Vor der Wahl des neuen CDU-Chefs: Macht's Merz mit Grün?
Friedrich Merz polarisiert. Ob er der richtige CDU-Chef ist, entscheidet die Partei. Aber kann Merz auch der erste schwarz-grüne Kanzler werden?
D a ist er wieder, so ein verstörender Merz-Moment. Mitte Dezember, eine der CDU-Kandidatenrunden, bei der sich die drei Bewerber um den Parteivorsitz mit einer freundlichen Moderatorin in einem Fernsehstudio gepflegt austauschen. Sie reden schon fast eineinhalb Stunden.
Da liest die Moderatorin die Frage eines Zuhörers vor: „Was wollen Sie tun, um die Schere zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft zu verkleinern?“ Zuerst antwortet Armin Laschet, Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident, dann Außenpolitiker Norbert Röttgen. Merz hat viel Zeit, um sich eine Antwort zu überlegen.
Er könnte erzählen, wie er Armen helfen, ob er höhere Löhne will. Aber er macht etwas anderes: „Man muss allerdings auch mal sagen, wenn wir die Zuwanderung in den Jahren 2015 und 2016 in die Sozialsysteme nicht gehabt hätten, hätten wir heute in Deutschland eine Million Hartz-IV-Empfänger weniger.“ Das, schiebt er nach, werde „leider häufig genug unterschlagen“.
Mal abgesehen davon, dass diese Debatte von der AfD permanent geführt wird: Was meint er damit?
Will er ein anderes Thema einführen? Will er andeuten, dass die Kluft nicht so tief wäre, wären die Geflüchteten nicht da? Meint er: Ohne die Ausländer bliebe mehr für die Deutschen?
Momente, die Merz zum Helden machen
Man erfährt es nicht, kritische Nachfragen sind in diesem CDU-Format nicht vorgesehen. Hängen bleibt, dass ein Millionär, der zu Terminen gerne im Privatflugzeug einfliegt, nichts Fundiertes zu Armut zu sagen hat.
Aber wahr ist auch: Es sind Momente wie diese, die Merz für viele CDU-Rechte zu einem Helden machen. Der Mann sagt, was Sache ist. Konservativ, kantig, klar. Ein sehr von sich überzeugter katholischer 1,98-Meter-Hüne aus dem Sauerland, der gerne „ich“ sagt. Ein Anti-Merkel.
Für Linke und Grüne dagegen ist Merz eine Reizfigur, auf die man mit wohligem Grusel blickt. Merz sei von vorgestern, heißt es bei SPD, Grünen und Linken, vertrete Rezepte aus den 1990ern, als die Parole „Privat vor Staat“ lautete. Eine Art Lord Voldemort des Neoliberalismus.
Merz hat ganz gute Chancen, am Samstag das Rennen um den CDU-Vorsitz zu gewinnen. Er würde sich dann wohl nicht das Recht nehmen lassen, als Kanzlerkandidat der Union anzutreten. Seine Chancen, auch tatsächlich Bundeskanzler zu werden, stünden gut. Welch Ironie der Geschichte: Die erste schwarz-grüne Bundesregierung Deutschlands könnte von Friedrich Merz geführt werden.
Aber wäre er in der Lage, eine Brücke zwischen konservativen und grünen Milieus zu schlagen?
Merz schlägt jetzt liberale Töne an
Merz weiß genau, gegen welche Vorurteile er vorgehen muss. Im Kampf um den Vorsitz kann er sich nicht nur auf seine Fanblase verlassen. Er muss den liberaleren Delegierten die Angst nehmen, dass er die CDU aus der Mitte herausführt. Deshalb schlägt er neuerdings versöhnliche Töne an.
„Wir stehen vor großen Aufgaben, aber wir stehen auch auf einem festen Fundament dessen, was in den letzten Jahren erreicht wurde“, sagt Merz kürzlich bei einer anderen Gesprächsrunde im Konrad-Adenauer-Haus. Er betont den Anspruch der CDU, Volkspartei der Mitte zu sein. Verspricht die ökologische Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft. Und, ganz wichtig, Teamarbeit. Eine Abkehr vom mittigen Merkel-Kurs wäre das nicht. Für einen, der als Hoffnung derer antritt, die den klaren Bruch mit der Kanzlerin wollen, klingt er sehr verhalten.
Wenn er siegt, darf er sowieso nicht länger wie ein markiger Marktliberaler auftreten, der die Frauenquote für Quatsch hält. Er muss auf seine liberalen Gegner in der CDU zugehen. Ein Parteichef Merz könnte also dieselbe wundersame Wandlung durchlaufen, die auch bei Annegret Kramp-Karrenbauer nach ihrer Wahl zu beobachten war, nur umgekehrt. Die nüchterne AKK, damals Merkels Favoritin, holzte plötzlich so wild herum, dass ihre UnterstützerInnen sie kaum wiedererkannten.
Das gilt noch mehr für die gesamte Gesellschaft. Merz könnte nicht die modern denkende bürgerliche Mitte liegen lassen, er müsste um Frauen werben, um GroßstädterInnen und um die Ökobewegten.
Er tut es längst.
Franziska Brantner, Bundestagsabgeordnete der Grünen
Als ihn der Spiegel im Sommer zu einem Bündnis mit der Ökopartei befragte, zog er sich einen grünen Anzug an und band sich eine hellgrüne Krawatte um. Schwarz-Grün sitze in vielen bürgerlichen Familien längst am Frühstückstisch, sagte er. „Ich traue mir zu, das Unionsprofil in einer Konstellation mit den Grünen klar erkennbar zu machen.“ Schlau verwies er auf Volker Bouffier, der früher als schwarzer Sheriff galt, aber seit sechs Jahren geräuschlos mit den Grünen in Hessen regiert.
Auch inhaltlich macht Merz Angebote. Er widmet in seinem kürzlich erschienenen Buch „Neue Zeit. Neue Verantwortung“ ein ganzes Kapitel der ökologischen Erneuerung der Marktwirtschaft. Der zentrale Satz: „Der Klimaschutz bleibt damit eine, wenn nicht die zentrale politische Aufgabe unserer Zeit.“
Erwartbar feiert Merz die Kreativität und Schnelligkeit des Marktes, um das Menschheitsproblem zu lösen – und setzt auf Technologieoffenheit. Diesen Grundansatz verfolgen auch die Grünen, wenn auch mit anderem Ehrgeiz. Manchmal finden sich in dem Buch sogar soziale Bekenntnisse, zum Beispiel bei der Bepreisung von Kohlendioxid: „Wenn die CO2-Bepreisung die Lebenshaltungskosten steigen lässt, […] dann brauchen sozial schwache Familien einen Ausgleich.“
Das Copyright auf diesen Gedanken haben die Grünen. Sie werben seit Jahren dafür, dass die ökologische Wende mit einer sozialen einhergehen müsse. Da ginge was, mit Merz und den Grünen. Auffällig ist aber, wie vage Merz bleibt. Die Frage wird sein, ob er bereit wäre, wolkige Andeutungen in konkrete Maßnahmen zu übersetzen.
Merz' Problem heißt Friedrich Merz
Das Problem ist nur: Bei aller zur Schau getragenen Offenheit kommt Friedrich Merz immer wieder Friedrich Merz in die Quere. Zu Armut fallen ihm Flüchtlinge ein, zu einem schwulen Bundeskanzler Pädophile. Er macht Witzchen darüber, dass Sturmtiefs Frauennamen tragen. Im September, mitten in der Coronakrise, sagte er, „wir“ müssten aufpassen, dass wir uns nicht an ein Leben ohne Arbeit gewöhnten. Die übermüdeten ÄrztInnen und PflegerInnen werden sich bedankt haben.
Die Häufigkeit seiner verbalen Ausrutscher legt den Schluss nahe, dass da der wahre Merz spricht. Sein tatsächliches und sein taktisches Denken stünden demnach in einem permanenten Widerspruch zueinander. Ein Kanzlerkandidat Merz wäre für die Union, die die moderne Mitte nicht verlieren will, ein wandelndes Pulverfass.
Entsprechend stark ist das Misstrauen bei den Grünen. Parteichef Robert Habeck sagt in dieser Woche recht unverblümt: „Einen Kanzler Merz, den sehe ich noch nicht.“ Dann legt er los: Eine CDU unter Merz würde sicherlich stärker von einer Politik geprägt werden, „die sich weit von uns weg und weit von der gesellschaftlichen Mitte dieses Landes wegbewegt“. Habeck betont noch einmal, was die Grünen-Spitze seit Monaten sagt. Für sie mache es keinen Unterschied, wer die CDU führe – denn man richte sich an der Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderung aus, nicht an der Konkurrenz. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.
Friedrich Merz im „Spiegel“
Wenn man Grüne fragt, wie ein Wahlkampf gegen Merz aussähe und ob danach eine Koalition denkbar wäre, sagen sie oft dasselbe: Schwarz-Grün wäre mit Merz konfliktträchtiger, aber denkbar. „Mit Merz zu koalieren wäre nicht unmöglich, aber schwierig“, sagt die Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner, die den Realo-Flügel koordiniert. „Merz spielt mit unseren inneren Dämonen“, sagt Brantner. Und er setze auf „neoliberale Rezepte, die dem Land schaden würden“.
Andererseits glauben viele Grüne, dass ein Wahlkampf gegen Merz dankbarer wäre als einer gegen Laschet oder Röttgen. Merz, sagen sie, verlöre in der Mitte – und gewänne rechts nicht entsprechend dazu. Außerdem herrsche erst einmal Tohuwabohu in der CDU, weil er den Laden spalte. „Merz macht unseren Sieg wahrscheinlicher“, folgert ein Grünen-Stratege. „Wenn Merz zum Parteivorsitzenden gewählt wird, gibt es ein Problem: für die CDU“, sagt Haushälter Sven-Christian Kindler und spottet: „Dann viel Spaß, CDU.“ Merz würde die Zerrissenheit der Partei weiter verschärfen.
Allerdings Merz’ Chancen auf einen Sieg in den vergangenen Monaten eher gesunken. Auch ChristdemokratInnen, die ihn inhaltlich schätzen, bemerken seine Neigung zu Unberechenbarkeit – und werden skeptisch. Hat er die Fähigkeiten und Nerven, einen Bundestagswahlkampf zu gewinnen?
Merz ist ein gewandter Redner, der sich aber manchmal nicht zügeln kann. Dann wird er verletzend und wirkt arrogant. Sein Ehrgeiz ist berüchtigt, seine Teamfähigkeit gilt so manchem in der CDU als zweifelhaft. Auch habe er Schwierigkeiten, konstruktiv mit Kritik umzugehen, heißt es. Wer nicht Freund sei, der werde schnell zum Feind.
Merz, der Unkontrollierte
Wie schnell bei Merz etwas ins Rutschen geraten kann, hat er Ende Oktober vorgeführt. Als sich abzeichnete, dass der geplante Parteitag gegen seinen Willen erneut verschoben werden würde, griff Merz das „Parteiestablishment“ an, das ihn als CDU-Chef verhindern wolle. Und legte auf Twitter gleich noch nach: „Die Verschiebung des Parteitages ist eine Entscheidung gegen die CDU-Basis“, schrieb er.
In der Sache hatte Merz recht – viele etablierte ChristdemokratInnen wollen ihn nicht. Doch wie ein Populist reinsten Wassers ging Merz ein rhetorisches Bündnis mit der vermeintlichen Basis gegen „die da oben“ ein; die weitere Spaltung der ohnehin zerrissenen Partei nahm er dabei in Kauf.
Das hat auch Vertraute irritiert, die Frankfurter Allgemeine Zeitung nannte ihn einen „Sauerland-Trump“. Nochparteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer soll damals laut Süddeutscher Zeitung in einer internen Runde gescherzt haben, das alte Kriegsleiden sei zurück: Merz in seiner ewigen Opferrolle. Das war eine Anspielung auf Merz’ schwerste Niederlage, die er bis heute nicht verwunden zu haben scheint. Merkel, damals schon CDU-Chefin, verdrängte ihn 2002 vom Fraktionsvorsitz im Bundestag. Merz zog sich bald darauf gekränkt aus der Politik zurück.
Merz ist ein Risiko. Kann er der Machtmaschine CDU die nächste Kanzlerschaft vermasseln?
Frauen für Merz, zum Beispiel Dominique Emerich
Fragt man Dominique Emerich danach, zerstreut sie in fröhlichem Ton alle Bedenken. Emerich, 38, ist Beisitzerin im Landesvorstand der baden-württembergischen CDU. Im März, wenn der Stuttgarter Landtag neu gewählt wird, will sie als Abgeordnete dort einziehen. „Zuerst habe ich ‚oje‘ gedacht, aber dann war mir klar, dass es notwendig war, damit der Parteitag stattfindet“, sagt sie, wenn man nach Merz’ Attacke auf das Parteiestablishment fragt. Sie sei ein echter Merz-Fan geblieben. Er sei eben „schnörkellos und gradlinig“ und spreche auch unbequeme Wahrheiten aus. Hinzu komme seine Wirtschaftkompetenz.
Und die Machtoption Schwarz-Grün? Baden-Württemberg zeige ja, sagt Emerich, dass auch mit einer konservativ aufgestellten CDU eine Koalition mit den Grünen machbar sei.
Emerich hat im Netz die Seite „Wir Frauen für Friedrich Merz“ aufgemacht, auf Facebook hat diese knapp 2.200 Likes. CDU-Frauen können dort ihr Bild samt einem Bekenntnis für Merz hochladen. „Es heißt ja oft, Merz begeistere keine Frauen“, sagt Emerich am Telefon. „Dem wollte ich etwas entgegensetzen.“
Nötig ist das wohl. Frauenpolitisch wirkt Merz wie aus der Zeit gefallen. Er nennt die Frauenquote die zweitbeste Lösung, sagt aber nicht, was die beste ist. Er verspricht, eine Generalsekretärin einzusetzen, was gnädig klingt, und will dann am Amtsinhaber festhalten. Und dass er 1997 im Bundestag gegen die Einführung des Straftatbestands „Vergewaltigung in der Ehe“ stimmte, haben viele Frauen auch nicht vergessen.
Der Vorstand der Frauen Union hat sich in der vergangenen Woche gegen Merz als Parteichef ausgesprochen. Die Vorsitzende Annette Widmann-Mauz sagte dem Spiegel: „Wir brauchen jetzt einen starken Zusammenhalt, damit die CDU weiter die führende Partei in der Mitte der Gesellschaft bleibt.“ Deshalb habe die Frauen Union eine klare Präferenz für Laschet und Röttgen. Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, heute Ehrenvorsitzende der Frauen Union, legte sich auf Laschet fest, mit ganz ähnlichen Argumenten. Und Bundesbildungsministerin Anja Karliczek warnte sogar indirekt vor Merz: Dieser „spitzt Themen auch sehr gern zu“, sagte sie, und sie glaube nicht, „dass die Bevölkerung insgesamt einen konfrontativen Wahlkampf möchte“. Etwa 300 der 1.001 Delegierten, die am Samstag den neuen Parteichef wählen, sind weiblich.
Dietlind Tiemann ist eine davon. Sie aber hat auf Emerichs Seite einen kurzen Werbetext für Merz hochgeladen. „Ich unterstütze Friedrich Merz, weil sein Fachwissen aus Politik und Wirtschaft gut für unser Deutschland ist. Er weiß, dass uns die soziale Marktwirtschaft den Wohlstand und das Klima sichert – und nicht andersherum“, steht da. Tiemann, 65, frühere Oberbürgermeisterin der Stadt Brandenburg, sitzt für die CDU im Bundestag. Sie hat sich schon 2018 für Merz ausgesprochen und ist dabei geblieben. Und sein populistischer Angriff auf das Parteiestablishment? „Wenn er die abermalige Aufschiebung als Hinhaltetaktik wahrgenommen hat, dann ist es richtig, das auch zusagen.“
Auch Oliver Zander kann in Merz’ Vorwürfen an das Parteiestablishment nichts Schlechtes sehen. „Es war richtig, das anzusprechen“, sagt der Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung in Baden-Württemberg. Der Wirtschaftsflügel der CDU hat Merz für den Parteivorsitz nominiert.
Emerich, Tieman, Zander – man kann die drei wohl als Merz-Ultras bezeichnen. In ihren Kreisen scheint kaum jemand von Merz abgerückt zu sein. Aber das reicht eben nicht zum Sieg.
Die Gegenseite mobilisiert. Annegret Kramp-Karrenbauer wünscht sich öffentlich einen Kandidaten mit Regierungserfahrung – also Laschet. Der Hesse Bouffier trommelt für den NRW-Ministerpräsidenten. Dass Merkel Merz nicht will, ist ein offenes Geheimnis. Das Establishment schlägt zurück.
Interessant ist, wer sich nicht äußert. Auffallend still ist Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble geworden. 2018 hatte er Merz’ erste Kandidatur noch vorangetrieben. „Es wäre das Beste für unser Land, wenn Friedrich Merz auf dem Parteitag eine Mehrheit erhielte“, sagte Schäuble kurz vor dem damaligen Parteitag der FAZ. Klarer kann man sich kaum positionieren.
Jetzt aber schweigt Schäuble zu der Frage, welchen Kandidaten er favorisiert. Und nicht nur das. Im Sommer gab er der Zeit ein Doppelinterview mit Jens Spahn, der gemeinsam mit Laschet antritt. Darin lobte er Spahn über den grünen Klee und bügelte Merz kurz zuvor getätigte Aussage, alle sozialen Leistungen gehörten auf den Prüfstand, als Allgemeinplatz ab. Zuletzt sagte Schäuble, dass der Kanzlerkandidat der Union auch aus der CSU kommen könnte und es nicht unbedingt einer der beiden Parteichefs sein müsse.
Das alles kann man als Absetzbewegung von Merz deuten. Dessen Angriff auf das „Establishment“ der Partei dürfte dem Bundestagspräsidenten nicht gefallen haben.
Am Samstagvormittag stimmen die CDU-Delegierten über ihren neuen Vorsitzenden ab. Sie müssen entscheiden, ob sie sich mit einem Hochrisikokandidaten einlassen. Die Grünen sind zum Flirt mit Lord Voldemort bereit.
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