Ethische Fragen bei Corona-Behandlung: Auswahl anhand „Erfolgsaussicht“
Grünes Licht vom Ethikrat: Würden Beatmungsgeräte knapp, dürften behandelnde Ärzte die Erfolgsaussichten von Patienten vergleichen.
Befürchtet wird, dass es trotz der geplanten Verdopplung der Kapazitäten für Intensivmedizin am Ende an Betten mit Beatmungsgeräten mangelt. Ärzte müssten dann entscheiden, wer die lebensrettende Beatmung erhält und wer nur noch schmerzmildernd behandelt wird. Mediziner nennen diesen Vorgang „Triage“, es ist das französische Wort für Auswahl.
Vor der Bundespressekonferenz erläuterte der Gießener Rechtsprofessor Steffen Augsberg die Position des Ethikrats zur Triage. Der Ethikrat ist ein staatliches Beratungsgremium, das 2001 eingerichtet wurde und aus Naturwissenschaftlern, Theologen und Juristen besteht. „Jedes Leben ist gleich viel wert“, betonte Augsberg die Grundposition des Ethikrats. Dies folge aus der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes. Der Staat dürfe deshalb keine Vorgaben machen, wer im Knappheitsfall gerettet wird. Jede Klassifizierung, zum Beispiel anhand Alter, Beruf oder prognostizierter Lebensdauer, müsse „seitens des Staates“ unterbleiben.
Etwas anderes sei es jedoch, wenn ärztliche Fachgesellschaften Empfehlungen zur Auswahl in dieser Situation abgeben. Deren Überlegungen seien nicht nur zulässig, sondern sogar „geboten“, so Augsberg, um in den Kliniken eine Gleichbehandlung nach einheitlichen Kriterien sicherzustellen.
„Erhöhte Gebrechlichkeit“
Bisher liegt vor allem ein Vorschlag auf dem Tisch, den die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gemeinsam mit anderen Fachgesellschaften vorgelegt hat. Auch die DIVI will niemand generell von der Beatmung ausschließen, es soll also zum Beispiel keine Altersgrenzen geben. Die Fachgesellschaft propagiert dann aber die Auswahl anhand der „Erfolgsaussicht“ der Behandlung. Dabei sei etwa zu berücksichtigen, wie schwer die Personen jeweils erkrankt sind, welche Begleiterkrankungen sie haben und nicht zuletzt, wie ihr allgemeiner Gesundheitszustand („Gebrechlichkeit“) ist. Der Ethikrat hat gegen die Anwendung dieser Kriterien keine Bedenken.
Es gibt aber auch einen Dissens zwischen Ethikrat und DIVI. So wollen die Intensivmediziner ihre Kriterien auch dann anlegen, wenn schon alle Beatmungsgeräte belegt sind und nun ein neuer Patient hinzukommt. Auch hier solle es auf die Erfolgsaussichten ankommen. Wenn es die Auswahl ergibt, müsste also ein bereits künstlich beatmeter Patient auf sein Gerät verzichten und dann mit hoher Wahrscheinlichkeit sterben. Für DIVI wäre dieser Auswahlprozess genauso rechtmäßig, wie wenn zwei neu ankommende Patienten um ein freies Beatmungsgerät konkurrieren.
Der Deutsche Ethikrat macht zwischen beiden Konstellationen dagegen einen Unterschied. Wenn die Beatmung eines Patienten beendet werde, müsse dies als rechtswidrig eingestuft werden. Strafrechtlich würde der Arzt dabei einen „Totschlag“ begehen. Der Ethikrat will Ärzte dann zwar nicht ins Gefängnis stecken. „Das Rechtssystem ist flexibel genug, um die Tragik zu berücksichtigen“, sagte Augsberg. Die Tat sollte dann als „schuldlos“ behandelt werden. Praktischer Unterschied: Die Angehörigen dürften hier mit Gewalt verhindern, dass der Arzt das Gerät abschaltet.
Es gibt aber auch generelle Kritik an den DIVI-Kriterien. „Die Prüfung der Erfolgsaussicht diskriminiert Behinderte“, sagt die Grünen-Sozialpolitikerin Katrin Langensiepen, einzige weibliche Europaabgeordnete mit sichtbarer Behinderung. Die negative Berücksichtigung von „erhöhter Gebrechlichkeit“ verringere die Chancen auf eine lebensrettende Behandlung. Langensiepen fordert DIVI auf, ihre Empfehlung zurückzuziehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Fortschrittsinfluencer über Zuversicht
„Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“