Verteidigung gegen Russlands Angriffe: Wie es um die Ukraine steht
Die Ukrainer:innen wehren sich beharrlich gegen die russische Invasion, trotz nachlassender Kräfte. Wie geht es weiter?
Wie ist die Lage an der Front?
Der Fall der Kleinstadt Awdijiwka Mitte Februar war eine schwere Niederlage für die Ukraine, seitdem rückt Russland langsam, aber stetig vor. Die Situation an der 1.500 Kilometer langen Front, da sind sich alle Militärexperten einig, ist für die Ukraine zurzeit extrem schwierig. Russland will den Gegner mit einer „1.000-Schnitte-Taktik“ mürbe machen. Statt einem Großangriff an einer Stelle sollen die ukrainischen Kräfte durch eine Vielzahl kleiner Operationen aufgerieben werden.
Franz-Stefan Gady ist ein unabhängiger Militärexperte, der seine Analysen des Kriegsgeschehens immer auch auf eigene Recherchen an der Front stützt. Anfang März war er zuletzt in der Ukraine. Er hat Artilleriesoldaten besucht, Verteidigungsstellungen besichtigt, viel Zeit mit Drohneneinheiten verbracht. Gady warnt davor, dass es zu einem umgedrehten Charkiw-2022-Szenario kommen könnte. Im Herbst 2022 war die russische Frontlinie im Raum Charkiw kollabiert. Die Ukraine konnte damals innerhalb weniger Tage über 12.000 Quadratkilometer ihres Territoriums befreien. Jetzt könnte es in die andere Richtung gehen.
Das Zusammenkommen von drei Defiziten der Ukraine bereite ihm Sorge, sagt Gady. „Der Ukraine mangelt es an Munition, Soldaten und durchgängig gut ausgebauten Verteidigungsanlagen.“ Zurzeit habe Russland bei der täglich verschossenen Artilleriemunition einen Überhang von fünf zu eins, an manchen Frontabschnitten sechs zu eins. Dies sei aber noch nicht kriegsentscheidend, sagt Gady. In der Frühphase des Kriegs lag das Verhältnis auch schon mal bei zehn zu eins zugunsten Russlands.
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Es kommen weiterhin Munitionslieferungen an, teils auch erste Lieferungen aus einer tschechischen Munitionsinitiative. Das Ausbleiben der US-Hilfe, die die Republikaner im Kongress blockieren, macht sich aber immer schmerzhafter bemerkbar.
Die Ukraine setzt deshalb stark auf Angriffe mit kleinen, einfachen Drohnen, die per Kamera und Fernsteuerung von einem Piloten ins Ziel gelenkt werden. Durch russische Störsender werden viele Drohnen aber schon vorher zum Absturz gebracht. „Es gibt ein falsches Bild, das durch Drohnenvideos entsteht, die über ukrainische und russische Kanäle ausgespielt werden“, sagt Gady. „Die Trefferquote dieser Drohnen ist niedriger, als man durch die sozialen Medien glauben würde – und wenn, ist die Wirkung oft nicht so groß. Auf absehbare Zeit werden sie nicht die Artillerie als dominante Waffe auf dem Schlachtfeld ersetzen können.“
Schwerwiegender noch als der Munitionsmangel sei der Mangel an Soldaten. Bisher zögern Präsident Wolodymyr Selenskij und das Parlament, ein neues Gesetz zur Mobilisierung zu verabschieden. Gady sieht da einen Wettlauf gegen die Zeit: „Würde das jetzt beschlossen und abgesegnet werden, würden drei bis fünf Monate oder vielleicht sogar mehr Zeit vergehen, bis dann wirklich neue Soldaten an der Front wären. Wir reden hier von Spätsommer, Frühherbst, bis dann zusätzliche Verbände zur Verfügung stehen.“ Die Gefahr sei groß, dass in der Zwischenzeit auf ukrainischer Seite durch weitere Tote und Verwundete größere Lücken in der Frontlinie entstehen.
Auch bei den ukrainischen Verteidigungsstellungen sieht Gady Probleme. Es gebe Stellen an der Front, wo diese massiv ausgebaut seien. Aber auch Stellen, an denen erst jetzt damit begonnen werde, eine zweite und dritte Verteidigungslinie zu errichten.
Der Zusammenbruch der Front stehe nicht direkt bevor, sagt Franz-Stefan Gady. Wenn die Defizite aber nicht angegangen würden, könnte es im Sommer oder Frühherbst zu einer Situation kommen, bei der Russland ein größerer Durchbruch gelingen könnte. Jan Pfaff
Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?
Typische Morgennachrichten in der Ukraine. Irgendwo wurde Luftalarm gemeldet. Schreckliche Explosionen in Charkiw, Krywyj Rih oder Saporischschja. Jede Nacht feuern die Russen Raketen und Shahed-Drohnen auf ukrainische Städte ab. Täglich werden Zivilisten durch Angriffe getötet.
Da ist der Terror, da sind all die Nachrichten von Leid. Wenn ihre Armee ein russisches Kriegsschiff versenkt, ein Flugzeug abschießt oder eine russische Ölraffinerie angreift, hellt sich die Stimmung der Mehrheit der Ukrainer*innen aber auf. Dieses Wechselbad der Gefühle geht nun schon in das dritte Jahr. Besonders augenfällig ist das in sozialen Medien.
Optimist*innen erinnern sich daran, dass am Vorabend der groß angelegten Invasion – im Dezember 2021 – nur 39 Prozent der Ukrainer*innen zuversichtlich im Hinblick auf die Zukunft des Landes waren. Im Mai 2022 gab es trotz der völkermörderischen Aktionen der Russen 88 Prozent Optimist*innen. Im November 2023 sank ihre Zahl auf 77 Prozent, was für einen Krieg immer noch ein unglaublich hoher Wert ist.
Im ersten Jahr der Invasion herrschte unter äußerst schwierigen Bedingungen ein bedingungsloser Optimismus. Im zweiten Jahr war eine zunehmende Bereitschaft zu Zugeständnissen aufgrund unerfüllter Erwartungen und der schwankenden Positionen des Westens festzustellen.
Daten des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie (KMIS) zeigen: Eine Mehrheit der Ukrainer*innen glaubt immer noch an den Sieg – im Februar waren 60 Prozent definitiv davon überzeugt. 73 Prozent der Ukrainer*innen sind bereit, den Krieg so lange wie nötig zu ertragen, aber 72 Prozent (Stand: Februar 2024) akzeptieren die Suche nach einem diplomatischen Weg zur Beendigung des Kriegs. Gefragt wurde konkret nach Verhandlungen, nicht nach Zugeständnissen gegenüber Russland.
Vor dem Hintergrund der russischen Offensive im Osten und der Raketenangriffe auf die Infrastruktur fällt es den Menschen aber schwer, die andauernde Debatte im Westen über die Lieferung von Langstreckenwaffen und andere Hilfe zu verstehen. Trotz der täglichen Angriffe auf ihre Städte soll die Ukraine den Grad der „Konflikteskalation“ berücksichtigen. Die Vereinigten Staaten wollen nicht, dass die Ukraine russische Ölfabriken angreift, sie stellen keine Atacms-Raketen zur Verfügung und die 60-Milliarden-Dollar-Hilfe wurde sechs Monate lang ausgesetzt. Bundeskanzler Olaf Scholz sagt, Wladimir Putin dürfe nicht gewinnen. Aber die Taurus-Raketen sind immer noch nicht in der Ukraine.
Bisher hat kein einziger Politiker oder General in der Ukraine eine Antwort auf die Frage gefunden, wie man unter solchen Bedingungen überleben kann. Juri Konkewitsch, Luzk
Wie sieht es mit der Unterstützung aus?
Aggressor Wladimir Putin scheint nach seiner Machtsicherung mittels Scheinwahlen nun mit neuer Härte gegen die Ukraine vorzugehen. Die Hauptstadt Kyjiw blieb zuletzt rund sechs Wochen lang von heftigeren Raketenangriffen verschont. Bis zum Ende dieser Woche. Dutzende Menschen wurden nämlich bei massivem russischen Raketenbeschuss verletzt, etliche Wohngebäude zerstört.
Das Beispiel zeigt eindrücklich: Die Ukraine hat keine Zeit zu verlieren. Zeit, die sich vor allem der stärkste Verbündete – die USA – derzeit nimmt. Seit Wochen hängt ein 60 Milliarden US-Dollar schweres Hilfspaket an Waffen für die Ukraine im Kongress fest, blockiert durch die Republikaner. Wann es auf die Tagesordnung kommt, ist völlig offen. Vermutlich wird es zum Dauerkampfthema im Vorfeld der US-Wahlen. Auf dem Rücken der Ukrainer*innen.
Seit Wochen appelliert Präsident Selenskij von Washington über Brüssel bis Berlin an die Unterstützerstaaten, bei ihren Hilfen nicht nachzulassen. „As long as it takes“ – dieser Satz erscheint farbloser denn je. Auch größere Teile der EU-Staaten halten sich bei der Unterstützung sehr zurück. Ausnahmen sind die baltischen Staaten, Polen sowie die Nato-Neumitglieder Schweden und Finnland. Fällt Kyjiw, sind auch sie selbst unmittelbar bedroht. Allein durch ihre geografische Nähe.
Zeit ist der entscheidende Faktor bei der Unterstützung, denn jedes Zögern nutzt Russland, auf dem Boden Fakten zu schaffen. Die entschiedenen Unterstützer setzen auf eigene Bündnisse im Bündnis. Und auf Geldgeber wie Deutschland und Frankreich.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) kündigte gemeinsam mit seinem polnischen Amtskollegen in Warschau in dieser Woche eine Initiative für die Ausbildung ukrainischer Soldat:innen an, im Militärsprech „Fähigkeitskoalition“ genannt. Allerdings soll diese erst im Sommer kommen. Auch eine mittelfristige Raketenkoalition ist geplant – initiiert vom wiederbelebten Weimarer Dreieck, bestehend aus Polen, Frankreich und Deutschland. Die Planungen laufen erst an. Auch das wird also dauern, obwohl Polen Druck macht.
Schnellere Entwicklungen gibt es bei Munitionslieferungen. In Ramstein kündigte Pistorius am Dienstag an, 10.000 Schuss aus deutschen Bundeswehrbeständen sollten in Kürze kommen. Die tschechische Initiative von 800.000 Granaten kommt nach und nach. Deutschland will sie mitfinanzieren, Dänemark plant seine gesamte Artilleriemunition an die Ukraine zu übergeben. Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas will 0,25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung der ukrainischen Armee einplanen.
Deutschland wird von vielen allerdings als unsicherer Kantonist gesehen. Den Marschflugkörper Taurus will Kanzler Scholz weiter nicht liefern, und jetzt sorgte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich mit seinem Gedankenspiel, den Krieg doch „einzufrieren“, für erhebliche Irritationen. Nicht nur im politischen Berlin, sondern vor allem auch außenpolitisch. Wie groß die Verstimmung bei internationalen Partnern ist, bekam Verteidigungsminister Pistorius bei seinem Besuch in Warschau zu spüren. „Ungünstig“ nannte Amtskollege Władysław Kosiniak-Kamysz den Vorstoß.
Pistorius distanzierte sich vor Ort von Mützenichs Äußerungen und wollte die Debatte mit einem „Das würde Putin nur in die Hände spielen“ beenden. Für die „Einfrier-Variante“ gibt es derzeit weder auf ukrainischer noch auf russischer Seite Akzeptanz, da waren sich in Warschau alle Militärvertreter einig. Man betonte lieber die enge Kooperation zwischen Deutschland und Polen bei Panzerlieferungen.
Innenpolitisch unterzieht sich die Ampelkoalition mit ihrer Haltung zur Ukraine einem Stresstest, der erneut Zeit kostet. Pistorius und auch die Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) müssen nun beweisen, dass die deutsche Unterstützung für die Ukraine doch ungebrochen ist. Tanja Tricarico
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