Zahl der Arbeitnehmer in Deutschland: Mehr Arbeit als Leute
Die Babyboomer gehen in den Ruhestand, bald beginnt wohl die Zahl der Beschäftigten zu sinken. Was bedeutet das für Wachstum und Wohlstand?
Das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit (IAB) veröffentlichte unlängst eine weitreichende Untersuchung. Demnach wird die Einwohnerschaft Deutschlands bis 2060 um etwa 12 Millionen auf 72 Millionen Leute sinken und die Zahl der Erwerbspersonen auf gut 40 Millionen zurückgehen – ein Minus von etwa 4 Millionen Arbeitenden im Vergleich zu heute. Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass sich die Babyboomer bald in den Ruhestand verabschieden. Wer 1960 geboren wurde, ist nun 63 Jahre alt und wird die bezahlte Tätigkeit demnächst deutlich reduzieren oder ganz einstellen. Das gilt für Millionen Angehörige der geburtenstarken Jahrgänge.
Hinzu kommen laut IAB weitere Entwicklungen: So könnte die Zuwanderung unter dem Strich abnehmen. Das liegt zum Beispiel an der steigenden Lebensqualität in Ländern wie Rumänien. Damit vermindert sich der Druck, das Land zu verlassen. Die Geburtenrate in Deutschland könnte der Projektion zufolge zwar steigen, die Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren zunehmen, doch diese Effekte würden den Verlust an Arbeitskräften nicht ausgleichen. Außerdem mag sich die Einstellung zur Arbeit ändern. Viele Bürgerinnen und Bürger wollen nicht mehr 40 oder 50 Stunden pro Woche schuften, sondern eher 30.
Solche Prozesse führen dazu, „dass die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt sowie in Relation zur Gesamtbevölkerung schrumpft“, sagt Dominik Groll vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. Die Konsequenz formuliert der Ökonom so: „Das Bruttoinlandsprodukt und auch die Wirtschaftsleistung pro Kopf werden daher in den kommenden Jahren langsamer wachsen.“
Nicht alle Ökonomen sehen einen Abschwung
Das ist keine Einzelmeinung, andere Institute für Wirtschaftsforschung teilen diese Einschätzung. Während das potenziell mögliche BIP-Wachstum im vergangenen Jahrzehnt zwischen 1 und 1,5 Prozent jährlich lag, könnte es bis 2027 auf 0,5 Prozent sinken, heißt es in der jüngsten Gemeinschaftsdiagnose des IfW und seiner Partner. Als wesentliche Ursache nennen die Forscherinnen und Forscher die Abnahme des Arbeitsvolumens, worin sich auch die niedrigere Zahl der Beschäftigten niederschlägt. Kombiniert man diese Aussage mit der IAB-Prognose bis 2060, dürfte Deutschland eine längere Phase geringeren Wachstums bevorstehen. Wohlgemerkt würde die hiesige Wirtschaft selbst dann noch Zuwachs erzielen, aber nicht mehr so viel wie bisher.
Doch es gibt auch Ökonomen, die die künftige Entwicklung optimistischer beschreiben. Einer von ihnen ist Peter Bofinger, Wirtschaftsprofessor der Universität Würzburg und ehemaliger Wirtschaftsweiser, der die Bundesregierung beriet. Er stellt die Thesen der abnehmenden Bevölkerungs- und Arbeitskräftezahl in Frage: „Entgegen vielem Prognosen der vergangenen 20 Jahre sind die Zahlen der Einwohner und Beschäftigten in Deutschland permanent gestiegen. Daran sollte man denken, wenn für die Zukunft Schrumpfungen vorausgesagt werden.“
Außerdem hängt die zukünftige Entwicklung stark vom technischen Fortschritt ab – der eigentlichen Quelle zunehmenden Wohlstands. Wenn bessere Maschinen und neue Produktionsverfahren die menschliche Arbeit effektiver machen, können auch weniger Menschen in kürzerer Zeit mehr Produkte herstellen.
„Ein entscheidender Punkt ist die Produktivität“, sagt Bofinger deshalb. „Ich bin optimistisch, dass die künstliche Intelligenz erhebliche Leistungssteigerungen ermöglicht.“ IfW-Forscher Groll sieht das ähnlich. Seine skeptische These vom abnehmenden BIP schränkt er ein: „Verhindern könnte dies nur noch eine spürbare Beschleunigung des technischen Fortschritts.“
Verteilungskonflikte könnten zunehmen
Augenblicklich lahmt der Produktivitätszuwachs allerdings. Die Gemeinschaftsdiagnose beziffert ihn mit deutlich unter 1 Prozent pro Jahr – zu wenig, um den Arbeitskräfteschwund auszugleichen. Da müsste deutlich mehr passieren. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) nähren diese Hoffnung, wenn sie auf die hohen privaten und staatlichen Investitionen verweisen, die augenblicklich getätigt werden und in den kommenden Jahrzehnten nötig sind. Das könnte funktionieren: Die Digitalisierung kann die Produktivität der Arbeit und grüner Strom die Produktivität der Energie erhöhen.
Was aber, wenn das nicht im gewünschten Maße klappt? „Wächst die Wirtschaft langsamer, dürften die Verteilungskonflikte innerhalb der Gesellschaft zunehmen“, sagt Ökonom Groll. Der Zusammenhang ist dieser: Liegt der BIP-Zuwachs nur bei 0,5 Prozent pro Jahr, kommen weniger Steuern und Sozialabgaben herein als bei 1 Prozent Plus. Die Gewinne der Firmen und Lohnerhöhungen fallen ebenfalls bescheidender aus. Viele Interessengruppen müssen mit ihren Wünschen etwas kürzertreten. Das macht öffentliche Debatten und Kompromisse schwieriger, als wenn Überfluss herrscht.
Selbst das muss aber keine Katastrophe sein. Grundsätzlich ist die deutsche Gesellschaft so reich, dass sie Investitionen und Konsum teilweise auch aus der Substanz finanzieren kann. Nach Angaben der Bundesbank beträgt das Nettovermögen der Privathaushalte etwa 13 Billionen Euro – 13.000 Milliarden Euro. Eine moderat höhere Besteuerung dieses Schatzes ist möglich, wenngleich umstritten.
Andere, ebenfalls kontroverse Wege: höhere Verschuldung oder Akzeptieren der Wachstumsschwäche. Mit Letzterem käme die deutsche Gesellschaft einem Stadium nahe, das manche Leute ohnehin für unausweichlich halten: Abschied vom Dogma des Wirtschaftswachstums. Zumindest aus ökologischer Sicht hätte diese Variante einige Vorteile.
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