Politologe über die Krise der Demokratie: „Das Establishment schwächelt“
Wenn große Parteien auseinanderdriften, kann das die Demokratie gefährden, sagt der Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt.
taz am wochenende: Herr Ziblatt, Sie haben sich viel mit der Bedeutung konservativer Parteien für die Demokratie beschäftigt. Wenn eine große konservative Partei wie die Union jetzt schwächelt, was bedeutet das?
Daniel Ziblatt: Es ist normal, dass eine Partei nach so vielen Jahren an der Macht Schwächen zeigt. Und dass diese auch plötzlich auftauchen. Ein Machtwechsel ist in einer Demokratie ja etwas Gesundes. Andererseits zeigt die Geschichte: Stabile Mitte-rechts-Parteien sind notwendig, um eine Demokratie zu erhalten. Wenn sie zu schwach werden, entsteht ein Vakuum, das von extremen Kräften gefüllt wird. Ich würde bei der Union aber sagen: Das ist eine Krise der Partei, keine Krise der Demokratie.
In anderen europäischen Ländern wie Italien oder Frankreich hat man gesehen, wie konservative Parteien, die einst groß waren, quasi verschwunden sind. Holt Deutschland da nur eine Entwicklung nach?
Ich hoffe nicht. Man kann das zwar als eine Form der Demokratisierung sehen: Das Establishment schwächelt, die Volksparteien verlieren ihre herausgehobene Rolle, neue Parteien bekommen ihre Chance, können neue Antworten geben. Das Paradox unserer Zeit ist aber: Das ist eine Form der Demokratisierung, die jenen die Tür öffnen kann, die gegen die Demokratie kämpfen. In Italien hat man das mit Berlusconi und der Lega Nord gesehen. In Frankreich brachte die Entwicklung Marie Le Pen in die Stichwahl um den Élysée-Palast. Und es ist möglich, dass sie das nächste Mal die Präsidentschaftswahl gewinnt.
Welche Rolle spielt bei der Union die inhaltliche Ermattung? Angela Merkel war meist die Kanzlerin der kleinen Schritte. Und Regieren heißt immer: viele Kompromisse schließen. Da leidet das Profil zwangsläufig.
Bei Volksparteien wird eigentlich immer bemängelt, dass sie kein eindeutiges Profil haben, die Inhalte nicht scharf genug umrissen sind. Das liegt in der Natur der Sache, weil eine Volkspartei eine große Koalition innerhalb der eigenen Reihen hat – vom linken bis zum rechten Rand wird da ein großes Spektrum abgedeckt.
Die Union ist unter Angela Merkel aber schon stärker in die Mitte gerückt.
Ihre Wahlen hat sie aber nicht wegen ihres inhaltlichen Profils gewonnen, sondern weil Angela Merkel als eine Person angesehen wurde, die Probleme lösen kann. Dieser Stil kann auch in Zukunft funktionieren. Wenn die Nachfolger die Probleme denn auch wirklich lösen. Deshalb ist die Pandemie so gefährlich für die Partei. Weil es da genug Anlässe gibt, die Zweifel an ihrem Kernversprechen des Problemlösens aufkommen lassen.
Die Union gilt als besonders gut darin, Macht zu organisieren und zu verteilen. Bei dem Streit um die Kanzlerkandidatur zwischen Markus Söder und Armin Laschet haben sich aber viele gewundert, dass die Partei das nicht besser hingekriegt hat.
Ich frage mich: War das nach der Ära Kohl wirklich so anders? Es gab damals auch einen harten Machtkampf zwischen Angela Merkel und Edmund Stoiber, der gern Kanzler geworden wäre. Dass es jetzt so schwierig war, hat damit zu tun, dass Armin Laschet erst so kurz CDU-Vorsitzender ist. Wenn er schon länger im Amt gewesen wäre, hätte es den Aufstand der CSU so wohl nicht gegeben. Die Spannungen zeigen aber auch, dass die Partei genau weiß, wie das in Frankreich oder Italien gelaufen ist. Die deutschen Parteien sind noch viel stärker, aber die Tendenz zum Abbröckeln gibt es auch hier. Und das macht nervös.
Ist es eigentlich gefährlich, wenn Markus Söder nach der Kandidatenentscheidung betont, Armin Laschet sei nur der Kandidat des Hinterzimmers, er selbst aber sei der Kandidat der Basis?
Nein, so weit würde ich nicht gehen. Dass man behauptet, man sei ein Außenseiter und vertrete als solcher die Basis gegen das Establishment, bedeutet noch nicht zwangsläufig, dass man Donald Trump ist. Man kann trotzdem demokratisch sein. Es gibt gute Außenseiter – und eben schlechte. Aber die Äußerungen Söders sind ein Zeichen dafür, dass sich bei der Union etwas verändert.
Und zwar?
Seit dem 19. Jahrhundert funktioniert unsere Demokratie über Parteien, die im Inneren meist nicht sehr demokratisch organisiert waren. Die Parteioberen haben die wichtigen Entscheidungen unter sich ausgemacht. Wir sehen jetzt, dass es gesellschaftliche Veränderungen gibt, die auch die Ansprüche an diese Verfahren verändern. Die SPD hat das mit ihrer Vorsitzendenwahl vorgemacht. Bei der Union war das Hinterzimmer bislang immer noch sehr präsent.
Was sind die Gründe für diese Veränderung?
Es gibt drei Punkte: Die Öffentlichkeit erwartet heute einfach, dass Entscheidungen anders getroffen werden als früher – transparenter, partizipativer. Zweitens haben Gewerkschaften, Bauernverbände und andere gesellschaftliche Interessengruppen nicht mehr so enge Bindungen an einzelne Parteien wie noch vor 20, 30 Jahren. Und damit auch nicht mehr diesen großen Einfluss innerhalb der Parteien. Man sieht das zum Beispiel bei den Bauern. Als sie vergangenes Jahr in den Straßen von Berlin demonstrierten, hatten das nicht ihre Interessenvertreter in der CDU organisiert, das lief unabhängig von der Partei.
Und der dritte Punkt?
Der Medienwandel. Früher gab es keine sozialen Medien, mit denen sich Politiker in Echtzeit direkt an die Öffentlichkeit wenden konnten. Und es gab nur zwei Fernsehsender und eine Handvoll überregionaler Zeitungen, heute gibt es viel mehr Kanäle. Diese Medienkonkurrenz hat einen starken Druck zu mehr Offenheit in den Parteien erzeugt.
In Ihrem mit Steven Levitsky verfassten Buch „Wie Demokratien sterben“ betonen Sie aber, dass das Hinterzimmer manchmal auch Vorzüge haben kann.
Da geht es um das System der Vorwahlen in den USA, bei denen die Präsidentschaftskandidaten bestimmt werden und jeder mit abstimmen kann, der sich für die jeweilige Partei registriert. Das wäre so, wie wenn die Union ganz Deutschland darüber abstimmen ließe, wer ihr Kanzlerkandidat werden sollte. Als ich 2018 mit meinem Kollegen Steven Levitsky kritisch über die Vorwahlen geschrieben habe, haben viele zu uns gesagt: „Das kann doch nicht euer Ernst sein, das ist antidemokratisch, die Menschen müssen entscheiden, nicht irgendwelche Parteispitzen.“
Worauf zielten Sie ab?
Manchmal ist die innerparteiliche Demokratie nicht so gut für die Demokratie insgesamt, weil sie Populisten begünstigt. Trump ist sicher ein extremes Beispiel, aber in den Parteigremien hätte er sich nicht durchgesetzt. Das System der Vorwahlen, das es so erst seit den 1970er Jahren gibt, hat ihm ermöglicht, sich die republikanische Kandidatur zu holen.
Zurück zur Union. Armin Laschet hat gesagt, im Westen seien die Grünen der Hauptgegner der CDU, im Osten die AfD. Würden Sie das auch so sehen?
Das scheint mir eine sehr wahlstrategische Aussage zu sein. Die SPD hat er da wohl ganz bewusst nicht erwähnt. Diese Spaltung, die er anspricht, gibt es aber natürlich. Und die Stärke der AfD im Osten ist vor allem für die Union ein Problem.
Sie macht auch den bundesweiten Wahlkampf schwieriger.
Das ist die Rache Erich Honeckers, könnte man sagen. Diese Spaltung ist mittlerweile ein fester Bestandteil der deutschen Politik. Die parteipolitische Landschaft ist dadurch sehr viel komplizierter geworden. Ähnlich wie bei der regionalen Spaltung in Nord- und Südstaaten in den USA. Es könnten dadurch unterschiedliche Regionalteile einer Partei entstehen, die nur noch schwer zusammenarbeiten können.
Über die Wahl Hans-Georg Maaßens zum Bundestagskandidaten der CDU Südthüringen war man in der Union in anderen Landesteilen ziemlich entsetzt.
Aber es ist natürlich eine Reaktion auf die Stärke der AfD in Thüringen. Wäre Maaßen sonst dort aufgestellt worden? Wohl kaum.
Maaßen teilt auf Twitter Verschwörungstheorien, spricht davon, dass die öffentlich-rechtlichen Sender „Propaganda“ für die Grünen betreiben. Geht es bei der CDU nun auch los, wie damals bei der ultrarechten Teaparty bei den US-Republikanern?
Wir unterscheiden grob drei Arten von Politikern: Es gibt demokratische Politiker, es gibt antidemokratische – und dann gibt es noch jene, die der Politikwissenschaftler Juan Linz „semiloyal“ nannte. Sie sind formal Demokraten, aber ihr Verhalten ist nicht eindeutig. Wenn man zum Beispiel keine klare Abgrenzung gegenüber Extremisten zieht, ist das ein Erkennungszeichen der Semiloyalen. Und solche Kräfte sind immer mitverantwortlich für die Zerstörung der Demokratie. Die Gefahr bei Maaßen ist, dass er in diese Richtung geht. Natürlich wird er innerhalb der Union kritisiert, aber er ist eben ein Teil dieser Partei – man wird da sehr genau hinschauen müssen.
Was heißt das für die Union, wenn jemand gegen den erklärten Willen der Landes- und der Bundesspitze nominiert wird?
Eine nützliche Definition von politischen Parteien, die Politikwissenschaftler verwenden, ist: eine Organisation, die das Monopol auf die Nominierung von Kandidaten für Parlamentswahlen hat. Wenn die Parteispitze dieses Monopol nicht mehr durchsetzen kann, ist die Frage, was sie sonst noch durchsetzen kann. Es ist ein Zeichen für eine tiefgehende Schwächung.
Im vergangenen Jahr haben CDU und AfD Thomas Kemmerich von der FDP zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten Thüringens gewählt. Sie haben danach geschrieben, dieser Verstoß gegen die demokratische Norm, dass man eben nicht mit Rechtsextremen und Rassisten paktiert, müsse einen hohen gesellschaftlichen Preis haben. War der dann hoch genug?
Ich war beeindruckt, muss ich sagen. Die Abwehrreflexe haben funktioniert. Nicht nur, dass Kemmerich schnell wieder zurückgetreten ist – der Verstoß wurde als so schwerwiegend wahrgenommen, dass er auch die politische Zukunft von Annegret Kramp-Karrenbauer zerstört hat. Und es ist auch möglich, dass die CDU im Herbst an den Wahlurnen noch einen Preis zahlen muss, wenn die Menschen ihr nicht abnehmen, dass sie wirklich nichts mit Extremisten zusammen macht.
Maaßen hat versichert, er wolle nicht mit der AfD zusammenarbeiten, sondern Wähler von dort zurückgewinnen. Aber offenbar mit denselben Botschaften.
Wir nennen das die Papageienstrategie – also so zu sprechen wie Rechtsextreme, ihnen nachzuplappern wie ein Papagei. Bei der Landtagswahl 2018 in Bayern hat die CSU das versucht und ist gescheitert. Die AfD hatte Schilder aufgestellt, auf denen stand: „Wir tun, was die CSU verspricht.“ Die CSU hatte 2018 schreckliche Wahlergebnisse. Aus der Forschung zur Zwischenkriegszeit weiß man auch, dass diese Strategie, wenn überhaupt, höchstens kurzfristig Wähler zurückbringt. Langfristig führt sie dazu, diese Ideen zu legitimieren. Damit schafft man wie Frankenstein ein Monster, das man nicht mehr eingefangen kriegt.
Was können deutsche Konservative eigentlich von den Erfahrungen in den USA lernen?
Daniel Ziblatt, Jahrgang 1972, ist Professor für Politikwissenschaft an der Harvard University und Direktor der Abteilung “Transformationen der Demokratie“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. 2018 veröffentlichte er mit Steven Levitsky das Buch “Wie Demokratien sterben“ (DVA). 2017 erschien seine Studie “Conservative Parties and the Birth of Democracy“, in der er die Entwicklung konservativer Parteien in Großbritannien und Deutschland verglich.
Das Parteiestablishment der Republikaner hat immer geglaubt, dass sie alles im Griff haben – bis sie es nicht mehr im Griff hatten. Sie haben versucht, Trump für ihre eigenen Zwecke zu nutzen, für niedrigere Steuern und wirtschaftsfreundliche Politik. Das Verhältnis hat sich aber sehr schnell umgekehrt, Trump hat die Partei benutzt. Populistische Tendenzen kann man nicht einfach an- und ausknipsen. Von Winston Churchill gibt es ein Zitat, das das Verhalten der Republikanischen Parteiführung damals gut zusammenfasst: „Ein Appeaser ist jemand, der ein Krokodil füttert, in der Hoffnung, dass es ihn zuletzt frisst.“
Im Januar waren alle vom Sturm der Trump-Anhänger auf das Kapitol in Washington geschockt. Jetzt nach 100 Tagen Joe Biden, einer ganz anderen Politik und einem ganz anderen Ton im Weißen Haus hat man den Eindruck, die vier Jahre Trump mit ihrem ganzen Irrsinn sind plötzlich sehr weit weg. Fast wie ein schlechter Traum …
Es war aber traurige Realität. Und die Gefahren für die amerikanische Demokratie sind nach wie vor sehr groß. Trump hat tiefe Spuren hinterlassen. Das Problem ist aber nicht nur er, sondern die Republikanische Partei insgesamt. Es gibt auf lokaler und regionaler Ebene viele Versuche, das Wahlrecht zu ihren Gunsten zu verändern und demokratische Wähler fernzuhalten. Dazu kommt die Befürchtung, dass 2020 nur eine Generalprobe für die Wahlen 2024 waren.
Wieso das?
Teile der Republikanischen Partei haben sich auf Trumps Spiel eingelassen, das Wahlergebnis zu delegitimieren – ohne dass sie in der Folge einen Preis dafür zahlen mussten. Es hatte einfach keine Konsequenzen für sie. Wieso sollten sie es dann nicht wieder versuchen? Da kann man schon zweifeln, ob der Mechanismus der Selbstkorrektur in der amerikanischen Demokratie noch richtig funktioniert.
Was kann man dagegen tun?
Zwei Sachen. Erstens das, was Joe Biden gerade versucht: Die Wirtschaft so schnell wie möglich wieder flottkriegen. Wenn sie kräftig anzieht, steigt die Zufriedenheit und Populisten haben es schwerer. Wirtschaftswachstum allein ist nicht ausreichend, um die Probleme zu lösen, aber es hilft sehr.
Und was noch?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Der zweite Teil ist sehr viel schwieriger umzusetzen: Wir brauchen dringend demokratische Reformen unserer uralten Verfassung. Wie der Senat zusammengesetzt wird, wie das Wahlleutegremium bestimmt wird, das dann den Präsidenten wählt – diese Institutionen sind so zugunsten der Republikaner ausgerichtet, dass diese auch dann quasi an der Macht bleiben, wenn sie nicht mehr die Mehrheit der Stimmen haben. Es wird für Biden sehr schwierig werden, dort eine grundlegende Reform durchzusetzen.
Trotz aller Probleme soll die Stimmung in den USA jetzt sehr viel besser sein.
Das liegt am Impffortschritt. Viele in den USA erzählen mir, sie hätten, als sie geimpft wurden, das Gefühl gehabt: „Wir schaffen das. Wir waren am Anfang ganz schlecht, aber jetzt geht alles viel besser und wir kriegen das hin.“ Es ist eine positive Form des Patriotismus und eine Aufbruchstimmung.
Der Glaube an das Regierungssystem kehrt über die Impfung zurück?
Ja, so könnte man das formulieren. Schwer zu sagen, ob es dieses Gefühl bei der Impfung auch gäbe, wenn Donald Trump noch an der Macht wäre. Wahrscheinlich nicht. Aber im Moment herrscht hier die Stimmung vor: So wie jetzt sollten wir das immer machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Prognose zu KI und Stromverbrauch
Der Energiefresser
Anschläge auf „Programm-Schänke“
Unter Druck
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen
Jeff Bezos und die Pressefreiheit
Für eine Zwangsabgabe an Qualitätszeitungen!
Orbán und Schröder in Wien
Gäste zum Gruseln