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Die halbe Härte des Rechtsstaates

Im Prozess zum Mord an Walter Lübcke wird der Hauptangeklagte Stephan E. zu lebenslanger Haft verurteilt, ein Mitangeklagter freigesprochen. Für die Hinterbliebenen eine Enttäuschung

Keine gesellschaft­liche oder politische Einordnung seitens der RichterInnen Thomas Sagebiel (M.), Miriam Adlhoch (l.), Christoph Koller Foto: Kai Pfaffenbach/dpa

Aus Frankfurt am Main Konrad Litschko

Irmgard Braun-Lübcke senkt still den Blick, als Richter Thomas Sagebiel sein Urteil verkündet. Ihre Söhne, Christoph und Jan-Hendrik, links und rechts neben ihr, blicken versteinert. Lebenslange Haft wegen Mordes für Stephan E. Für den Mann, dem die Lübckes seit 45 Prozesstagen im Saal 165 gegenübersitzen. Den Mann, der ihren Ehemann und Vater in der Nacht des 1. Juni 2019 erschoss.

„Wir wissen, dass wir Ihren Verlust kaum ermessen können“, wendet sich Sagebiel an die Familie. „Dass dieses Verfahren sehr schwer und schmerzhaft für Sie war.“ Aber, so der Richter: Auch für seinen Senat sei das Verfahren schwer gewesen, man habe sich um einen fairen Prozess bemüht. Da schüttelt Christoph Lübcke nur noch den Kopf.

Und dann verkündet der Richter auch noch einen Freispruch: für Markus H., den Mitangeklagten, auch er ein Rechtsextremist. Dass H., wie angeklagt, psychische Beihilfe zu dem Mord geleistet hat oder dass er – wie die Lübckes glauben – gar beim Mord dabei und Mittäter war, sei nicht nachzuweisen. „Wenn noch Zweifel bestehen, hat das Gericht zugunsten des Angeklagten zu entscheiden“, verweist Sagebiel auf den Grundsatz „In dubio pro reo“. Einzig für einen Waffenverstoß wird der 44-Jährige verurteilt, zu anderthalb Jahren Haft auf Bewährung.

Und noch einen Freispruch verkündet Sagebiel. Für einen Messerangriff auf den Iraker Ahmed I., der nun ebenfalls im Saal sitzt. Diese Tat soll Stephan E. laut Anklage bereits am 6. Januar 2016 verübt haben. Und auch sie sei nicht zweifelsfrei nachweisbar, sagt Sagebiel. Auch Ahmed I. starrt konsterniert in den Saal. Für die Familie Lübcke und für Ahmed I. ist es ein enttäuschender Ausgang dieses Prozesses. Einer, der den Regeln des Rechtsstaats folgen mag. Aber einer, der den Schmerz der Betroffenen nicht lindern wird.

Und auch die Angeklagten lassen keine Regung erkennen. Stephan E., der den Prozess von Beginn an wie eingefroren an sich vorbeiziehen ließ, blickt auch jetzt starr in den Raum. Der 47-Jährige hat das Urteil wohl kommen sehen. Und auch Markus H., der zuvor immer wieder provozierend grinste, zu den Vorwürfen aber beharrlich schwieg, verzieht nun keine Miene.

Seit Juni 2020 war im Oberlandesgericht Frankfurt am Main über die Tötung von Walter Lübcke verhandelt worden. Ein historischer Prozess: Es ist der erste rechtsextreme Mord an einem Politiker seit Be­stehen der Bundesrepublik.

Schon in der Nacht vor dem Urteilstag warten JournalistInnen vor dem Gericht, um einen der raren Plätze zu ergattern. Auch SchülerInnen der nach dem Mord neubenannten Walter-Lübcke-Schule in Wolfhagen, dem Heimatort des Getöteten, sind erschienen. Sie tragen ein Banner: „Demokratische Werte sind unsterblich“. Christoph und Jan-Hendrik Lübcke kommen zu ihnen und bedanken sich.

Richter Sagebiel, der im Prozess zuvor wortmächtig und direkt auftrat, unterlässt an diesem Tag jede gesellschaftliche und historische Einordnung der Tat. Er belässt es vielmehr bei einem kurzen Vorwort, in dem er betont, dass Freisprüche nicht immer bedeuteten, dass man von der Unschuld der Angeklagten überzeugt ist. Dann rattert er, im Wechsel mit Mitrichter Christoph Koller, drei Stunden lang die Urteilsbegründung herunter.

Dass der Hauptangeklagte Stephan E., ein langjähriger, einst notorisch gewaltbereiter Rechtsextremist, verurteilt werde, stand außer Zweifel. Am Hemd von Walter Lübcke fand sich seine DNA, ebenso am Tatrevolver. Und nach seiner Verhaftung gestand er die Tat auf eigenen Wunsch ohne Anwalt: Er habe Lübcke auf dessen Terrasse erschossen – aus jahrelang aufgestautem Hass, weil dieser Gegner einer Asylunterkunft im Oktober 2015 kritisiert hatte.

Dann aber zog E. das Geständnis zurück und sagte, sein Kumpel Markus H. habe geschossen, man sei zu zweit am Tatort gewesen. Im Prozess dann Variante drei: Er habe doch geschossen, aber H. sei dabei gewesen und habe ihn zur Tat „aufgehetzt“.

Über Tage sagte E. im Prozess aus, gab sich reuig und beteuerte, er wolle aus dem Rechtsextremismus aussteigen. Seine Verteidiger forderten deshalb ein mildes Urteil, ohne besondere Schwere der Schuld, ohne Sicherungsverwahrung. Die Tat sei auch kein Mord, sondern nur ein Totschlag, (da sie nicht heimtückisch geschah und E. irrig dachte, er handele im Sinne einer – asylfeindlichen – Allgemeinheit). Und schließlich habe Sagebiel selbst versprochen, ein Geständnis werde sich lohnen.

„Dabei bleibe ich“, sagt der Richter. So würden E. über ein Aussteigerprogramm ja nun Hilfen angeboten. Dennoch verkündet Sagebiel die Höchststrafe, erklärt neben der lebenslangen Haft eine besondere Schwere der Schuld, dazu eine vorbehaltliche Sicherungsverwahrung. E. trage einen tief verinnerlichten Rechtsextremismus in sich, er sei „für die Allgemeinheit gefährlich“, weitere Straftaten zu befürchten.

Die Richter machen klar, dass sie nur seinem ersten Geständnis glauben, in dem er sich als Alleinschütze bezichtigte. Es sei ohne Widersprüche gewesen, detailliert, glaubhaft, sagt Koller. Spätere Aussagen hingegen bezeichnet er als detailarm, emotionslos und „zu keinem Zeitpunkt konstant“.

Christoph Lübcke wendet den Blick nicht mehr der Richterbank, sondern den Angeklagten zu

Koller benennt die Punkte. Wann genau fiel der Mordentschluss? Im Mai 2019, bei einem Bier nach einer Sitzung des Schützenvereins, hatte E. gesagt. „Plötzlich bei einem Bier an einer Tankstelle?“, fragt Koller. „Da sind erhebliche Zweifel angebracht.“ Warum wurde E. als Schütze erkoren? Bis heute keine Antwort. Warum ging von H.s Handy in der Tatnacht noch eine Nachricht ab? Von einem eingeweihten Dritten abgeschickt, als fingiertes Alibi? Abwegig. Und warum rief Lübcke nicht laut um Hilfe, als die zwei Männer auf die Terrasse kamen? Warum hielt der Erschossene noch eine Zigarette in der Hand? Kollers Antwort: Weil es eben doch E. allein war, der sich anschlich und heimtückisch schoss.

Sagebiel und Koller sehen nicht einmal eine Beihilfe. Dass Markus H. einen Videoausschnitt von Lübckes Ausspruch auf der Bürgerversammlung online stellte, der den Hass gegen den CDU-Politiker anfachte, heiße nicht, dass er einen Mord wollte. Dass er mit E. zu Waffentrainings ging, könne auch Leidenschaft für Sportschießen sein. Auch habe H. Stephan E. nicht radikalisieren müssen – er war ja seit jeher rechtsextrem. Dass beide den Wohnort der Lübckes ausspähten, hätte auch dem Ziel eines Farbanschlags dienen können, nicht eines Mordes.

Je länger die Richter reden, umso mehr sackt Irmgard Braun-Lübcke in sich zusammen. Christoph Lübcke wendet den Blick nicht mehr der Richterbank, sondern den Angeklagten zu. Dort hat sich Markus H. nun mit verschränkten Armen zurückgelehnt, in einer Pause scherzt er mit seiner Anwältin.

„Nicht nachvollziehbar und schwer zu verkraften“ sei der Freispruch für Markus H., lassen die Lübckes ihren Sprecher erklären. Dabei sei die Beweislage gegen H. „überzeugend“ gewesen, für eine Beihilfe hätte es gereicht. Nun blieben „zentrale Fragen zum Tatablauf ungeklärt“. Auch Oberstaatsanwalt Dieter Killmer kündigt Revision im Fall Markus H. an.

Mit Verbitterung reagiert auch Ahmed I. 2016 wurde der irakische Geflüchtete in Kassel von hinten niedergestochen, in der Nähe seiner Unterkunft – just der, für die Lübcke eingetreten war. Laut Anklage soll auch dieser Täter Stephan E. gewesen sein. In seinem Keller fanden Ermittler ein Messer mit DNA-Fragmenten, die denen von Ahmed I. ähnelten. Doch auch hier erklären die Richter die DNA-Spur für nicht aussagekräftig genug. Wieder Freispruch. Es sei bedauerlich, was ihm zugestoßen sei, wendet sich Sagebiel noch an Ahmed I. „Ich bin sehr traurig“, sagt der 27-Jährige später im Nieselregen vor dem Gericht. „Wir wissen alle, wer der Täter ist. Nur das Gericht weiß es nicht.“

Die Lübckes haben sich da bereits zurückgezogen. Die Familie wolle keine Gerichtsschelte betreiben, denn auch Walter Lübcke habe stets hinter dem Rechtsstaat gestanden, sagt der Sprecher. Dafür wollten sie auch nach dem Prozess weiter kämpfen. „Für eine Demokratie ohne Hass, Ausgrenzung und Gewalt“.