Auf einer Intensivstation in Bergamo: Nummer 6 stirbt
In der Klinik San Pietro spielen sich täglich neue Dramen ab. Menschen ringen um Luft, ihre Angehörigen dürfen nicht zu ihnen, nicht einmal am Ende.
Neun durchsichtige Säcke liegen in einer Ecke der in aller Eile hergerichteten Intensivstation, sie sind kaum zu unterscheiden von dem noch verpackten Equipment. Erst bei näherem Hingucken erkennt man ein paar Nike-Laufschuhe, ein Twix, eine Armbanduhr. Sie gehören den Patienten, die hier liegen. Ein weiterer Sack wurde eben gerade dem Bestattungsunternehmen übergeben. Da Trauerfeiern derzeit ausgesetzt sind, ist das alles, was die Familien von ihren Angehörigen zu sehen bekommen.
In Bergamo stirbt man alleine. Und alleine wird man beerdigt, während ein Priester den Sarg segnet, auf dem ein Handy liegt, damit die Familie zuhören kann.
Bis zum 10. März war die Poliklinik San Pietro in Bergamo auf etwas ganz anderes spezialisiert: auf künstliche Befruchtung. Wie in vielen Krankenhäusern gab es hier keine Abteilung für Infektionskrankheiten. Jetzt sind alle 254 Betten mit Covid-19-Kranken belegt. Und aus den vier Betten der Intensivmedizin sind zehn geworden. Der Bereich, der früher für die besonders kritischen Fälle reserviert war, ist nun den Gesünderen vorbehalten: denen mit den besten Überlebenschancen.
Von den zehn Patienten ist nur einer wach. Elend sieht er aus, unrasiert, mit müdem Blick, leicht zur Seite gedreht, die Arme über Kreuz. Die anderen haben die Augen geöffnet, zeigen aber keine Regung. Mit seinen unzähligen Bildschirmen und Lichtern gleicht der Raum einem Raumschiff; doch so ausgefeilt die Technologie ist, hier kommt es gerade nicht auf die Wissenschaft, sondern auf die Natur an. Es gibt keine mehr oder weniger wirksamen Medikamente, sondern nur mehr oder weniger starke Immunsysteme. Den Glücklichen, die auf der Intensivstation sein dürfen, wird nichts anderes als Sauerstoff verabreicht – und ab einem bestimmten Moment Morphium.
Jahrgang 1980, arbeitet seit 2007 als Reporterin eigentlich in Ramallah. In der Region um Bergamo hält sie sich seit dem 7. März auf, kurz bevor sie zur roten Zone erklärt wurde. Die Intensivstation der Poliklinik San Pietro besuchte sie am 25. März, in einem weißen Schutzanzug.
Der Chefarzt ist selbst Corona-erkrankt
Der Arzt Bruno Balicco war eigentlich schon in Pension. Nun ersetzt der 69-Jährige den Chefarzt, der Corona-erkrankt zu Hause liegt. „Die vielen Toten sind auch eine Folge der Anweisung, im Krankheitsfall so lange wie möglich zu Hause zu bleiben und den Notruf nur dann zu wählen, wenn man kaum noch Luft kriegt“, sagt Balicco. Eine Anordnung, die unumgänglich scheint, weil die Krankenhäuser überbelegt sind. Und weil es schon so viele Särge gibt, dass das Militär ihren Abtransport übernehmen musste.
„So treffen die Kranken hier völlig am Ende ihrer Kräfte ein“, sagt Balicco, „ihre Lunge ist dann bereits stark geschädigt.“ Wie bei Patient Nummer 6, der trotz Beatmungsgerät verzweifelt nach Luft ringt. Der Mann hatte seit drei Wochen Fieber. 67 Jahre alt, keine Vorerkrankung. Links von ihm zeigt ein Monitor seine Herzfrequenz an, Blutdruck, Temperatur und die Sauerstoffsättigung im Blut. Jetzt, wo Verwandte nicht zu Besuch kommen dürfen, ist das alles, was man von einem Leben weiß: Zahlen, Diagramme, Prozentangaben. Im Regal, neben zwei Medizinfläschchen, liegt ein Blatt mit vielen Tabellen. Kein Name, nichts. Dafür war keine Zeit.
Plötzlich bäumt sich der Körper von Patient 6 auf. Ein rotes Licht geht an. Eine Krankenpflegerin kommt herbeigeeilt, hantiert so lange herum, bis das Licht ausgeht. Nach ein paar Minuten blinkt ein anderes Lämpchen auf.
Die Zustände in den Krankenhäusern sind mindestens so furchterregend wie das Virus selbst: Oft sind sie die ersten Brutstätten. 51 Ärzte sind bereits gestorben, Tausende sind infiziert, und auch im San Pietro sind es etwa 20 Prozent des Personals. Viele werden wieder gesund werden, wie auch viele der Patienten hier. Aber auch in dieser Hinsicht ist diese Epidemie eine komplizierte Angelegenheit. Alle Kranken haben das gleiche Virus, sagt Bruno Balicco, und trotzdem ist jeder Fall verschieden. „Der Verlauf variiert. Und so schlagen auch die Medikamente verschieden an“, sagt er, „Es ist niederschmetternd: Entlässt man einen Patienten, kommt der nächste. Und im Grunde fängt man wieder bei null an.“
Ein kleines Provinzkrankenhaus an vorderster Front
Balicco wirkt sehr erschöpft, wie alle hier, Ärzteschaft und Pflegepersonal. Seit ihnen Anfang Februar die ersten atypischen Lungenentzündungen untergekommen sind, ging alles furchtbar schnell. An einem Tag war es ein Kranker, und am nächsten waren es schon zehn. Eigentlich ein kleines Provinzkrankenhaus, findet sich das San Pietro plötzlich an vorderster Front wieder. Die Tabletten zerkleinern sie mit dem Fleischwolf von zu Hause, weil der Pillenzerteiler sich wer weiß wo befindet, irgendwo zwischen den noch ungeöffneten Kisten.
Fragt man Silvia Vanalli, Leiterin des Pflegeteams und 46 Jahre alt, ob manche vielleicht vom Dienst abgesprungen seien, versteht sie die Frage nicht. Ob man einen Augenarzt denn verpflichten könnte, mit Infizierten zu arbeiten? Es wäre doch sein gutes Recht, nicht zu kommen? „Nicht zu kommen?“, fragt sie. „Wohin nicht zu kommen?“
Niemandem sei das in den Kopf gekommen. „Egal welche Spezialisierung ein Arzt hat“, sagt Vanalli. „Er ist in erster Linie Arzt. Und tut alles, was er tun kann.“ Auch wenn alles, was man geben kann, im Moment nur ein bisschen Sauerstoff ist. Patient Nummer 6 ringt immer noch nach Luft, bewegt sich unruhig hin und her. Sein ganzer Körper zittert krampfartig. Und mit jedem Anfall kippt sein Kopf weiter ab, die Augen öffnen sich weit, sind verdreht, weiß.
Eine Krankenschwester saugt ihm den Speichel ab, während auf dem Monitor die blaue Zahl die Sauerstoffsättigung in seinem Blut anzeigt, die bei etwa 98 liegen müsste und jetzt auf 93 gesunken ist, dann auf 90 heruntergeht, wieder auf 91 ansteigt. Und erneut abfällt. Trotz Atemmaske und allem scheint er den Sauerstoff nicht aufzunehmen.
Eine andere Krankenschwester nähert sich. „Ich rufe den Arzt“, sagt sie. „Ruf die Familie an“, sagt die erste.
Todesnachricht am Telefon
Auch in normalen Zeiten kehren 25 Prozent der Patienten von der Intensivstation nicht wieder nach Hause zurück. Deswegen ist hier die Beziehung zu den Angehörigen besonders wichtig: Es gilt auch denen zu helfen, die am Leben bleiben. Hatten sie vor Corona in der Regel die Möglichkeit zu zwei Besuchen am Tag, reduziert sich jetzt oft alles auf zwei Telefonate in der gesamten Zeit: ein Anruf, wenn es so weit ist, dass Morphium eingesetzt wird, und ein weiterer, der die Familie informiert, dass sie das Bestattungsunternehmen rufen soll.
Eben haben sie die Tochter der 70-jährigen Frau erreicht, die gestern hier gestorben ist. Sie haben versucht, den Ehemann zu finden, doch der liegt mittlerweile selbst im Krankenhaus. „Ich komme sofort“, sagt die Tochter. Silvia Vanalli verstummt für einen Moment. „Nein“, sagt sie, „Nein, das geht nicht. Nicht einmal jetzt.“ Ihre Stimme fällt zusammen. „Wir haben alles versucht. Alles. Bis zum Schluss“, sagt sie. „Mit ihrer Hand in meiner. Als … als wäre es Ihre gewesen, ich schwöre es. Als wäre es Ihre Hand …“
Fälle: Am 2. April zählte Italien offiziell 83.049 Infizierte. Dazu kommen 13.915 Tote und 18.278 bereits Gesundete. Die Lombardei bleibt die röteste Zone des Landes: Hier wurden am 2. April 7.960 Tote und 46.065 Infizierte gezählt.
Versorgung: In Italien kommen im Schnitt 8,6 Intensivbetten auf 100.000 Einwohner:innen, während es in Deutschland 29,2 Betten sind. Das italienische Gesundheitssystem gibt pro Einwohner:in jährlich 1.844 Euro aus, in Deutschland sind es 3.605 Euro.
Mit jedem Wort scheint sie ein bisschen mehr in ihrem weißen Schutzanzug vom Typ Tschernobyl zu verschwinden, auf dem mit Filzstift ihr Name geschrieben steht, damit man sie nicht verwechseln kann. Denn der Virus macht alle gleich hier, alle gleich alleine, mit einem Meter Abstand vom einen zum anderen. „Und jetzt“, fragt die Tochter. „Was mache ich jetzt?“
„Sie sollten sich um das Bestattungsunternehmen kümmern“, sagt Vanalli und bleibt schluchzend stehen, das Telefon hat sie noch in der Hand.
Die Betriebe arbeiten weiter
Ärzt:innen und Krankenpfleger:innen sind die neuen Helden Italiens. Täglich werden sie auf den Titelseiten der Zeitungen gefeiert. Aber in Wirklichkeit ist ihre Welt weit weg. Denn draußen ist weiterhin 30 Prozent der Industrie der Region Lombardei in Betrieb, arbeiten insgesamt noch rund 70 Prozent der dort Beschäftigten. Für viele hat die Wirtschaft Vorrang. Theoretisch ist während des Lockdowns nur die Produktion von lebenswichtigen Gütern erlaubt und solchen, die die Produktionskette der lebenswichtigen Güter aufrechterhalten. Tatsächlich aber arbeiten selbst die Marinewerften im Hafen von Taranto weiter, die der Wartung von Flugzeugträgern dienen.
Die Nationale Gesundheitsbehörde hatte bereits am 2. März dringend angeraten, die Stadt und die Provinz Bergamo zur roten Zone zu erklären. Aber damals engagierte sich Bürgermeister Giorgio Gori noch in der Kampagne „Bergamo macht nicht dicht“.
Bergamo machte nicht dicht, heute sind hier täglich etwa 50 Tote zu beklagen. Auch Armani fährt weiter die volle Produktion, dort stellen sie jetzt medizinische Kleidung her, Wegwerfkittel.
Während der Rest des Landes Backrezepte und Tipps gegen die Langeweile austauscht, herrschen in der Lombardei kriegsähnliche Zustände. Und sie bringen die Schuldgefühle mit sich, mit denen alle Veteranen leben müssen: den Krieg mit sich herumzutragen und auch diejenigen da hineinzuziehen, die man liebt. „Zu Hause rede ich mit meinem Lebensgefährten nur durch die Tür“, sagte eine der Krankenschwestern auf der Intensivstation des San Pietro. „Aber wenn es geht, rede ich lieber gar nicht. Hier im Krankenhaus riskiere ich alles für mir unbekannte Menschen und zu Hause lasse ich diejenigen allein, die mich nie hängen gelassen haben.“
Die roten Lichter blinken weiter
Sie hält inne. Statt weiterzusprechen, bereitet sie eine Spritze vor und wendet sich Patient Nummer 6 zu, der noch immer nach Luft ringt, sich sichtlich aufregt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
„Ruhig“, sagt sie, aber die roten Lichter blinken weiter, und die blaue Zahl fällt weiter ab. Mit jedem neuen Krampf scheint sich der Mann von seinen Schläuchen befreien zu wollen – als wären sie nicht ausreichend. In einem Augenwinkel scheinen Tränen zu stehen. Oder ist es nur ein Reflex?
Wer ist er? Wo kommt er her? Was hat er sonst im Leben gemacht? Welcher Sack im Eingangsbereich gehört ihm? Der mit den Nikes? Wen hinterlässt er? Wie viel versteht er von dem, was um ihn herum vor sich geht? Wie viel hört er? Wie viel sehen diese Augen, die ihr Gegenüber anzuschauen scheinen?
„Ganz ruhig“, sagt die Krankenpflegerin. „Ganz ruhig.“ Ihre Stimme geht immer mehr in Flüstern über, während sie ihm die Tränen trocknet und ihn sanft streichelt. Erst als er sich nicht mehr rührt, bringt sie ihn hinaus.
Aus dem Italienischen von Sabine Seifert
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