Überhitzung der Erde: Gaudi statt Klimakatastrophe

Bis auf ein paar verrückte Eichhörnchen betrifft die Hitzewelle kaum jemanden. Dabei belegt der Sommer, wovor Forscher lange warnten.

Überfüllter Badestrand an der Ostsee

Rimini? Bibione? Von wegen! Der Timmendorfer Strand an der Ostsee Foto: dpa

BERLIN taz | Der Sommer war groß, heiß und trocken. Bernburg an der Saale meldete 39,5 Grad, Frankfurt am Main hatte schon Ende Juli 24 Tage mit mehr als 30 Grad gezählt. Für die Monate April bis Juli ermittelte der Deutsche Wetterdienst „eine Temperaturanomalie“ von plus 3,6 Grad mehr als im Vergleichszeitraum 1961 bis 1990. Es war die „höchste Anomalie seit 1881“. Wie eine Glucke hatte sich die Hitze über weite Teile Europas gesetzt – und sie jeden Tag aufs Neue bebrütet.

Deutschland lag mehrere Wochen lang im Wärmekoma, mit nassgeschwitzten Bettlaken und vertrockneten Feldern vor der Tür. Viele Grünflächen wirkten wie afrikanisches Steppenland. Fehlte nur noch die Antilopenherde. Selbst die notorisch gut gelaunten Wetterfeen verzichteten bei den Vorhersagen auf die Floskel vom „anhaltend freundlichen Sommerwetter“. Und kein Wort mehr vom „Regenrisiko“.

In Schweden, Nordrhein-Westfalen und Brandenburg brannten die Wälder. Finnland und Norwegen erlebten den heißesten Sommer ihrer Geschichte. Selbst nördlich des Polarkreises kletterte das Thermometer auf 34 Grad. Temperatur- und Trockenheitsrekorde wurden auch aus vielen Teilen Großbritanniens, der Schweiz oder Frankreichs gemeldet.

Außerhalb Europas registrierte Quriyat, eine an der Nordostküste Omans gelegene Stadt, eine „24-stündige Minimumtemperatur“ von 42,6 Grad, so die Hitzebilanz des Frankfurter Wetterdiensts. 24 Stunden lang war es nie „kälter“ als 42 Grad. Eine ähnliche Rund-um-die-Uhr-Hitze ist zuvor noch nie auf diesem Planeten gemessen worden. Außergewöhnlich heiß war es auch im Norden Sibiriens, in Südkorea mit neuem Allzeithoch, in Kanada, Algerien oder Kalifornien.

Am Freitag endet der Sommer. Jedenfalls meteorologisch. Die Bilanz: Er war zu schön. Zu trocken. Und zu warm, um cool zu bleiben. Aber trotz der Hitze und Dürre macht die Regierung: nichts. Im taz-Klima-Dossier erklären wir, wie die Natur reagiert und was wir für den Klimaschutz tun können. Alle Beiträge zum Thema: taz.de/Schwerpunkt-Klimawandel

Saharasommer, Jahrhundertdürre, Katastrophenängste, Milliardenverluste in der Landwirtschaft – immerhin prima Steilvorlagen für die Klimapolitik in Deutschland und anderswo. Oder etwa nicht?

Nur leise Zwischenrufe

Leider nein. Bis auf einige schüchterne Zwischenrufe der Grünen regte sich in der politischen Diskussion der vergangenen Monate nicht mal ein laues Lüftchen. Kontrovers wurde es höchstens bei der Frage, ob die Nothilfeforderungen wehklagender Bauern angesichts der womöglich schlechteste Ernte des Jahrhunderts gerechtfertigt seien. In den Landwirtschaftsministerien hatten bis Mitte August acht Bundesländer die Schäden auf happige 3,3 Milliarden Euro addiert.

Dennoch beherrschten vor allem die Debatten über Migration, über sexuelle Übergriffe gegenüber Frauen sowie die Handelskriege von US-Präsident Trump den politischen Sommer. Die Hitze sorgte vor allem „im Vermischten“ für Schlagzeilen. Klima katastrophal – Eis- und Sonnencreme-Absatz blendend. Die Ulmer Firma E-Cooline verkaufte über 100.000 Hightech-Kühlwesten, es wurden deutlich mehr Dürreversicherungen abgeschlossen. Und die deutsche Weinernte, normal im Herbst fällig, begann Anfang August.

Während an ausgetrockneten Flüssen tote Fische wie Müll eingesammelt wurden und die Atommeiler ihre Leistung drosselten, warnten Mediziner vor unbekannten tropischen Zecken. Und in den Parks riefen irritierte Bürger nach der Polizei. Sie waren von aggressiven Eichhörnchen attackiert worden. Die dehydrierten Tiere waren verrückt vor Durst.

Die Deutschen brachten pflichtbewusst die Gießkanne in Stellung, wässerten Bäume und verstepptes Straßenbegleitgrün. Der Aachener Psychoanalytiker Micha Hilgers sieht die Menschen trotz gelegentlicher Kreislaufschwäche aber noch immer überwiegend im Fun-Modus: Baden, Biergarten und endlich wieder ein richtiger Sommer, diese Haltung sei weit verbreitet.

Spende für Sauerstoffinjektion

Im Raum Aachen konnten die Bürger Geld spenden, damit ausgezehrte Gewässer von der Feuerwehr eine Sauerstoffinjektion bekamen. Ein, zwei Euro und schon schoss unter allgemeinem Jubel eine Fontäne hoch. Gaudi statt Klimakatastrophe. Das Klimathema, analysiert Hilgers, „baut Spannungen auf, die Menschen fühlen sich dann unbehaglich, deshalb mag man nicht lange darüber nachdenken“. Viele seien davon überzeugt, dass die heftigsten Folgen der Erdüberhitzung erst in vielleicht 50 Jahren auftreten, „das geht sie dann sowieso nichts mehr an“.

Doch der Klimawandel ist da, schon jetzt. Der neueste planetare Check ist 270 Seiten dick; er kommt von der Amerikanischen Meteorologen-Gesellschaft AMS und heißt „State of the climate in 2017“. Vor wenigen Tagen veröffentlicht, belegt er mit einer Reihe brisanter Daten die zunehmend fragile Verfassung des Erdsystems. Die neuen Klimafakten sind hart, nicht nur Katastrophenroutine.

– Die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre hat danach mit 405 ppm (parts per million) den höchsten Stand seit 800.000 Jahren erreicht. Die Zunahme um 2,2 ppm gegenüber dem Vorjahr signalisiert den weiter ungebremsten Anstieg. Vor Beginn der Industrialisierung wurden 290 ppm gemessen.

– Der Meeresspiegel liegt jetzt zudem 7,7 Zentimeter höher als vor 25 Jahren. Damals, 1993, hatten die Satellitenmessungen begonnen. Pro Dekade steigt das Meer um 3,1 Zentimeter. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts um 20 Zentimeter.

– Die letzten vier Jahre waren mit Abstand die wärmsten seit Beginn der regulären Temperaturmessungen am Ende des 19. Jahrhunderts.

– Die Zahl der weltweiten Hitzetage hat sich laut AMS stark erhöht. In den 1950er und 1960er Jahren schwankten sie zwischen 35 und 40 Tagen im Jahr. Seit 2010 werden jedes Jahr mehr als 60 Hitzetage registriert.

– An den Polen lassen die hohen Temperaturen das Eis immer schneller schmelzen. Die antarktischen Eismassen verzeichneten 2017 vier Monate lang einen neuen Negativrekord. Am Rande des Nordpolarmeers, in der Tschuktschen-See, wurde im August 2017 eine Wassertemperatur von elf Grad gemessen. Der Wert könnte dieses Jahr noch getoppt werden.

– In vielen Ländern überschreiten die Temperaturen jedes Normalmaß. Mexiko hat 2017 das vierte Jahr in Folge seine Temperaturrekorde gebrochen. Pakistan wurde am 28. Mai in Turbat von 53,5 Grad Hitze heimgesucht, eine Temperatur, die jede menschliche Aktivität zum Erliegen bringt.

Dramatischer Anstieg bei den Fluggastzahlen

Während die Sonne glüht und die Meteorologen staunen, kommen die Verkehrs-, Agrar- und Energiewende nur wenig voran – oder verzeichnen sogar Rückschritte. Weltweit boomen Solar- und Windkraft, doch gleichzeitig werden in China wieder neue Kohlekraftwerke gebaut, um die stärker wachsende Energienachfrage zu befriedigen. Im Verkehrssektor hat das Elektroauto in China, den USA und in Norwegen zwar stark zugelegt, doch weltweit dominieren mit einem Anteil von 98 Prozent weiter fossile Antriebe. Dramatisch sind die Zahlen beim Flugverkehr. Ausgerechnet das fürs Klima gefährlichste Verkehrsmittel legt kräftig zu. Allein in China wächst die Zahl der Fluggäste derzeit jährlich um sechs Prozent.

Zu den tristen Zahlen passt die Einschätzung der UN-Klimachefin Patricia Espinosa. Sie moniert, dass die bisher gemeldeten Zielvorgaben vieler Staaten zur Reduzierung der Klimagase längst nicht reichen, um das 2015 in Paris von 195 Ländern vereinbarte 2-Grad-Ziel noch zu schaffen. Selbst die Deutschen verpassen ihr Ziel, bis 2020 den Ausstoß der Treibhausgase um 40 Prozent zu senken.

Und ja, es gibt sie doch, die gute Nachricht: Die fehlenden acht Prozentpunkte wären leicht zu erreichen, wie aktuelle Hochrechnungen zeigen. Würden Braunkohlekraftwerke in ähnlichem Umfang abgeschaltet wie während der Jamaika-Verhandlungen von Schwarz-Grün-Gelb bereits vereinbart, wäre Deutschland ruck, zuck am Ziel – und neuer Klima-Musterknabe.

Kimawandel wird erlebbar

Auch der Analytiker Hilgers hat noch eine positive Nachricht parat. Der Hitzesommer, sagt er, habe den Klimawandel zumindest imaginierbar gemacht: „Man erlebt ihn und hat eine Vorstellung, was noch auf uns zukommt.“ Angstreaktionen hat er bei seinen Gesprächen indes nirgends festgestellt.

Das deckt sich mit dem Befund des Techniksoziologen Ortwin Renn. Der Wissenschaftler hat ein „Risikoparadox“ entdeckt und geht der Frage nach, warum wir uns immer „vor dem Falschen fürchten“. Seine Antwort: Systemische Risiken wie die Erdüberhitzung würden permanent unterschätzt, weil sie „schleichender Natur“ und extrem komplex seien. Der Mensch nehme plötzlich auftretende Katastrophen viel intensiver wahr. Dagegen seien „unsere intuitiv-kausalen Denkformen nicht auf die Analyse komplexer Ursache-Wirkungs-Ketten ausgerichtet“.

Immerhin hat es das Klima diesen Sommer in die Talkshows geschafft. Die Bauern als Hitzeopfer und -täter bei Anne Will. Den wichtigsten Satz sagte Klimaprofessor Hans Joachim Schellnhuber: „Wie will die Landwirtschaft eigentlich durch dieses Jahrhundert kommen?“ Eine Ecke weiter gedacht: Wie wollen wir alle eigentlich durch dieses Jahrhundert kommen?

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