Hinter Christian Klar, dem Demo-Anmelder, gekleidet mit weißer Ordnerweste über der Jacke, folgen an diesem Montagabend mehrere Hundert Protestierende. Die Menschen schwenken Deutschland- und „Widerstand“-Fahnen, darunter auch eine russische. Ihre Banner künden „Deutschland zuerst“ oder „Lieber Kernkraft statt Migrantenstrom“ an, sie trommeln und trillerpfeifen. Fast eine Stunde lang zieht der Tross so durch die fast menschenleere Innenstadt, einige Anwohner beobachten ihn durch ihre Fenster.
Der Protest läuft inzwischen routiniert, alles ist wie immer. Auch viele Ältere sind gekommen, Sprechchöre bleiben aus, man kennt sich und plaudert lieber miteinander, so gut man bei dem Getriller eben plaudern kann. Bis Christian Klar am Ende noch mal die Stimmung anzuheizen versucht. Die Regierung habe geglaubt, der Protest sei vorbei, schreit er ins Mikrofon. „Aber jetzt erst recht!“ Gera sei die „Speerspitze des Thüringer Widerstands“. Es klappt: Gejohle.
Seit Wochen gehen sie so allmontäglich in Gera, einer 90.000-Einwohner-Stadt im Osten Thüringens, auf die Straße. So wie auch in anderen Städten in Ostdeutschland. Protestiert wird gegen die Krisenpolitik der Regierung, gegen steigende Preise, gegen die Russlandsanktionen wegen des Ukrainekriegs – und für einige auch gegen das System. Ein „heißer Herbst“ soll es werden, so wird es beschworen. Aber dieser „heiße Herbst“ ist bisher nur lauwarm. Und doch könnte er gefährlich werden.
„Gera ist heute der Anfang von etwas Neuem. Wir sind die Ersten von morgen“
In Gera liegt der Höhepunkt der Proteste schon einige Wochen zurück. 1.200 Protestierende zählt die Polizei an diesem Montag. Davor waren es noch gut 2.000 und am 3. Oktober nach Polizeiangaben gar fast 10.000, darunter Thüringens AfD-Chef Björn Höcke. Auch andere rechtsextreme Prominenz wie der Compact-Herausgeber Jürgen Elsässer, Vertreter der Freien Sachsen oder der Patrioten Ostthüringens hatten mobilisiert. „Gera ist heute der Anfang von etwas Neuem. Wir sind die Ersten von morgen“, rief Höcke, einen völkischen Leitspruch aufgreifend.
Ob diese Bewegung wirklich entsteht, ist keineswegs ausgemacht. Am 3. Oktober demonstrierten in ganz Thüringen 36.000 Menschen gegen die Bundesregierung, rund hunderttausend waren es insgesamt in Ostdeutschland. Seitdem aber stagnieren die Zahlen – oder sie gehen zurück. So sind am Montag laut Polizei thüringenweit nur noch 10.400 Menschen auf der Straße, in Ostdeutschland insgesamt rund 37.000.
Für eine Entwarnung sorgt das bei Politik und Sicherheitsbehörden dennoch nicht. Erst vor wenigen Tagen erklärte Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang, die Montagsdemonstrationen in einigen ostdeutschen Ländern erfüllten ihn mit „großer Sorge“. Anders als die Coronaproteste würden diese nun „eindeutig“ von Rechtsextremen angemeldet und beworben, ihre Redner stünden auf den Bühnen. „Die normalen Bürger ziehen sich zurück. Der Rechtsextremismus kapert die Straße.“
Auch Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts, zeigte sich alarmiert, dass „Hass und Hetze“ sich derzeit „rasend schnell im analogen wie digitalen Raum verbreiten“. Radikalisierungsprozesse hätten sich „beschleunigt und intensiviert“.
Der Organisator
In Gera lässt sich einiges davon beobachten. Schon seit Wochen gibt hier Christian Klar den Ton vor, ein 42-Jähriger, der zuletzt wegen Diebstahls und Hehlerei verurteilt wurde und den die Polizei der rechten Szene zuordnet. Tatsächlich bewegt sich Klar dort schon seit Jahren. Als Jugendlichen zeigt ihn ein Foto bei einem Aufmarsch des Thüringer Heimatschutzes, der Brutstätte des NSU. Später tauchte er beim Pegida-Ableger Thügida auf. Auch zu den Patrioten Ostthüringen um den szenebekannten Dachdecker Frank Haußner hält Klar beste Kontakte, ebenso zur AfD. Dass er dort, wie kolportiert, gar Mitglied ist, bestreitet er. Vor Kurzem allerdings baute er für die Partei einen Infostand auf.
Und erst vor gut einer Woche nahm Klar am Volkstrauertag an einem Neonazi-“Heldengedenken“ in Gera teil, danach an einem Liederabend des rechtsextremen Sängers und NPD-Mannes Frank Rennicke. Mit dem verbinde ihn eine „jahrelange Freundschaft“, teilte Klar auf seinem Social Media Kanal mit.
„Egal ob Massenmigration, Klimawandel, Corona, Impfung oder Ukrainekrieg: Alles dient einem großen Plan“
Schon vor einem Jahr protestierte Klar montags in Gera, damals noch gegen die Coronamaßnahmen. Im Frühjahr brachte ihm das nach eigener Auskunft eine Gefährderansprache ein: Er hatte dem Gera Polizeidirektor Schikanen vorgeworfen und ihn auf einem Plakat in Sträflingskleidung gezeigt.
Im August lud Klar mit den vom Verfassungsschutz beobachteten Freien Thüringern zu einem „Sommerfest“ in Gera, mit Hüpfburg und Bratwurst. Schon dort wurde ein „heißer Herbst“ beschworen. Danach stieg Klar voll auf das Thema ein.
„Egal ob Massenmigration, Klimawandel, Corona, Impfung oder Ukrainekrieg: Alles dient einem großen Plan“, rief Klar am 3. Oktober in Gera auf der Bühne. „In den feuchten Träumen der Globalisten, der Kabalen, sind wir alle das untere Ende der Nahrungskette.“ Der Regierung sei „jedes Mittel recht, um uns gefügig zu machen“.
Auch am Montag durchmischen sich die Themen. Protestiert wird immer noch gegen die Coronamaßnahmen, obwohl von denen kaum noch welche gelten, gegen die Russlandsanktionen, die Deutschland ruinierten, gegen die Nato, gegen den Atomausstieg, gegen die Grünen. Christian Klar wettert dazu noch gegen die GEZ. Er selbst rede mit der „Lügenpresse“ nicht mehr, ruft er ins Mikrofon und erntet dafür Applaus.
Später redet Klar im direkten Gespräch dann doch. Was er denn wirklich erreichen wolle? Es müsse sich grundsätzlich etwas verändern in Deutschland, antwortet Klar. Was genau? Er weicht aus und holt lieber zum Rundumschlag aus, was alles dieses Land zugrunde richte. Ein Nazi aber sei er nicht, wehrt sich Klar vehement. Er habe einen schwulen Cousin und ausländische Freunde, sein Friseur sei Syrer.
Die Sorgen in der Stadt
Ein rechtsextremer Anführer, die radikalen Worte, sie stören die Geraer Montagsdemonstrierenden nicht. Offenbar wollen sie genau das hören. Der Zulauf hat auch mit einer zweiten Person zu tun, die mit Klar regelmäßig auf der Straße steht: Peter Schmidt, lokaler Geschäftsführer einer Zeitarbeitsfirma, einst im Vorstand des Thüringer CDU-Wirtschaftsrats. Einer, der in der Stadt gut vernetzt ist und dem lange kein Rechtsaußenimage anhaftete. Der auf Facebook aber ebenso brachial gegen die „grüne Hassideologie“ oder den „Corona-Terror der Regierung“ wettert. Am Montag ist Schmidt nicht dabei, offenbar im Urlaub. Zuvor aber rief er via Facebook wieder zum Protest auf: „Lasst Euch nicht länger für dumm verkaufen!“
Jana Prochnow beobachtet all das mit Sorge. Die Psychiaterin ist Linken-Stadtvorsitzende in Gera. Als die Montagsprotestierenden am 3. Oktober zu Tausenden durch die Stadt zogen, stand sie auf einer Gegenkundgebung an einer Bahnunterführung, mit 350 Teilnehmenden. „Bedrohlich“ sei der Aufmarsch gewesen, sagt Prochnow. „Während wir von der Polizei eingekesselt waren, konnten die Rechten Migrantinnen und Migranten, Journalistinnen und Journalisten anpöbeln.“
Dass der Montagsprotest in Gera verfängt, rechnet Prochnow den Abstiegserfahrungen vieler in der Stadt zu. „Heute hat die Stadt wenig Perspektive und wenig Bildungsbürgertum, aber viel Frust. Verlustängste sind sehr präsent, auch ein Gefühl der Kränkung.“ Dazu kämen, anders als im Westen, geringere finanzielle Polster. Die Krise treffe hier viele unvermittelter, sagt Prochnow. Wenn dann jemand wie Peter Schmidt auf die Straße gehe, ziehe das. Dass auch Rechtsextreme mit marschieren, sei vielen egal – umso mehr, da es seit jeher eine selbstbewusste Neonaziszene in der Stadt gebe, an die sich viele gewöhnt hätten.
Christian Klar weiß diese fehlende Distanzierung seiner Mitprotestierer zu nutzen – und seine jahrelangen Szenekontakte. Schon beim „Sommerfest“ tauchte Höcke auf, stand Szenesänger Rennicke auf der Bühne. Die „Freien Thüringer“ und die „Patrioten Ostthüringen“ bewerben die Geraer Aufzüge. Und auf der Demo am Montag trägt eine Frau auch eine AfD-Weste, sonst hält sich die Partei im Hintergrund.
In der Stadt Gera ist die AfD schon länger tonangebend. Im Stadtrat hält die Partei seit 2019 die meisten Sitze. Bei der letzten Bundestagswahl holte sie 28 Prozent im Wahlkreis, gut 6 Prozentpunkte mehr als die zweitplatzierte SPD. Und am 3. Oktober nahmen AfD-Vertreter reihenweise am Geraer Aufzug teil. Ein lokaler Parteifunktionär lobte danach die „fantastische Organisation der Montagsfamilie“. Es ist kein Zufall, dass der Großaufmarsch ausgerechnet in Gera stattfand.
Die Grenzen verschwimmen auch anderswo. In Sachsen traten zuletzt Redner der NPD oder der rechtsextremen Freien Sachsen auf den Montagsprotesten auf. In Brandenburg gehört der rechtsextreme Verein Zukunft Heimat zu den Protestorganisatoren, in Mecklenburg-Vorpommern die Fraktion „Heimat und Identität“. Dazu stehen auch Andreas Kalbitz oder André Poggenburg auf den Bühnen, frühere AfD-Männer und Radikale, die die Partei ausgeschlossen hat.
Und auch diese Auftritte sind kein Zufall. Schon im August rief der neurechte Vordenker Götz Kubitschek dazu auf, die Herbstproteste zu unterstützen, damit diese „nachhaltig, unversöhnlich und grundsätzlich“ werden. Vor allem die „Freien Sachsen“ und „Freien Thüringer“ treiben das voran. In Thüringen wurde im September auf mehreren Montagsprotesten plötzlich parallel ein Forderungskatalog mit zehn Punkten verlesen, den auch die Landes-AfD kurz darauf veröffentlichte – es ist der, der auch am Montagabend in Gera immer wieder ertönt. Unabhängiger Bürgerprotest vor Ort? Es wirkte eher wie die Orchestrierung rechtsextremer Strippenzieher.
Auch die Bundes-AfD hatte zuvor einen „heißen Herbst“ ausgerufen, organisierte dafür eine „Großdemo“ in Berlin. Ihren rechtsextremen Frontmann Höcke zieht es mehr in die Provinz, momentan pilgert er dort von Montagsdemo zu Montagsdemo. Dass in seiner Partei eigentlich ein Unvereinbarkeitsbeschluss etwa mit den Freien Sachsen existiert, ignoriert er. „Wir lassen uns nicht spalten, niemals“, verkündete Höcke zuletzt. Und die Fraktionschefs der ostdeutschen AfD gaben eine Erklärung ab, man verstehe sich „als Teil der bundesweiten Protestbewegung“.
In Gera gibt es aber auch andere, die wegen der Energiekrise protestieren – und genau diesen Schulterschluss nicht wollen. Anfang Oktober rief erstmals die Kreishandwerkerschaft zu einem Autokorso in der Stadt auf. Mehr als 200 Firmenautos beteiligten sich. „Ohne Mittelstand geht das Licht aus“, verkündeten Banner. Vor wenigen Tagen erfolgte der zweite Korso. Die Handwerker wählten dafür bewusst nicht den Montag, sondern einen Donnerstag, wie Organisator Stefan Haase, Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft, betont.
Die Krise treffe die Branchen hart, klagt der KfZ-Fachmann. Die Materialengpässe seien massiv, die Sprit- und Energiepreise völlig überzogen, man könne kaum noch planen. „Wir können das nicht alles auf die Kunden umlegen. Aber wenn wir es nicht tun, werden einige von uns auf der Strecke bleiben.“ Man müsse die Politik aufrütteln, deshalb die Autokorsos. Haase sagt: „Es muss etwas passieren.“
Zu den Montagsdemos aber halte man Distanz, sagt Haase. Der Protest dort sei zu „AfD-lastig“, man selbst setze auf Überparteilichkeit. Auch dass Politiker dort persönlich angegangen oder in Sträflingskleidung gezeigt würden, sei nicht der richtige Weg. „Das löst nicht die Probleme.“
Der bedrohte Bürgermeister
Geras Oberbürgermeister Julian Vonarb, ein parteiloser Bankkaufmann, im badischen Freiburg aufgewachsen und seit dem Jahr 2018 im Amt, treibt das Protestgeschehen um, zwangsläufig. Weil er die Krisenfolgen sieht. Und weil der Protest ihn schon länger zum Feindbild erkoren hat. Schon vor Wochen warnte Vonarb, dass die Energiekrise die Bürger und Unternehmen hart treffen könne, und forderte einen Energiedeckel. Der 50-Jährige besprach das Thema auf dem Städte- und Gemeindebund, traf sich in Berlin mit dem Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider. „Ich versuche auf allen Ebenen, die Lage für die Menschen erträglicher zu machen“, versichert Julian Vonarb. Stefan Haase lobt ihn: „Das Problem ist ja kein lokales, aber er unterstützt uns und macht Druck.“
Dass Menschen wegen der Krise auch auf die Straße gehen, sei erst mal „ein legitimes Mittel“, das vom Grundgesetz geschützt sei, sagt der Oberbürgermeister. Gerade der Autokorso der Handwerker sei „ein gutes Beispiel“, wie das aussehen könne. „Dafür haben sie meine vollste Unterstützung.“
Bei den Montagsprotesten seien dagegen „Narrative der vermeintlichen Spaltung zu hören, welche die Situation verschärfen“, klagt OB Vonarb. Es sei „bedauerlich“, dass Rechtsextreme versuchten, die Proteste zu benutzten, um ihr Gedankengut zu verbreiten und den Rechtsstaat infrage zu stellen. Dennoch, das ist Vonarb wichtig zu betonen, liefen montags auch viele Menschen mit, die „eindeutig nicht der rechtsextremen Szene angehören, sondern dieses Format lediglich als Möglichkeit sehen, ihrer Unzufriedenheit oder ihren Ängsten Ausdruck zu verleihen“.
Linken-Chefin Prochnow kritisiert, dass Vonarb die Montagsdemos erst sehr spät kritisierte. Dass der OB nun aber deutlichere Worte findet, erzürnt wiederum die Montagsdemonstrierenden. Schon als er die Coronamaßnahmen mittrug, geriet Vonarb dort ins Visier. Im Januar zogen Hunderte Protestierende unangemeldet an seinem Wohnhaus vorbei, wo er mit seiner Frau und den Kindern lebt. Ministerpräsident Bodo Ramelow sprang Vonarb bei. Er wolle so etwas nie wieder erleben, sagte Vonarb damals. Danach suchte er das Gespräch mit den Protestierenden, lud Peter Schmidt zu einem Videotalk ein. Es half nichts, im Gegenteil.
Zuletzt brandeten die Anfeindungen wieder auf. Vonarb war beim Autokorso der Handwerker als Gastredner aufgetreten. „Ich stehe eng an Ihrer Seite. Ich arbeite intensiv im Hintergrund für Sie“, versicherte er. Von den Montagsprotesten aber distanzierte er sich nochmal ausdrücklich: „Im Dunkeln mit Trommeln und Fackeln zu marschieren, hilft der Lösung unserer Probleme nicht.“ Sofort brandeten Buh- und Pfui-Rufe. „Hau ab“, riefen einige. Nur mit Mühe beruhigte Geschäftsführer Stefan Haase die Lage.
Ja, es stimme, erklärte Haase danach der taz, dass wohl auch einige der Handwerker montags mitliefen. Aber umso wichtiger sei es, mit dem Korso ein Protestangebot zu schaffen, bei dem es nur um die Unternehmen gehe.
Von Vonarbs Auftritt bei den Handwerken verbreiteten Christian Klar und Peter Schmidt einen Videoauschnitt. Der Bürgermeister treibe „einen Spaltkeil zwischen die Menschen“, ätzte Schmidt. Andere reagierten noch deutlicher. Ein „Drecksspalter“ sei Vonarb, hieß es in Kommentaren zu dem Video. „Was für eine Lusche“ oder „einfach nur Schmutz der Typ“. Vonarb sagt dazu, Kritik sei für ihn als Oberbürgermeister selbstverständlich. „Wenn die Anfeindungen jedoch, wie bereits mehrfach geschehen, mein Privatleben treffen, wird eine nicht zu tolerierende rote Linie überschritten.“
Damit ist Julian Vonarb in diesen Zeiten nicht allein. Auch andererorts werden Politiker:innen von den Montagsprotestierenden als „Volksverräter“ beschimpft oder bedroht. In Rostock ertönte der Ausruf „Scholz an die Wand“, in Zwickau wurde Verfassungsschutzchef Haldenwang mit dem KZ-Arzt Josef Mengele verglichen.
Zahl der Straftaten steigt
Zahlen zu Straftaten auf den Thüringer Herbstprotesten liegen noch nicht vor. Aber Sachsen zählte allein für September und Oktober 277 Straftaten auf Protesten im Land. Auch Brandenburg zog zuletzt Zwischenbilanz: Dort stiegen von Jahresbeginn bis Mitte Oktober die politisch motivierten Delikte um 47 Prozent, auf 1.093 Fälle. Der Großteil davon wurde laut Landeskriminalamt auf den Corona- oder Herbstprotesten begangen.
Holger Münch, Chef des Bundeskriminalamts, nennt die Straftaten gegen Mandatsträger „besorgniserregend“. Diese hätten seit 2018 um 276 Prozent zugenommen. Es seien Angriffe „gegen das Rückgrat unserer Demokratie“, warnt Münch. „Hass und Hetze sind zu einer konkreten Gefahr für unsere Demokratie und unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt geworden.“
Die Töne der Rechtsextremen werden derweil immer schriller. So propagieren die „Freien Sachsen“ seit Wochen einen „Aufstand gegen das Regime des Unrechts“. Compact-Herausgeber Elsässer erklärte zuletzt auf Kundgebungen, es gehe „um das nackte Überleben“. Deutschland werde „vor die Hunde gehen, wenn wir diese Bande, die die Macht in ihren Krallen hält, nicht davonjagen“. Und auch Höcke holte vor wenigen Tagen auf einer Kundgebung in Erfurt aus: Man werde das herrschende System in Gänze „zu Fall bringen, ihren politischen Amoklauf stoppen“.
Das Hauptthema der rechtsextremen Anheizer wandelt sich gerade wieder. Mehr und mehr rückt ein Klassiker in den Vordergrund: der Hass auf Migranten – konkret gegen ukrainische Geflüchtete. So ätzte Höcke in Erfurt, dass Hunderttausende Ukrainer:innen inzwischen in Deutschland seien, obwohl in acht Zehntel ihres Landes angeblich kein Krieg herrsche, und dass diese bald das neue Bürgergeld bekämen – mehr Geld als der deutsche Durchschnittsrentner. „Das ist Diskriminierung von uns Deutschen im eigenen Land. Das ist eine Schande.“
Diese Töne sind auch am Montagabend in Gera zu hören. „Asylflut stoppen“ künden dort Banner, oder „Wir sind nicht das Sozialamt der ganzen Welt“. Am Mikrofon kritisiert Christian Klar, dass die USA ukrainische Soldaten in Deutschland ausbildeten. „Und das wollen wir nicht“, schreit er und erntet Applaus. Später beschwert er sich am Rande, dass ukrainische Geflüchtete hierzulande mehr Sozialhilfe bekämen als seine 75-jährige Mutter. Und Christian Klar wird noch deutlicher. Auch hierzulande stehe man vor einem Krieg, im Grunde sei dieser längst da, sagt er. Und er werde nicht zusehen, sondern für seine Kinder kämpfen.
Der Linken Jana Prochnow machen solche Aussagen Angst. „Wer das Sagbare immer weiter verschiebt, der handelt irgendwann auch so. Da ist eine Radikalisierung vorprogrammiert.“ Auch deshalb versucht Prochnows Linkspartei dagegen zu halten. Mit Gegenprotesten zumindest zu einigen der Montagsdemos, mit einer eigenen Krisendemo im September. Erst am Samstag war Linken-Ikone Gregor Gysi in der Stadt. Doch bisher waren die Rechten stets in der Überzahl.
Mehr AfD-Wähler, weniger Demonstranten
Zumindest für die AfD zahlt sich das Anheizen der Proteste aus. In Umfragen liegt die Partei bundesweit wieder bei 15 Prozent, in Thüringen gar bei 25 Prozent. Doch der Protest stößt eben auch an Grenzen. Nicht nur in Gera gehen die Teilnehmerzahlen zurück. In Erfurt folgten zuletzt nur rund 2.000 Teilnehmende statt der angemeldeten 10.000.
In wenigen Tagen, am kommenden Samstag, wollen es die Rechtsextremen nun noch einmal probieren, diesmal in Leipzig. Da soll der Antiamerikanismus ziehen. „Ami, go home“, lautet der Slogan. Die „Ami, go home“-Fahnen wehen am Montag auch in Gera, und Christian Klar ruft auf, sich in Buslisten für Leipzig einzutragen. „Ganz Europa schaut auf diese Demo.“ Das darf bezweifelt werden.
Aber zumindest in Gera wird der Protest weitergehen. Schon am Donnerstag lädt die Kreishandwerkerschaft zu ihrem dritten Autokorso. Und auch die Protestierenden um Christian Klar wollen kommende Woche wieder auf der Straße stehen. Am Montagabend endet ihre Demo mit einem kleinen Feuerwerk und dem Singen der Nationalhymne. Der Text wird an das städtische Theater projiziert. Das lässt es geschehen.
Nach den Großdemos wolle man künftig wieder auf Gera fokussieren, kündigt Christian Klar noch an. Es gebe genug vor der eigenen Tür zu kehren. „Vor einer bestimmten Tür.“ Höhnisches Gelächter. Und damit auch der Letzte versteht, um wen es geht, fordert Klar, dass Gera endlich einen Bürgermeister aus Thüringen brauche. Keinen Zugezogenen wie Julian Vonarb also.
Aktualisiert und ergänzt am 24.11.2022 um 10:20 Uhr. d. R.
Leser*innenkommentare
Rosmarin
"Erst am Samstag war Linken-Ikone Gregor Gysi in der Stadt. Doch bisher waren die Rechten stets in der Überzahl."
Warum lädt die Linkspartei nicht Sahra Wagenknecht ein?
Lars B.
Christian Klar? Das ist doch hoffentlich nur eine Namensgleichheit, oder?
tazzy
Das Hauptproblem in Ostdeutschland sind weniger die rechtsradikale Minderheit, sondern die Mehrheit, die sich zwar selbst als "anstândig und nicht rechts" ansehen, aber eben auch nichts gegen die Rechten tun und ihnen den öffentlichen Raum (und auch den öffentlichen Diskurs) komplett überlassen, ohne ihnen etwas ernsthaft entgegenzustellen.
Wenn überhaupt, gibt es immer nur wenig Gegenöffentlichkeit von Linken...aber keine nennenswerte Gegenwehr von den Bürgerlichen.
Wenn man regelmäßig tatenlos zuschaut, dass immer nur Rechte und radikale Wirrköpfe die Diskussion in Ostdeutschland anführen, braucht man sich nicht darüber beschweren, wenn dann auch die Mehrheit der Ostdeutschen als Sympathisanten der Rechten angesehen werden.
felix
Ich Lebe in einer Oberfränkischen Stadt nahe Thüringen, da wird auch schon lange jeden Montag ähnlich demonstriert, am Anfang dachte ich, das hört auch wieder mal auf, aber da dachte ich falsch - wenn ein Thema abgedroschen ist kommt ein neues, nach östlichem Muster und mit sehr negativer Ausstrahlung - ich denke oft, noch ein neuer Hitler, und alles könnte wieder von vorne los gehen !?
Deswegen glaube ich, dagegen wird nicht genug getan, auch von unserer Stadt, wie im Osten ! obwohl es gegen unsere Regierung und gegen unseren Staat ständig Drohungen von Rechter Gewalt gibt, und diese Menschen in allen oder beinahe allen Staats Organen vertreten sind, für mich unfassbar !
49732 (Profil gelöscht)
Gast
Schon mal in Gera gewesen? Keine Industrie, keine gut bezahlte Arbeit, keine Zukunft!
felix
@49732 (Profil gelöscht) Und warum ? das zu klären und nach Lösungen zu suchen ist Sache von kreativen Menschen aus dem Volk, aus der Stadtpolitik, Landespolitik, Bundespolitik - wer aufgibt hat verloren, im Westen seit dem Krieg, im Osten schon über dreißig Jahre - dann müsste sich auch das Rechte Problem verkleinern, viel Erfolg dabei.
R R
Sosehr mir "Vornab" als Gegensatz zum früheren CSU Politiker Wilhelm Vorndran gefallen würde...
Der Mann heißt Vonarb, und sollte überall im Text so geschrieben werden.
(Mein Kommentar darf nach Korrektur gelöscht werden.)
Dietmar Rauter
Was 'Linke' wohl nicht verstehen: In der DDR ist eine Epoche einer Bürgergesellschaft, die erst der Kapitalismus hervorgebracht hat, weil er aufgeklärtere und emanzipiertere Menschen brauchte und damit einen Grundstein für Demokratie und Wohlstand setzen konnte, übersprungen worden. So sind viele DDR-Bürger von einer -nicht von ihnen beeinflusste- in die nächste Stufe der Abhängigkeit geraten, schließlich wurden besonders im Osten viele halbseigdene Persönlichkeiten (mangels Masse!) in der schon etwas vernachlässigten Parteienparlamentsgesellschaft präsentiert und gleichzeitig ist die kapitalistische Entwicklung weiter gegangen: Es wurden nicht mehr so viele Menschen gebraucht, die nur noch Sozialfälle darstellten (die in der DDR besser behandelt wurden !). Die Frustration und teilweise Not der Menschen ist real, ihnen wurde keine neue Zukunft ermöglicht, sondern nur noch ein Dahinvegetieren: Da ist ein Zeigefinger mit Verweis auf die so bewährrten demokratischen Spielregeln (die ihnen nicht weiterhelfen) ziemlich arrogant und genau diese Haltung erleichtert es den Rechten on ihrer Hetze gegen eine demokratisch- kapitalitische Gesellschaft, die eben nicht mehr jedem einen Platz in der Bürgergesellschaft einräumen kann, wenn die menschliche Arbeitskraft im Produktionsprozess zu teuer geworden ist bzw. die Menschen inzwischen zu alt oder unvorbreitet sind für diese Wirtschaftsform, die ja auch in Bildung und Ausbildung immer weniger Menschen eine Perspektive geben kann.
Šarru-kīnu
@Dietmar Rauter Sozialfälle wurden in der DDR besser behandelt? Wo haben Sie denn das Märchen her? Für Arbeitslose oder sogar Obdachlose gab es einfach nur Knast statt Sozialleistungen. Haben Sie mal eine Einrichtung für Behinderte Menschen im Ostblock gesehen usw. usw..
Wir haben inzwischen im Osten auch fast schon Vollbeschäftigung. Gründe sehe ich ja eher bei der nach 45 im Osten weitergeführten Diktatur des deutschen Kleinbürgertums. Ihr hattet im Westen wenigstens eine Bourgeoisie die nach den Nazis als Meinungsführer wieder das Ruder übernommen hat. Bei uns hat einfach das spießig deutsche Kleinbürgertum weiter seine hässliche Fratze gezeigt. Es fehlt in vielen ostdeutschen Kommunen einfach eine bildungsbürgerliche Schicht. Die Abwanderung macht das Problem leider noch schlimmer. Der Kapitalismus ist dabei noch unser geringstes Problem.
Dietmar Rauter
@Šarru-kīnu Ich weiss, es gibt das Problem einer Alternativgesellschaft, die eben nicht kapitalistisch armutsgefährdend (weil Menschen nicht mehr gebraucht werden, wenn Energie und Automaten sie aus Profitgründen ersetzen) daher kommt. Schließlich hatte der Kapitalismus lange Zeit vielen Menschen, die im Produktionsprozess gebraucht wurden zu Wohlstand gebracht und ihnen dabei demokratische Bürgerrechte beschert. Wir müssen an den Errungenschaften wie Partizipation und Meinungsfreiheit anknüpfen, aber auch ein Recht auf Arbeit und Selbstverwirklichung durchsetzen, das die Profitwirtschaft -siehe der Osten- nicht garantieren kann und ein austrocknender Staat dazu nicht mehr in der Lage ist. Mag sein, dass ich die Lage der DDR etwas zu rosig gesehen habe, ich kenne das nur von 'drüben' und dem Hörensagen, habe als 68er auch der West-Propaganda auch nie richtig getraut
ke1ner
@Šarru-kīnu 》Gründe sehe ich ja eher bei der nach 45 im Osten weitergeführten Diktatur des deutschen Kleinbürgertums《
Das allerdings sehe ich ganz genauso! Und daran ist die DDR m.E. auch letztlich gescheitert.
Frank Stippel
Es ist nun mal das Wesen einer Demokratie, dass auch Menschen demonstrieren dürfen, deren Werte und politische Einstellung einem nicht passt.
Kaboom
@Frank Stippel Es ist nun mal AUCH das Wesen einer Demokratie, dass man zu diesen Demonstrationen eine Meinung haben darf. Und sogar eine, die den Demonstrierenden nicht passt.
Rudi Hamm
@Frank Stippel Auch wenn es manchmal richtig weh tut, aber sie haben recht.
Matt Gekachelt
@Frank Stippel Was für ein "Wert" berechtigt denn dazu, andere Menschen zu beleidigen, bedrohen und ggf auch gewalttätig zu werden? Wer sich dabei auf das Grundrecht der Freien Meinungsäußerung beruft, betreibt Rechtsmissbrauch. Man sollte hier auch mal nachbessern und den schwammigen Begriff " Meinung;" mal etwas präzisieren.
Devon Miles
@Frank Stippel es ist nun mal das Wesen einer Demokratie, fragen zu dürfen, ob aus solchen Demonstrationen nicht wieder Gewaltexzesse werden wie in Chemnitz vor 4 Jahren. Und man muss man sich fragen, was ist schiefgelaufen und was muss man tun, damit es nicht wieder dazu kommt.