Verkehrswende in Berlin: Riesenschwein auf dem Fahrrad
Mit dem Rad durch die Stadt – das kann gutgehen, aber auch nicht. In Sachen Klimaschutz lässt sich jedenfalls davon lernen.
S oll ich diesen Text wirklich schreiben? Vielleicht bekommen ihn die Strafverfolgungsbehörden oder Minderjährige in die Finger. Oder ich blamiere mich endgültig.
Nun ja: Es war also einer dieser hektischen Tage. In Deutschland streikten Bahn und S-Bahn, im Kanzleramt die Ampelkoalition. Mir schwirrte der Kopf vor lauter schlechten Meldungen vom IPCC-Bericht, der internationalen Energiewende und dem bedrohten deutschen Klimaschutzgesetz. Wichtiger Termin, auf dem Fahrrad halbe Stunde hin, Treffen, halbe Stunde zurück. Vorher Hektik, hinterher dringende Verabredung.
Auf dem Rückweg bin ich spät dran. Also Tempo! Zwei Lkws blockieren die Straße, dazwischen nur ein enger Spalt. Mut zur Lücke und durch. Kaum habe ich knapp überlebt, geht es weiter: Straße gesperrt. Ich also mit vollem Tempo auf den Gehsteig der Gegenfahrbahn. Einer Frau mit Hund ausgewichen und zur nächsten großen Querstraße gerollt. Die Ampel für mich rot. Kurzer Blick nach links, frei, also rüber. Dann quer gegen den Verkehr auf die andere Fahrbahn.
Auch die nächste Ampel an der dreispurigen Hauptstraße will mich bremsen. Und die Autos sind noch 150 Meter entfernt. Also kurz entschlossen kräftig in die Pedale getreten, über die rote Fußgängerampel gerollt und gegen die Fahrtrichtung auf den Bürgersteig abgebogen.
Und dann sehe ich den Streifenwagen. Der silberblaue Zafira fährt auf der rechten Spur auf mich zu, bremst und stoppt kurz vor mir. Die Wagentür öffnet sich, ein Polizist steigt praktisch direkt vor mir aus. Mein monstermäßig schlechtes Gewissen denkt: Zwei oder drei Punkte in Flensburg? 150 Euro? Ein völlig berechtigtes Donnerwetter, Entzug des Radführerscheins?
Dann wendet sich der Polizist an einen Mann, der vor mir auf dem Gehsteig steht. „Wir müssen da hinten ins Parkhaus“, sagt er zu ihm und geht los – und ich rolle still und leise und ohne einen Mucks an den beiden vorbei. Biege um die nächste Ecke. Und schreie vor Erleichterung. Puuuh!
Und dann fällt mir ein: Wenn wir ab vorgestern und überall Emissionen senken, wenn wir weltweit dreimal mehr Ökostrom bauen müssen und das Klimaschutzgesetz vor dem Verkehrsminister kapituliert – dann brauchen wir für eine erträgliche Zukunft auch unglaublich viel Glück. Mega Dusel. Ein Riesenschwein.
Manchmal haben wir das. Aber meistens nicht. Darauf zu setzen, bei Verkehr oder Weltrettung, ist lebensgefährlicher Irrsinn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei