Wolfgang Schäuble über Zustand der Union: „Demokratie allein hilft uns nichts“
Wolfgang Schäuble (CDU) warnt vor dem Niedergang der Volksparteien und autoritären Tendenzen. Ein Gespräch über Parteien und Populismus.
taz: Herr Schäuble, die Union liegt nach Umfragen gleichauf mit den Grünen. Ist das die Endphase der letzten deutschen Volkspartei?
Wolfgang Schäuble: Keine Sorge. Aber richtig ist, dass sich die klassischen Volksparteien in allen westlichen Demokratien unter wahnsinnig großem Veränderungsdruck befinden. Auch wenn die Union in Zahlen besser dasteht als die Sozialdemokraten, haben auch wir diese Herausforderung bislang nicht richtig gut gemeistert. Wir müssen deshalb nicht zwangsläufig Neues erfinden, sondern mit diesen erfahrenen Tankern bessere Antworten auf die disruptiven Veränderungen dieser Welt entwickeln. Das ist die Aufgabe.
Ist es schlimm, wenn die Volksparteien untergehen?
Es wäre ein großer Verlust, ja. Volksparteien versuchen, alle Schichten und Gruppen der Gesellschaft anzusprechen und aufgrund ihrer Werte Lösungen vorzuschlagen, die für alle grundsätzlich akzeptabel sind. Ohne solche Parteien kann ich mir das repräsentative System nicht stabil vorstellen. Wo kommt eine Demokratie denn hin, wenn sie nur noch Stimmungen widerspiegelt? Gerade in einer Zeit, in der die Veränderungen so groß und so schnell sind und Stimmungen so volatil, brauchen wir Strukturen, die eine gewisse Stabilität geben.
Die Individualisierung nimmt zu, Kollektive wie Kirche, Arbeiterklasse, Gewerkschaften verlieren an Bedeutung – sind da Milieuparteien wie die Grünen nicht einfach die Zukunft?
Das mag im Einzelfall zutreffen. Die Entwicklung der Piratenpartei hat aber auch gezeigt, dass nicht alles Neue funktioniert. Oder schauen wir nach Frankreich: Präsident Macron hat keine Partei im klassischen Sinn hinter sich. „La République en Marche“ ist eine Bewegung. Der Unterbau fehlt. Die Kommunalwahlen sind für Macron nicht gut ausgegangen, für die Regionalwahlen im Juni sieht es auch nicht viel besser aus. Was bei der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr passiert, kann keiner voraussagen.
Manche glauben, dass die Zukunft der Konservativen im Populismus liegt. Ist das Modell Kurz in Österreich, also „Liste Sebastian Kurz“ statt ÖVP, die Zukunft der CDU?
Ob das, was Sebastian Kurz in Österreich bislang erfolgreich macht, nachhaltig ist, bleibt abzuwarten. Ich habe vor ein paar Jahren mal zu Jens Spahn gesagt: Probieren Sie doch, aus der CDU die Liste Jens Spahn zu machen.
78, CDU, ist Präsident des deutschen Bundestages. Er war Chef der Unionsfraktion und Parteivorsitzender der CDU, in den Regierungen von Helmut Kohl und Angela Merkel zudem unter anderem Innen- und Finanzminister. 1990 handelte Schäuble maßgeblich den Einigungsvertrag mit aus. Im Jahr 2000 räumte er ein, 1994 eine Bar-Spende von 100.000 D-Mark für die CDU entgegengenommen zu haben. Seit 1972 ist er Mitglied des Bundestags.
Wirklich?
Das war natürlich nicht ernst gemeint.
Wäre die Entscheidung für Söder als Kanzlerkandidaten ein Schritt in Richtung Kurz gewesen?
Mein Argument in der Frage Söder oder Laschet war doch zunächst ein anderes und ganz einfaches: Die CSU und Markus Söder nehmen keinen Schaden, wenn Armin Laschet Kanzlerkandidat wird. Umgekehrt wäre das, so kurz nach der Wahl des Parteivorsitzenden, anders gewesen. Mit einer beschädigten CDU lässt sich aber kein Wahlkampf führen. Deshalb ist bei der Entscheidung zwischen zwei sehr starken Kandidaten Armin Laschet für die Unionsparteien die richtige Lösung. Ich habe ja gelesen, wir seien im Reichstag zusammen gewesen…
Sie haben sich dort am späten Sonntagabend – bevor sich der CDU-Vorstand dann vor drei Wochen in einer Abstimmung für Laschet ausgesprochen und Söder seine Ambition zurückgezogen hat – zu einem letzten Gespräch getroffen. Mit den Parteichefs und den Generalsekretären, mit Volker Bouffier und Alexander Dobrindt.
Wenn es so war, dann erinnere ich mich, dass wir nicht zerstritten auseinander gegangen sind. Ich habe gleich zu Beginn gesagt, ich bin ein alter Mann, ich bin nicht Angela Merkel und kann nicht die ganze Nacht durchhalten. Markus Söder hat sich am Ende für die CSU bedankt und gesagt, es war ein nützliches Gespräch, das müssten sie jetzt sacken lassen. Wir wussten alle nicht, was Markus Söder am Montag in seiner Pressekonferenz sagen würde. Atmosphärisch hat es jedenfalls nicht geschadet.
Warum ist Armin Laschet der richtige Kanzlerkandidat für die Union?
Armin Laschet kann standhaft Kurs halten. Das hat er in der Flüchtlingspolitik, bei der Integrationspolitik und auch bei der Europapolitik gezeigt – oft gegen die vermeintliche Mehrheitsmeinung in der Union. Laschet hat in der Pandemie die Grenzen zu Belgien und den Niederlanden nicht zugemacht. Er hat in vielen Dingen Mut bewiesen. Und er macht das in einer Art, die nicht provoziert und auseinander treibt. Das ist wichtig in dieser Zeit.
Genau dieses Verständnis von Volkspartei hat Söder despektierlich Kohl 2.0 genannt. Ist die Volkspartei der Kohl-Ära die Zukunft der Union?
Armin Laschet hat in seinem Kabinett Typen wie Karl-Josef Laumann, den Innenminister Herbert Reul und Serap Güler, die Integrationsstaatssekretärin. Das zeigt personell und inhaltlich die Bandbreite einer echten Volkspartei. Diese Persönlichkeiten muss Laschet zusammenhalten und dabei trotzdem führen. Man muss starke Menschen um sich herum akzeptieren können. Diese Balance zwischen Zusammenhalt und Führen schafft Armin Laschet. Und ich bin mir sicher, dass sich diese hohen Qualitäten im Wahlkampf vermitteln lassen und durchsetzen.
Laschet und Söder verkörpern verschiedene Politikmodelle. Hier Volkspartei, dort Populismus. Söder hat die Basis gegen die Gremien in Stellung gebracht und letztere als Hinterzimmerrunde diffamiert.
Dafür hat er sich entschuldigt. In gewählten Gremien bilden sich die ganze Bandbreite innerparteilicher Strömungen und die Vielfalt an Meinungen ab. Und die müssen sichtbar sein. Aber natürlich braucht auch die Demokratie Führung, insofern war das die Sehnsucht nach einem der sagt, wo es lang geht.
Weniger Partei, weniger Struktur, dafür oben eine starke, charismatische Figur. Für dieses Modell stehen Söder, Kurz, Macron. Dieses Modell finden Sie…
… nicht unproblematisch.
Für die Demokratie?
Ja. Auch wenn ich keinem der von Ihnen Genannten unlautere Motive unterstelle, im Gegenteil.
Worin liegt die Gefahr?
In der Bewegung, in der ungelösten Frage, was eigentlich danach kommt. Wenn es nicht mehr funktioniert, werden irgendwann die Rufe nach dem starken Mann laut – oder, wie in Frankreich, vielleicht nach der starken Frau. Oder es endet auf den Stufen des Kapitols.
Sie setzen dagegen auf Verfahren und Gremien?
Es ist eine alte Staats- und Politiklehre seit den griechischen Denkern: Demokratie alleine hilft uns nichts, es braucht die Beschränkung der Mehrheit. Auch Erdogan ist mit demokratischen Mehrheiten gewählt worden. Eine freiheitliche Ordnung kann nur mit Institutionen stabil sein. Das müssen nicht die alten sein, und diese müssen sich verändern können. Ich suche ja auch nach neuen Wegen, etwa mit der Idee von Bürgerräten, aber nicht um das Prinzip der Repräsentation zu ersetzen, sondern um die Verfahren der parlamentarischen Demokratie zu stärken.
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff hatte sich für Söder ausgesprochen und gesagt, Vertrauen und Charaktereigenschaften würden bei einem Kandidaten keine Rolle spielen, allein die Umfragen seien entscheidend…
Ich schätze Reiner Haseloff sehr, aber diesen Satz teile ich nicht.
Warum?
Weil man doch nicht im Ernst sagen kann, auf den Charakter kommt es nicht an. Und wer wollte im Übrigen Herrn Söder Charakter absprechen?
Wenn es, wie in Sachsen-Anhalt, für die CDU eng wird, ist man anfälliger für populistische Versuchung. Das zeigt auch die Nominierung von Hans-Georg Maaßen zum Direktkandidaten in Thüringen.
Reiner Haseloff will zuerst mal eine Wahl gewinnen und das muss er, wenn er gestalten will. Herr Maaßen ist wiederum Mitglied der CDU und von den zuständigen Gremien nominiert worden. Auch das ist eben Volkspartei und, wie Armin Laschet richtig gesagt hat, etwas ganz anderes, als wenn in Thüringen mit der AfD ein Ministerpräsident gewählt wird.
Herr Maaßen weicht die Grenze zur AfD auf.
Auch für ihn gilt der Beschluss der CDU: Es gibt keine Zusammenarbeit mit der AfD. Er begründet seine Kandidatur doch gerade damit, dass er die AfD effizienter bekämpfen könne als andere. Und dabei kann ich ihm nur jeden Erfolg wünschen.
In Baden-Württemberg hat sich ein Rollenwechsel zwischen CDU und Grünen vollzogen…
Was am Ende die Folge einer basisdemokratischen Mitgliederentscheidung aus dem Jahr 2004 ist, bei der es um die Nachfolge von Erwin Teufel ging. Die Spaltung der CDU in Baden-Württemberg von damals wirkt immer noch nach.
Die Grünen haben in Baden-Württemberg die Hegemonie in der bürgerlichen Mitte erobert, die CDU hat sie verloren. Geschieht das jetzt auch auf Bundesebene?
Die Grünen probieren es. Ich habe Respekt vor Frau Baerbock, sie ist eine eindrucksvolle Persönlichkeit, und auch vor Herrn Habeck, aber beide sind nicht Winfried Kretschmann. Ich sehe innere Widersprüche in der Anhängerschaft der Grünen und die werden sich verstärken. Ich sage es immer gerne mit Lessings Nathan: Wie viel leichter andächtig schwärmen statt gut zu handeln. Schwärmen ist aber keine Politik. Wenn ich sehe, wie wenig konkret Frau Baerbock in vielem bleibt, dann glaube ich, dass sie etwas ahnt von dieser Last, die im Handeln liegt. Parteien müssen diese Last, diese Verantwortung tragen. Bewegungen setzen sich darüber leicht hinweg.
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