Neue alte Diskussion über Atomkraft: Schwedens Angst vor dem Blackout

Die Netzgesellschaft warnt vor Engpässen bei der Stromversorgung. Die Rechtsopposition will auch wieder über eine Zukunft für Atomkraft reden.

Ein Schlüssel im Schaltpult des AKWS in Forsmark

Der Schlüssel steckt: Das jüngste schwedische AKW ist Forsmark und auch schon 42 Jahre am Netz Foto: Andre Maslennikov/Fotex

STOCKHOLM taz | „Dir kann der Strom abgeschaltet werden!“, alarmierte die schwedische Tageszeitung Afton­bladet am Dienstag ihre LeserInnen. Sie reagierte damit auf eine Warnung, die Niclas Damsgaard, Chefstratege der staatlichen Netzgesellschaft Svenska kraftnät am Vortag in einem Interview geäußert hatte. Man habe „eine ernste Situation auf dem europäischen Energiemarkt, und die schwappt auf Schweden über“. Um einen Zusammenbruch des Stromnetzes zu verhindern, könne es deshalb im Herbst oder Winter erstmals in der Geschichte des Landes notwendig werden, den Strom für einen Teil der Verbraucher oder für ganze Regionen zeitweise abzuschalten.

Svenska kraftnät verwaltet die überregionalen Stromdistributionsnetze des Landes und ist für die Sicherstellung der Elektrizitätsversorgung zuständig. Die Gesellschaft könne „bestimmte Bereiche einfach von der Versorgung abtrennen“, und zwar „ganz schnell und ohne Vorwarnung“ – so bereitete Damsgaard die SchwedInnen schon einmal vor. Das größte Risiko besteht nach seiner Einschätzung für den südlichsten Landesteil, zum Problem könnten dort in erster Linie die frühen Morgen- und späten Nachmittagsstunden werden, wenn der Stromverbrauch regelmäßig am höchsten ist.

Der Netzgesellschaftschef appellierte an die StromkundInnen, ihre Verbrauchsgewohnheiten entsprechend anzupassen, um die Gefahr einer Abschaltung zu verringern: Vormittags zwischen 7 und 9 Uhr sollte man beispielsweise ein E-Auto nicht mehr laden.

Die Warnung ist das Ergebnis aktueller Simulationen des Lastflusses, die Svenska kraftnät regelmäßig durchführt. Bei sechs Prozent dieser Simulationen zu Stromangebot und -bedarf wäre eine Lasttrennung nötig gewesen, erläuterte Schwedens Energie- und Digitalisierungsminister Khashayar Farmanbar. Eine so hohe Risikorate habe es seit der Energiekrise in den 1970er Jahren nicht gegeben. Verantwortlich für „unsere ernste Situation“ machte der Minister „Russlands Energiekrieg mit Europa und den Invasionskrieg in der Ukraine“. Wie real die Gefahr von Stromabschaltungen werde, hänge auch hauptsächlich von der weiteren Entwicklung dieser Konflikte ab.

Auch hausgemachte Probleme

Das ist aber allenfalls die halbe Wahrheit. Zwar treffen die verminderten russischen Gaslieferungen und der Stopp russischer Stromlieferungen nach Finnland und in die baltischen Staaten indirekt auch Schweden – aber beileibe nicht so massiv wie beispielsweise Deutschland. Jährlich werden in Schweden insgesamt rund 10 Terawattstunden Erdgas verbraucht, das sind nur 3 Prozent des Energiemixes. Aber dort, wo Gas regional sowohl in indus­triellen Prozessen als auch zur Wärmeproduktion dient, deckt es bis zu 20 Prozent der Energieversorgung. Etwa 30.000 Wohnungen sind auf Gasversorgung angewiesen. In Südwestschweden gibt es ein rund 600 Kilometer langes Gastransmissionsnetz. Es ist über Dänemark mit dem deutschen und europäischen Netz verbunden. Außerdem gibt es bei Göteborg und bei Stockholm jeweils ein Flüssiggas-Terminal.

Würden Gaslieferungen wegfallen und müssen durch erhöhten Stromeinsatz ersetzt werden, könnte es in Südschweden eng werden. Denn in Schweden insgesamt wird zwar genug Strom produziert – jährlich werden 10 bis 15 Prozent der Produktion exportiert –, aber bei den Fernleitungskapazitäten von Nord- nach Südschweden besteht ein Engpass.

Den bekommen VerbraucherInnen schon jetzt empfindlich zu spüren – beim Preis. Das Land ist in vier Stromtarifzonen eingeteilt, die das jeweilige regionale Angebot und die Nachfrage widerspiegeln. Für Nordschweden, also dort, wo nicht nur die großen Wasserkraftwerke stehen, die mehr als die Hälfte zur Stromproduktion beitragen, sondern auch die größten Windkraftparks, lagen die Preise auf dem Spotmarkt zuletzt zwischen umgerechnet 0,5 und 1 Eurocent pro Kilowattstunde. In der südlichsten Preiszone waren es 30- bis 40-mal so viel.

Späte Milliardeninvestitionen

Diese fehlenden Leitungskapazitäten sind seit Jahren ein Thema. Im Juni beschloss die sozialdemokratische Regierung ein „Kraftpaket“, mit dem vor allem die Produktion von Erneuerbaren gefördert und der Strom landesweit besser verteilt werden soll. Am Montag kündigte sie neue Milliardeninvestitionen in das Distributionsnetz an. Es wird aber Jahre dauern, bis solche Maßnahmen Wirkung zeigen.

In sechs Wochen findet die schwedische Parlamentswahl statt, und die seit 2020 auch im Schnitt um das 4- bis 5-fache gestiegenen Strompreise versprechen ein wichtiges Wahlkampf­thema zu werden. Alle Parteien versuchen sich mit eigenen Rezepten zu profilieren. Dabei hat vor allem die Rechtsopposition aus Konservativen, Christdemokraten und Schwedendemokraten, die gerne die nächste Regierung stellen würde, ein Thema aus der Versenkung geholt, das auch in Deutschland eine absurde Konjunktur erfährt: die Atomkraft. Ihr finanziell umfangreichstes Wahlversprechen ist eine „historische Investition“ in neue Atomenergie. 400 Milliarden Kronen, umgerechnet 40 Milliarden Euro, an „grünen Staatsgarantien“ will man dafür bereitstellen – mit dem Argument, dies sei „die beste Klimapolitik“. Jetzt fehle eigentlich nur noch ein Programm zum Revival von Telefax-Geräten und VHS-Videorecordern, lästerte Jonas Sjöstedt, Ex-Vorsitzender der schwedischen Linkspartei.

Keine Player für Atomkraft

Der kleine Haken bei diesen Plänen ist nicht nur, dass sich bislang noch kein wirtschaftlicher Akteur gefunden hat, der bereit wäre, das Risiko einzugehen, in neue Atomkraft zu investieren. Sondern auch, dass dieses Programm für die Lösung der aktuellen Energiekrise völlig uninteressant wäre. Wie lange es dauern kann, überhaupt Reaktoren zu errichten, weiß man aus Finnland. Deshalb wollen die Rechtsliberalen die nach jeweils 44 Jahren Laufzeit 2019 und 2020 pensionierten Reaktoren 1 und 2 des AKW Ringhals wieder in Betrieb nehmen.

Es gibt ExpertInnen, die das technisch prinzipiell nicht für unmöglich halten. Allerdings bedürfe das wohl einer Vorbereitungszeit von mindestens zwei Jahren und womöglich umfassender sicherheitstechnischer Aufrüstung. Beim Ringhals-Betreiber Vattenfall hält man von solchen Planspielen gar nichts. Es gelte der ursprüngliche Zeitplan, wonach in diesem Jahr aus den Ringhalsreaktoren die Brennelemente entfernt und ab 2023 die Abrissarbeiten beginnen werden, heißt es dort.

Der Vorstoß der Opposition zeigte allerdings auch bei der Regierung Wirkung. Natürlich könne die Atomkraft bei der klimapolitischen Umstellung eine Rolle spielen, betont Energieminister Farmanbar nun. Man werde die Strahlenschutzbehörde beauftragen, technische Vorschriften für den eventuellen Einsatz von sogenannten SMR-Kleinreaktoren zu entwickeln und prüfen, ob die bestehenden Reaktoren mehr Strom liefern könnten.

Jonas Sjöstedt, Linkspartei

„Jetzt fehlt nur noch ein Revival von Telefax und VHS“

Eigentlich schien der Atomkraftstreit in Schweden mit einem 2016 geschlossenem überparteilichem „Energieübereinkommen“ endgültig erledigt zu sein. Da hatten sich die Parteien darauf geeinigt, die vier ältesten der damaligen zehn Reaktoren stillzulegen – das passierte auch – und die verbliebenen sechs so lange am Netz zu halten, wie es technisch und ökonomisch vertretbar wäre. Doch gebongt schien der Ausstieg aus der Atomkraft auch schon mal vor 42 Jahren, als sich eine Mehrheit der SchwedInnen bei einer Volksabstimmung für ein Atomkraftende bis 2010 ausgesprochen hatte. Das Thema scheint nicht totzukriegen zu sein, solange nicht auch die letzte Reaktorruine abgerissen ist.

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