Wahl in Italien: Italien hat Angst
Die wahren Probleme werden im italienischen Wahlkampf nicht besprochen: Weder die Klimakrise, noch die Mafia oder die Armut im Land.
In seinen letzten Lebensjahren war ich mit dem Schriftsteller Peter O. Chotjewitz (1934–2010) befreundet. Wir waren uns nicht in allem einig, aber wir redeten und lachten gern, hatten also eine tiefe Abneigung gegen deutsche Miesepetrigkeit und führten das nicht zuletzt auf unsere Italienerfahrung zurück. Chotjewitz war mir auch da weit voraus.
Er hatte lange in Rom gelebt und mit seiner Frau Renate die Stücke des Literaturnobelpreisträgers Dario Fo und dessen Lebensgefährtin Franca Rame übersetzt. Und wahrscheinlich, erzählte er mir, wäre er für immer am Tiber geblieben, wenn nicht seine Söhne ihn gebeten hätten, nach Deutschland zurückzuziehen: Es sei den Kindern schlicht zu heiß geworden in einem Moloch, den man nur für ein paar Wochen Urlaub gegen ein Strandhäuschen tauschen kann und in dem man die restlichen langen Sommermonate elend schwitzt. Als guter Vater gab Chotjewitz nach und zog zurück zu Nebel und Kühle.
Verheerende Waldbrände
Das war in den frühen 1970er Jahren, ungefähr zu der Zeit, als der Club of Rome sein erstes Manifest vorlegte, in dem von den absoluten Wachstumsgrenzen der Erde die Rede war. Fünfzig Jahre später erleben wir, was das konkret bedeutet: Selbst unsere nördlichen Sommer fühlen sich zunehmend unangenehm, ja unheimlich an.
Am Montag nach der Wahl wird Ambros Waibel im taz Talk mit unserem Italienkorrespondenten Michael Braun und der Deutschlandkorrespondentin von Repubblica, Tonia Mastrobuoni, über die Wahl sprechen: Wer hat Angst vor Giorgia Meloni? Nach den Wahlen wird im Traumland der Deutschen eine extrem rechte Regierung erwartet. Ein Gespräch über linkes Versagen.
Wann: Mo., 26.09.2022, 19 Uhr
Wo: youtu.be/VIUSsb1KRg4
Kontakt: taztalk@taz.de
Würde man da nicht vermuten, dass nie gesehene Tiefststände des Po, absterbende Olivenbäume in Umbrien, verheerende Waldbrände in Kalabrien, auf den tödlich heißen Feldern Apuliens elend krepierende migrantische Erntearbeiter, tropische Krankheiten übertragende Parasiten in Venetien und verheerende Überschwemmungen in den Marken nun gerade in einem Land mit einem so verletzlichen Landschaftsbild wie Italien zumindest im Wahlkampf für Aufregung sorgen?
Klimakrise, welche Klimakrise?
Wenn ich die Berichte und Posts meiner italienischen Bekannten durchsehe, findet sich davon fast nichts. 42 Grad am Abend in Syrakus, schrieb einer nach dem Besuch im antiken Theater, und dann nur: „Ganz schön heiß.“ Als ich im vorigen Jahr für eine Nachrichtensendung der RAI die deutschen Wahlergebnisse kommentierte, schmiss mich die Moderatorin aus der Sendung, als ich auf die größte Herausforderung für uns alle zu sprechen kam, die Klimakatastrophe.
Es ist, als bestätige sich das Bonmot von Fellinis Drehbuchautor Ennio Flaiano: „Die Italiener lieben die Hölle: Alle sind nackt und es ist schön warm.“ Die Schriftstellerin Francesca Melandri beantwortet die von ihr in einem Facebook-Post gestellte Frage, wie man einem Deutschen oder Franzosen den aktuellen italienischen Wahlkampf erklären solle auf Nachfrage dann auch selbst so: „Die wichtigen Dinge dieses Wahlkampfs, ja dieses heutigen Italiens sind die, über die nicht gesprochen wird.“
Die italienischen Medien versagen
Italien ist schön, macht aber viel Arbeit, möchte man mit Karl Valentin sagen. Das Land, das sich dem Fremden so zugänglich zeigt, das eine wunderbar melodische, zumindest in den Grundlagen nicht schwer zu erlernende Sprache hat, ist auch Heimat Dutzender Dialekte und Regionalsprachen sowie der „misteri italiani“, der ungezählten ungeklärten Morde, Anschläge und Affären. Die italienischen Medien helfen bei der Orientierung nur bedingt. Sie bilden genussvoll politische Volten, Hinterzimmerverhandlungen, Skandale und Fauxpas („gaffe“) ab; was aber nun eigentlich inhaltlich von der Politik als wichtig erachtet und beschlossen wird, lässt sich ihnen nur unter großen Mühen entnehmen.
Eine gewisse Biegsamkeit zeigen auch Italiens Volksvertreter:innen. In der mit der Wahl am kommenden Sonntag endenden gut vierjährigen Legislaturperiode hat ein Drittel der Abgeordneten die Fraktion gewechselt, knapp hundert sogar mehrmals. Mit dem gewählten Personal der letzten Parlamentswahl vom März 2018 wurden drei Regierungen gebildet: Conte 1 (Cinque Stelle und Lega), benannt nach Premier Giuseppe Conte von der 5-Sterne-Bewegung, der nun auch Spitzenkandidat seiner Formation ist; Conte 2 (Cinque Stelle–M5S, Demokratische Partei–PD, und Italia Viva vom Ex-Premier und Ex-PD-Vorsitzenden Matteo Renzi); und schließlich die Regierung Nationaler Einheit unter Mario Draghi – hier fehlte im wesentlichen nur die Partei Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni, die nun als unvorbelastete Favoritin für das Amt der Premierministerin gilt. Sie wäre die erste Frau an der Spitze einer italienischen Regierung.
Die lange Ära der Democrazia Christiana
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht angebracht, mit dem Vorurteil aufzuräumen, das italienische politische System sei wegen der häufigen Kabinettswechsel besonders instabil. Von den ersten Wahlen 1946 bis zu ihrer Auflösung 1994 war immer ein und dieselbe Partei führend an der Macht beteiligt, die Democrazia Christiana. So viel Stabilität gab es in keinem anderen westlichen Land. Seit 1994 wurden in Italien auch nicht deutlich mehr nationale Wahlen abgehalten als etwa in Deutschland.
Was Italien wesentlich von der Bundesrepublik, aber nicht etwa von Frankreich unterscheidet, ist die Tatsache, dass es seit Jahren eine Mehrheit populistischer Parteien gibt, die dann im Kabinett Conte 1 auch zusammenarbeiteten. „Es wird keinen Marsch auf Rom geben, die Populisten sind schon in Rom“, hat der Schriftsteller Antonio Scurati, dessen dritter Teil einer monumentalen Romanreihe über den faschistischen Diktator Benito Mussolini gerade in Italien erschienen ist, die Lage im taz-Gespräch zusammengefasst.
Die Trümmer der Kommunistischen Partei
Und die Linken? Die sozialdemokratische PD unter Ex-Premier Enrico Letta, der seine Karriere, wie könnte es anders sein, bei der Democrazia Christiana begann, ist in die Rolle einer proeuropäischen, prowestlichen Staatspartei getreten. Was ihr fehlt, um diese Rolle ausfüllen zu können, sind Mehrheiten im Volk und ein Staat, der wirklich von ihr vertreten werden möchte. Damit geht es ihr nicht anders als ihrem Vorläufer, der Kommunistischen Partei (PCI), die für alles stand, was in Italien gut und anständig war. Ihre Trümmer fliegen immer noch durch den politischen Orbit, von der Lega über die M5S bis zu linksradikalen Splittergruppen, die sich derzeit vor allem mit der „Nato-Aggression gegen Russland“ beschäftigen, also politisch noch unter Wagenknechtniveau unterwegs sind.
Es gehörte dabei schon immer zu den Eigenheiten der italienischen Linken, sich weniger mit den Opfern der Mafia zu Hause als mit dem Leid etwa der Palästinenser zu beschäftigen. Spricht man mit solch klassischen Revolutionären, so geht es meist nicht unter einem ausführlichen, einleitenden Gramsci-Zitat. Bevor es irgendwie konkret werden könnte, ist man schon entnervt und geht erst mal zusammen einen Espresso trinken – was dann meist erstaunlich nett ist.
Die mafiöse Bourgeoisie kommt wieder
Niemand sollte sich dabei erlauben, den Mut eines Abgeordneten wie Sandro Ruotolo (PD) kleinzureden. Der bekannte Journalist hat seinen Wahlkreis im Umland Neapels und erhielt vor wenigen Tagen Todesdrohungen der Camorra: „Wenn du so weitermachst, geht es dir wie deiner Kusine – sei sehr vorsichtig.“ Silvia Ruotolo wurde 1997 bei einer Schießerei zwischen Mafia-Clans in Neapel ermordet. Sie hatte ihren fünfjährigen Sohn an der Hand, vom Balkon aus musste ihre zehnjährige Tochter das Geschehen mitansehen.
Von solchen Aufregern abgesehen, gehört auch das Thema Mafia zu denen, über die in diesem Wahlkampf kaum gesprochen wird, ein paar Fachjournalisten ausgenommen, die schon nach den Kommunalwahlen auf Sizilien im Sommer die Rückkehr einer „mafiösen Bourgeoisie“ gekommen sahen.
Eine Phase der Angst
Aber solche Skandalisierungen bringen keine Mehrheiten, genauso wenig wie das Werben für ein modernes Einbürgerungsrecht, die Anklage gegen die grassierende Armut im Land oder eine Debatte über eine sinnvolle Verwendung der Mittel aus dem europäischen Aufbauplan – warum auch: Ist es doch diversen Politikern des Rechtsbündnisses wichtiger zu verhindern, dass eine Folge der Zeichentrickserie „Peppa Pig“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt wird, in der ein Mädchen zwei Mütter hat anstatt der von Giorgia Meloni gepriesenen Mamma-Babbo-Kombination, wie Gott, der Duce und das Vaterland sie wünschen.
Italien hat schlechte Laune, nicht erst seit diesen Wahlen. Ob eine Wahlsiegerin Giorgia Meloni zusammen mit dem Altkriminellen Silvio Berlusconi und dem auch in der eigenen Partei angezählten Lega-Chef Matteo Salvini daran etwas ändern werden, ist eher zu bezweifeln. Schriftsteller Angelo Scurati sieht Italien in einer „Phase der Angst“, und die war noch nie ein guter Ratgeber.
Schon möglich, dass alles wieder dem Prinzip aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas klassischem Roman „Der Leopard“ folgt, demzufolge sich alles ändern muss, damit alles gleich bleibt. Nur eines ist anders, ob es die Menschen im wahrscheinlich schönsten Land der Welt nun wahrhaben wollen oder nicht: Es wird noch heißer werden.
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