Coronapolitik bei Omikron: Angst vorm Lockerlassen

„Leben schützen“ sollten wir immer in zwei Richtungen denken: Tote und Langzeitkranke verhindern. Aber auch möglichst viel Leben für alle zulassen.

Eine Schülerin mit Mundnasenschutz macht in der Schule einen Schnelltest

Die Rufe nach Lockerungen werden immer stärker Foto: Jörg Halisch/imago

Natürlich, wir haben in Deutschland keine Erfahrungen mit solchen Pandemien. Das entschuldigt viel. Nun sind wir an einem der absurdesten Punkte dieser Zeit angekommen: Es gibt Länder wie Dänemark, die einfach die pandemische Lage für beendet erklären. Ich wusste gar nicht, dass das geht. Alles, was zu unserem täglichen Brot geworden ist (Inzidenzen checken, Maßnahmen diskutieren), einfach beenden – obgleich Inzidenzen steigen.

Das wird seinen Preis haben, doch dass es überhaupt möglich ist, wird für viele ein Schock sein, weil viele von uns inzwischen in einer Art Schockstarre leben, als glaubte man nicht mehr an den Tag, an dem man wieder lockerlassen kann.

Diese Angst vor dem Lockerlassen, vor postpandemischer Normalität, zeigte sich diese Woche auch auf Twitter: Ein Journalist teilte ein Interview mit Christian Drosten, in dem dieser meinte, man könne in naher Zukunft Infektionen wie bei der Grippe nur durch Stichproben erfassen (eine Strategie übrigens, die Spanien bereits als den offiziellen Weg der „Grippalisierung von Corona“ bekanntgegeben hat).

Drosten sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): „Ich denke, wir sind schon sehr nahe an diesem Punkt und wir sollten uns sehr ernsthaft in diese Diskussion begeben.“ Er setzt dafür die ideale Immunisierung mit drei Dosen voraus, damit man keine schweren Verläufe in Kauf nehmen muss. Auch das zitierte der Journalist anständigerweise als ­Thread unter seinem Tweet. Trotzdem versammelten sich besorgte Stimmen, die fragten, wer durch solche Strategien alles vergessen würde.

Auf Dauerwarnungen eingestellt

Die Sorge um Kinder wird verständlicherweise umgehend genannt, und es ist in diesen aufgeladenen Zeiten leider schwierig, in so einem Moment beruhigende Daten zu zitieren, um die Ängste zu lindern, ohne den Vorwurf zu ernten, man verharmlose die Gefahr.

Doch es geht um Daten und Fakten in dieser Pandemie und es muss möglich sein, eine Stellungnahme wie die der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene zu zitieren, nach der „die Krankheitslast bei Kindern vergleichbar sei mit anderen Erregern wie Influenza oder der Atemwegserkrankung RSV“. Damit verharmlost man noch lange nicht die Gefahr, die das Virus für vulnerable Menschen bedeutet.

Die Gabe, Dinge rational und faktenbasiert ins Verhältnis zu setzen, ist trotz der diskursiven Dominanz der Naturwissenschaften in den letzten zwei Jahren abhandengekommen. Diverse Impfstoffe und Mutanten später ist eben nicht mehr der Schock-März 2020, in dem alles begann. Dabei fühlen sich jene, die sich auf Dauerwarnungen eingestellt hatten, fast verraten, wenn ehemals warnende Stimmen plötzlich beschwichtigen.

So waren viele empört, als der US-Top-Virologe Antonio Fauci in einem Interview anlässlich der erhöhten Hospitalisierungen von Kindern aufgrund von Omikron antwortete: Man müsse unterscheiden zwischen Kindern, die wegen Covid eingewiesen werden, und solchen, die sich einen Arm brechen und nebenbei positiv seien, aber ohne Symptome. Der Berliner Senat etwa arbeitet bei solchen Daten eher mit Schätzungen als mit präziser Erfassung.

Verneigung vor Bremen

Solche präzisen Differenzierungen wurden insgesamt zu wenig betrieben. Der Expertenrat der Bundesregierung bemängelte zu Recht fehlende Daten – und das nach zwei Jahren! Wie soll man sich in die Debatte begeben, wenn Daten fehlen? Wie soll man loslassen lernen, wenn die Maßnahmen immer wieder so gestrickt wurden, dass mal zu prophylaktisch verboten, mal zu unvorsichtig gelockert wurde, obwohl es auch andere Möglichkeiten gab?

Zahlreiche Studien belegen inzwischen die Wirksamkeit von FFP2-Masken. Trotzdem wurden – oft monatelang – Restriktionen über Bereiche des öffentlichen Lebens verhängt, die man durch das Tragen von FFP2 hätte im normalen Modus weiterlaufen lassen können. Müssten alle Maßnahmen nicht ein Ziel haben: so viel Leben wie möglich zu schützen?

Dabei meine ich „Leben“ in beiderlei Sinnen: Schutz des biologischen Lebens vor Tod und Krankheit, aber auch Schutz des geistigen, seelischen, öffentlichen, wirtschaftlichen Lebens vor Verkümmerung.

Die Hauptstrategie der Impfkampagne war, die Ungeimpften auszuschließen. Wir strafen die Menschen zur Impfung hin! Was für eine Kommunikation! Das Menschenbild dahinter widert mich offen gesagt an. Ich verneige mich vor einer Stadt wie Bremen, die gekonnt ihre Impfkampagne zum Erfolg brachte.

Pragmatismus? Fehlanzeige!

Ein Schlüssel dafür war das Einbinden der Zivilgesellschaft. Auf Vertrauenspersonen setzen, die etwa mit ärmeren Menschen reden, die weniger Zugang zu Informationen haben, vielleicht auch weniger Vertrauen in den Staat und das Gesundheitswesen. Die meisten Regierenden setzten jedoch auf Ausschlüsse. Verbieten, was geht, dann kommen die schon zur Spritze. Wie viele sich in dieser Rolle der Bevormundeten wütend ins Netz begaben, wo Verschwörungsrattenfänger vom rechten Rand sie abfischen, werden wir sehen.

Über zu viele Themen, die wir in dieser Krise besprechen müssten, lässt sich keine sachliche Diskussion mehr führen, weil das Verurteilen bald schon wichtiger wurde als das Verstehen. Dann eben die Impfpflicht! Pragmatismus? Fehlanzeige. Die meisten Länder, die sich durch Impfquoten aus dem Schlimmsten herausgeimpft haben, betonen die Wichtigkeit der hohen Impfquoten für die älteren Bevölkerungsgruppen. Wir streiten über eine allgemeine Impfpflicht, die weltweit kaum zum Maßnahmenkatalog gehört.

Ich weiß wirklich nicht, wie all die Absurditäten dieses diskursiven Scheiterns in eine Kolumne zu packen wären. Jeder hat seine Geschichte, die ihn in diesen zwei Jahren frustriert hat. Jeder Blickwinkel ist legitim, er ist menschlich. Das zu akzeptieren wäre der erste Schritt in Richtung Normalität. Ich habe inzwischen nur einen Wunsch: „Leben schützen“ sollten wir immer in zwei Richtungen denken. Tote und Langzeitkranke verhindern, aber auch dafür sorgen, möglichst viel Leben für alle zuzulassen.

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ist Schriftstellerin, Dramatikerin und Kolumnistin. Sie lebt in Heidelberg und ist Mitglied des PEN-Zentrums. Ihr letztes Buch, „Sheroes. Neue Hel­d*in­nen braucht das Land“, erschien 2019.

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