Nato-Beitritt von Schweden: Stockholms Wahlhilfe für Erdoğan
Der schwedische Regierungschef reist nach Ankara. Dort will er mit einer Kehrtwende in der Kurdenpolitik die Blockade zum Nato-Beitritt lösen.
Das ist eine Kehrtwende. Die letzten beiden sozialdemokratisch geführten schwedischen Regierungen haben die YPG und die PYD politisch und finanziell unterstützt. Im letzten Jahr kündigten die Sozialdemokraten eine Aufstockung der Hilfe an.
Solche Unterstützung sei „nicht gut für die Beziehungen zwischen uns und der Türkei“, begründet Billström den neuen Schwenk: „Schwedens Mitgliedschaft in der Nato wiegt schwerer.“ Es sei von großer Bedeutung, „Fortschritte bei den Verhandlungen mit der Türkei zu machen“. Dabei stünden YPG und PYD im Wege: „Diese Organisationen haben zu enge Verbindungen zur PKK, die ja der EU als Terrororganisation gilt.“
Damit opfert Schwedens neue Regierung drei Wochen nach Amtsantritt YPG und PYD, die Verbündete des Westens im Kampf gegen die IS-Terrormiliz waren. Damit schwenkt Schweden nicht nur aus der gemeinsamen Linie der meisten westeuropäischen Länder aus, sondern nähert sich auch Erdoğans Gleichstellung von PKK und YPG an.
Kristersson: „Sehr viel Verständnis“ für Erdoğans Sorgen
Was steht als Nächstes an? Regierungschef Kristersson reagiert auf diese Frage bislang ausweichend. Natürlich halte sich seine Regierung an schwedisches Recht und internationale Konventionen, betont er. Zugleich halte er den Antiterrorkampf der Türkei für „legitim“, habe „großen Respekt für die Beschlüsse Ankaras“ und „sehr viel Verständnis“ für Erdoğans Sorgen. Selbstverständlich müsse sich Schweden auch an mit der Türkei getroffene Abkommen halten.
Die Türkei hat neben Ungarn, das offenbar eine türkische Entscheidung abwartet, als letzter Staat der Nato-Erweiterung noch nicht zugestimmt. Eine Mitgliedschaft Finnlands könne die Türkei mittlerweile separat akzeptieren, sagte Erdoğan kürzlich, nicht aber die Schwedens.
Stockholm habe nämlich bisher nicht die „notwendigen Schritte“ unternommen, sagt er am Freitag nach einem Treffen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Schweden sei eine „Brutstätte des Terrorismus“ und gefährde die Sicherheit der Türkei auch deshalb, weil es AktivistInnen der kurdischen PKK Asyl gewähre.
Zu Erdoğans zehn Forderungen an Schweden hatte neben der Einstellung jeglicher Unterstützung für die syrisch-kurdische YPG/PYD, die Stockholm nun zusagte, die Auslieferung von bis zu 73 „Terroristen“ gehört.
Im Juni hatten Schweden, Finnland und die Türkei beim Nato-Gipfel in Madrid ein „trilaterales Memorandum“ unterzeichnet. Darin sind die beiden Beitrittskandidaten der Türkei weit entgegengekommen. Sie verpflichteten sich, die Aktivitäten aller „terroristischen Organisationen und deren Ableger, ebenso wie der von Einzelpersonen, Gruppen und Netzwerken, die mit diesen verbunden sind“, zu verhindern.
Außenpolitik-Institut: „Stockholm stärkt Erdoğans Narrativ“
Damit haben sie aus türkischer Sicht nichts anderes versprochen als „eine Unterstützung der Inhaftierung von Oppositionsabgeordneten, gewählten Lokalpolitikern, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten“, kritisiert Thomas Hammerberg, früherer Menschenrechtskommissar des Europarats.
Stockholm habe sich „türkischen Interessen angepasst“, heißt es auch in der Analyse des schwedischen Außenpolitischen Instituts (UI). Erdoğan könne sich nun als der starke Führer präsentieren, der „laschen europäischen Staaten, die ihre Straßen nicht frei von Terroristen halten können“, auf die Sprünge helfe. Das stärke sein Narrativ von der Türkei als Großmacht und lenke von dessen ernsten wirtschaftlichen Problemen ab.
Die Analyse sieht im „Madridabkommen“ ein neues Element der schwedischen Politik. Es enthalte Zugeständnisse an einen ausländischen Staat, wie sie Stockholm in den letzten Jahrzehnten nie gemacht habe: „Bei der Abwägung zwischen realpolitischen Erfordernissen und rechtsstaatlichen Prinzipien balanciert man auf einem sehr schmalen Grat.“
Der wird womöglich noch schmaler, nachdem die Regierung verkündet hat, den Rechtsschutz im Ausländerrecht weiter aufzuweichen. Laut Regierungsprogramm, das die Handschrift der rechtsextremen Schwedendemokraten trägt, will sie Rechtsgrundlagen zum Entzug des Aufenthaltsrechts für Nichtstaatsangehörige schaffen, wenn diesen „fehlerhafter Lebenswandel“ oder „Anmerkungen zur Lebensart“ vorzuwerfen sind oder ihr Aufenthalt „grundlegende schwedische Werte bedroht“.
Kurden in Schweden fürchten jetzt Auslieferung
Zu den türkischen Forderungen „haben wir eine andere Position“ und nicht das „Gepäck“, das die Sozialdemokraten „mit der Kurdenfrage“ gehabt hätten, sagt Außenminister Billström. Deshalb finde man mit Erdoğan vermutlich „leichter“ eine Lösung.
Auffallend nannte der Minister in seinen Statements zur Türkei wiederholt diese „Demokratie“. Auch nach Mediennachfragen hielt er an dieser Charakterisierung fest. Es gebe dort ja „freie Wahlen“. Das beweise „entweder völlige Unkenntnis oder sei bewusste Unwahrheit“, kritisierte ihn der Staatswissenschaftler Staffan Lindberg, Leiter des Demokratieforschungsinstituts der Universität Göteborg.
Er sei „echt besorgt“, ausgeliefert zu werden, zitierte die Tageszeitung ETC den kurdischen Verfasser Hamza Yalzin, der vor fünf Jahren wegen eines von der Türkei über Interpol erwirkten Haftbefehls schon einmal in Auslieferungshaft saß: „Erdogan hat die Nachgiebigkeit der schwedischen Politiker gesehen.“ Er werde „deshalb weiter Druck machen, um Zugeständnisse zu bekommen“.
Die Zeit arbeitet eigentlich für Schweden
„Stück für Stück gibt man ihm nach“, schreibt der aus Kurdistan stammende Verfasser Kurdo Baksi in Dagens Nyheter. Erst habe Stockholm im Sommer das 2019 gegen die Türkei verhängte Waffenembargo aufgehoben und liefere wieder Militärmaterial, nun folge ein Staatsbesuch, mit dem Kristersson „einen Despoten ehrt, der vielleicht nur noch ein paar Monate an der Macht ist“. Schwedens Regierungschef sei für den international zunehmend isolierten Erdoğan „ein Geschenk des Himmels“. Kristersson lasse sich als Wahlhelfer einspannen.
Finnische PolitikerInnen reagierten verwundert auf Schwedens Kursänderung in Sachen YPG/PYD. Diese sei „sehr unglücklich“, erklärte die liberale Parlamentsabgeordnete Eva Biaudet, Schweden habe „sich erpressen lassen“: Finnland werde seine Haltung nicht ändern.
Auch die UI-Analyse rät davon ab, sich wegen des Nato-Beitritts unter Druck setzen zu lassen. Für Schweden arbeite die Zeit: „In der Türkei nähert sich der Wahlkampf, und dort will die Regierungspartei AKP den Wählern offenbar internationale Erfolge präsentieren können, bevor die innenpolitische Bedeutung des Themas nach der Wahl wieder schwinden dürfte.“
Kristersson aber scheint die Vollendung des Nato-Beitritts unbedingt zu seinem ersten außenpolitischen Erfolg machen zu wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen