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Lüge und Wahrheit in der PolitikHalbwahr ist nicht fake

Gern wird Politikern vorgeworfen, zu lügen. Doch meist stimmt das nicht. Und will man wirklich, dass sie unter allen Umständen immer die Wahrheit sagen?

Ein bestimmter Politikertypus hat die freche Lüge zum Mittel der Politik gemacht Foto: Lisa Leutner/ap

K eineswegs erwarte ich, dass Politiker und Politikerinnen immer die Wahrheit sagen. Damit meine ich nicht, dass ich hohe Amtspersonen für moralisch verkommen oder grundsätzlich für unehrlich halte. Ich meine nur, dass sie nicht immer die Wahrheit sagen können und dass das schon okay ist so. Denn vollkommene Ehrlichkeit kann negative Folgen haben. Wenn eine Bank oder ein Land finanziell konkursgefährdet sind, würde ein offenes, schonungslos realistisches Wort dazu führen, dass der Konkurs, der bis dahin nur eine Möglichkeit war, mit ziemlicher Sicherheit eintritt. Die „Wahrheit“ selbst hätte böse Effekte. Es ist ganz verständlich, dass man nicht in jeder Funktion alles sagen kann.

Wenn Politiker und Politikerinnen etwa im Hintergrund in zähen Gesprächen Koalitionskonflikte zu entschärfen versuchen, dann werden sie gut daran tun, über diese Hintergrundgespräche möglichst zu schweigen oder, wenn sie auf diese angesprochen werden, irgendwie ausweichend herumzuschwurbeln. Es ist dann vielleicht nicht okay, völlig wahrheitswidrig zu lügen, aber es kann sehr wohl in Ordnung sein, nicht die ganze Wahrheit zu sagen.

Gewiss balanciere ich mit dieser Aussage auf sehr dünnem Eis. Berüchtigt ist die seinerzeitige Aussage des damaligen Innenministers Thomas de Maizière, der – es ging um Terrorgefahr – meinte, ein Teil der „Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“. Sicherlich war diese Aussage noch einmal speziell blöde, da gerade diese Antwort die Bevölkerung besonders verunsicherte. Aber abgesehen davon: Wer entscheidet, mit welchen Antworten wir als Bürger und Bürgerinnen noch umgehen können, welche man aber von uns fernhalten müsse?

Zugleich ist natürlich auch wahr, dass „Verunsicherung“, wenn sie etwa zu Massenpanik führt, im Extremfall sogar gefährlicher sein kann als die Gefährdung selbst, über die man uns im Unklaren lässt. Wir sehen aber schon, dass man gewisse Unwahrheiten durchaus legitimieren kann und dass sie sich von der dreisten, frechen Lüge unterscheiden.

Sebastian Kurz' PR-Maschine

Ein Staatsmann oder eine Staatsfrau dürfen die Wahrheit verschweigen, aber sie dürfen nicht dreist lügen. Weil aber der Alltagsverstand da nicht immer einen Unterschied macht, meinen viele Menschen, dass „die Politiker“ sowieso allesamt Lügner seien, was den wirklich dreisten Lügnern das Leben erleichtert. Motto: Machen doch alle so.

Nein, es machen nicht alle so. Ein bestimmter Politikertypus hat die freche Lüge zum Mittel der Politik gemacht. Donald Trump war hier eine Liga für sich. Aber er wird fleißig kopiert.

Nehmen wir nur die PR-Maschine des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz. Die trommelte in den letzten Tagen: „Seit Wochen hat sich Sebastian Kurz für eine faire Verteilung des Impfstoffes in der EU eingesetzt. Nun bekommt Österreich noch im 2. Quartal zusätzlich 1 Million Dosen Impfstoff von Pfizer/Biontech.“ An diesen zwei Sätzen stimmt nichts. Erstens erhält Österreich nichts „zusätzlich“, sondern nur früher. Großartig! Nur ist der Beitrag von Sebastian Kurz dazu null. Biontech kann einfach 50 Mil­lio­nen Dosen schneller liefern, und Österreich erhält davon 1 Million.

Zweites Exempel: Nachdem der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober, zermürbt von 15 Monaten in einem Horrorjob, erschöpft und klapprig zurückgetreten ist, hatte der Kanzler doch glatt die Stirn, zu säuseln, „vielleicht ist dieser Rücktritt ja eine Chance für eine andere politische Kultur“, beispielsweise eine mit weniger Opposition gegen Regierende. Nicht nur verband Kurz diese Aussage direkt mit den Korruptionsskandalen, in denen seine Partei gerade unterzugehen droht, er ignorierte auch schamlos den Umstand, dass es nicht zuletzt die vielen schäbigen Fouls der Kanzlerpartei selbst waren, die den grünen Gesundheitsminister fertigmachten.

taz am wochenende

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Das Bemerkenswerte am neuen politischen Stil der dreisten Lüge ist, dass es sich dabei ja um Lügen handelt, die das durchschnittlich informierte Publikum als Lügen leicht erkennt. Das macht den Propagandatrommlern aber nichts, da sie denken, ein ausreichend großer Teil des Elektorats würde dennoch niemals erfahren, dass es Lügen sind. Das ist neu und verstörend: Denn es stört die Lügenverbreiter nicht einmal mehr, wenn sie ertappt werden – für sie ist nur mehr relevant, ob ein ausreichend großer Teil der Menschen die Lügen glaubt.

Wer herumkeppelt, dass doch „alle Politiker“ Lügner seien, wer nicht bereit ist, den Unterschied zwischen unklaren Antworten und der Unwahrheit zu erkennen, der betreibt das Geschäft gerade der übelsten Figuren und ist, ohne es zu wollen, mitverantwortlich für den Aufstieg der dreisten Lüge zum Instrument der politischen Kommunikation.

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Robert Misik
Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.
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15 Kommentare

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  • Wenn ich aktuell an Söders treuherziges Statement zur Kanzlerkandidatur denke, ist seine Kehrtwende tagsdarauf schon extrem - hmmh - bemerkenswert.

    Die Herumschwurbelerei von Blume und Kiesewetter wie auch wiederum von weiteren CDU/CSU-Vertretern bei Markus Lanz am nächsten und übernächsten Abend fand ich nicht nur unehrlich sondern kaum erträglich mit der Masche, dass zwischen beide Parteien kein Blatt passe. Das war einfach gegenseitige Deckung zweier maroder Parteien, die ausser gekonnter Strategien, sich über Wasser zu halten, nichts liefern.

  • Die Schwierigkeit besteht darin zu erkennen, was eine politische (Politiker-) Lüge ist. Sie setzt Wissen über den jeweiligen Sachverhalt voraus und wird, wenn überhaupt, erst viel später als solche bekannt. 'Niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen', 'Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort', Massenvernichtungswaffen im Irak,...



    Welche Gründe, Motive, Zwecke oder welches Kalkül hinter politischen Lügen stecken, ist für die Öffentlichkeit meist nur schwer zu erkennen.Vieles wird auch gerne geglaubt, wenn es den eigenen Einschätzungen/ Überzeugungen/(Vor-)Urteilen/Projektionen... (worauf auch immer sie beruhen) nahe kommt. Unangenehme Wahrheiten sind in der Gesellschaft auch nicht beliebt. Für Politiker, die den Machtverlust fürchten müssen, ist das ein grundsätzliches Problem. Deshalb lieben Politiker und Medien den Konjunktiv und das Fragezeichen so sehr.



    Was zu einem anderen Problem führt: Die Medienkompetenz und die Fähigkeit politische "Lügen" zu erkennen, wird damit nicht geschärft.

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    ""Ich meine nur, dass sie nicht immer die Wahrheit sagen können und dass das schon okay ist so.""

    ==

    Na dann - willkommen in der Bananenrepublik.

    Zurück ins Amt mit Gutenberg (Urheberrechtsverletzung)



    Lothar Spät (Traumschiffaffäre) Möllemann (Spendenaffäre) Björn Engholm (falsche Angaben im Untersuchungsausschuss) Günther Krause (Putzfrauenaffäre) & Max Streibl (Amigoaffäre) -- um nur einige prominente Beispiele zu nennen.

    Was politische Lüge anrichtet kann lässt sich exemplarisch bei den Rechtsradikalpopulisten und an den Brexiteers beschreiben - die auf dem Weg sind, die staatliche Verfassheit und staatliche Organisation aus den Angeln zu heben.

    Artikel 4 - Wahrheit - Ergänzung der europäischen Grundrechte:

    ""Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.""

    Was schwebt dem Autor als Alternative vor? Zurück zur Keule?

    • @06438 (Profil gelöscht):

      Back to the roots.

      netzpolitik.org/20...r-europa-brauchen/



      “… Sechs neue Grundrechte

      Die Grundrechte, die von Schirach für eine bessere Zukunft vorschlägt und für die die Stiftung Jeder Mensch e. V. nun wirbt, lauten:

      Artikel 1 – Umwelt

      Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.

      Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung

      Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.

      Artikel 3 – Künstliche Intelligenz

      Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.

      Artikel 4 – Wahrheit

      Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.

      Artikel 5 – Globalisierung

      Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.

      Artikel 6 – Grundrechtsklage

      Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.

      Was diese Grundrechte im Einzelnen bedeuten könnten, haben zwei Kollegen und ich in einem kurzen Kommentar erläutert. Andere Interpretationen sind denkbar. Sicher haben wir nicht alles bedacht und vielleicht werden noch kluge Änderungen zu den Grundrechten vorgeschlagen.…usw usf

      kurz - Zukunftsmusik - würzig.



      Gekeult wird später.

      • @Lowandorder:

        Däh&Zisch - Mailtütenfrisch - merkt an:

        “ Bücher verkaufen. Jeder Mensch:



        www.spiegel.de/pan...-ac03-55b1f764e6c6



        Ferdinand von Schirachs Grundrechteinitiative



        »Jeder Mensch« braucht kein Mensch



        Eine Kolumne von Thomas Fischer



        Wenn man mit einer Schulstreik-Proklamation fast den Friedensnobelpreis erhält, müsste es mit einer Neuerfindung Europas doch auch klappen können. Für diesen Kunstschuss benötigt man aber das ganz große Kaliber.“ Wohl wahr.

        kurz - @Coriander23 gewidmet.

      • 0G
        06438 (Profil gelöscht)
        @Lowandorder:

        1.. Meine Keule hatte besseres vor - die habe ich schon als 16jähriger in Verbindung mit einem nächtlichen Lagerfeuer genutzt um die Romantik zu verlängern. Muß also passen .......aber wenn unbedingt notwendig komme ich ------ aber mit NATO. -

        2..Dachte immer ""... von Schirach: „Jeder Mensch“ Luchterhand Verlag, in Zusammenarbeit mit dem Menschenrechtler Bijan Moini waren die Erfinder der neuen einklagbaren Grundrechte .....................................

        • @06438 (Profil gelöscht):

          Liggers. Lesen kann ich auch - etwas populistisch-eitel der Herr. But.

          Scho recht. Fordern kannste alles.



          Und ooch klar. Kinder - die nix wolln - Kriegen auch nix. Sondern auf die Bolln.

          kurz - Keule? Bin für 🐑keule kurdisch.



          Hmm. Lecker.

  • Guter Beitrag zur Schärung der Wahrnehmung!



    Lese Ihre entspannte Kolumne zu spannenden Themen immer gerne.

  • "Und will man wirklich, dass sie unter allen Umständen immer die Wahrheit sagen?"



    -----------------------------



    Richtig gut fand ich die Reaktion des damaligen Französischen Präsidenten, auf die Nachricht, dass der US Präsident Bill Clinton auf Fragen des Parlamentarischen Untersuchungs-Gremiums nach ausserehelichem Sex mit mit einer Praktikantin gelogen habe:



    "Das ist eine Frage bei der jeder Ehemann lügen m u s s!

  • danke, aber ich glaube nicht an Halbwahr.

    • @Monika.w34:

      Aber. Aber. Der Glaube ist doch bekanntlich für die Kirche reserviert.

  • Ist das hier schon wieder so'n Fake?

    • @Rainer B.:

      Oder nur Halbwahrheit?

  • Danke - anschließe mich •

  • 9G
    91655 (Profil gelöscht)

    Wegen der Wahrheit sagen: Wer nie lügt, werfe den ersten Stein!