Ungleiche Lastenverteilung in der Krise: Der blanke Hohn

Viele Arbeitnehmer*innen müssen an ihrem Arbeitsplatz exponiert und ungeschützt arbeiten, sollen privat aber schön Abstand halten. Das ist absurd.

Ein Edeka-Mitarbeiter bedient einen Kunden.

Nix mit Schutz: Ein Edeka-Mitarbeiter bedient am 24. März in Stuttgart einen Kunden Foto: dpa

Ich bin zurück in der Lieblingsstadt, dem deutschen­ Corona-Hotspot. Mein häuslicher Arbeitsplatz ist noch derselbe, ich kann arbeiten, ich verdiene kaum Geld, alles wie immer, und wenn es mich nach frischer Luft und Bewegung dürstet, ziehe ich meine Laufschuhe an.

Ich verfolge den Podcast des Virologen Drosten und die Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen. Und ich bin wirklich sehr wütend. „Die Beamten werden mit voller Einsatzstärke im Land präsent sein und dafür sorgen, dass Menschen sich wirklich trennen“, sagt der niedersächsische Ministerpräsident Weil im NDR. Bei bewussten Verstößen werde die Polizei jedoch auch Geldstrafen verhängen, droht der Hamburger Innensenator Andy Grote.

Drastische Maßnahmen. Zu Hause bleiben soll man, höchstens zu zweit noch herumlaufen, seine Kontakte reduzieren. Weit ins Private hinein stößt der Staat derzeit vor, beschneidet Rechte der Bürger. Das ist soweit in Ordnung, da es darum geht, Menschen zu retten. Das ist soweit in Ordnung, dass es eine vorübergehende Maßnahmen ist. Das ist nicht in Ordnung, wo es Menschen wie ein Hohn vorkommen muss, die in ein Großraumbüro gehen oder ungeschützt an Kassen arbeiten müssen.

Wo sind die verbindlichen Regelungen für die Firmen, wo wird ihnen vorgeschrieben, wie sie ihre Mitarbeiter und die Welt vor ihren Mitarbeitern zu schützen hat? Warum wird im privaten Bereich reguliert, im geschäftlichen aber alles den Arbeitgebern überlassen? Genau denselben Arbeitgebern, die es bisher nicht geschert hat, dass ihre prekär Beschäftigten in einer Stadt wie Hamburg kaum ihre Miete zahlen­ können? Warum erwartet man, dass Arbeitgeber sich plötzlich fürsorglich verhalten? Sie tun es übrigens nicht.

Fatalismus im Blick

Ich war gestern einkaufen und musste feststellen, dass ein Ein-Meter-fünfzig-Abstand zur Kassiererin nicht möglich ist, weil allein das EC-Gerät viel zu dicht in der Nähe ihres Arbeitsplatzes angeschraubt ist. Sie lächelte mich an, Fatalismus im Blick, keine Handschuhe, kein Mundschutz, natürlich, Fatalismus. Wie sollte sie sich nicht anstecken? Irgendwann muss es halt doch sein. Das macht mich wütend. Will man dieser Kassiererin ernsthaft mit der Polizei­ kommen, wenn sie am Feierabend mit ihren beiden Kolleginnen nach Hause geht?

Und das ist noch nicht alles, was mich wütend macht. Buchläden, die es ohnehin seit Amazon schwer haben, mussten ihre Geschäfte schließen. Die Bücherhallen sind zu, Plattenläden. Kulturell werden Krisen nicht nur aufgearbeitet, sie werden auch kulturell verdaut, Kultur ist lebenswichtig. Selbst in Konzentrationslagern gab es vereinzelt kleine Orchester und Theatervorführungen, weil das den Menschen Hoffnung gab. In Italien gibt es Hinterhofkonzerte, es macht den Menschen Mut, es erhebt sie aus dem Elend, aus der Verzweiflung.

Wenn Buchläden dennoch geschlossen bleiben müssen, warum dürfen dann Weinläden offen bleiben? Einige Weinläden haben jetzt schon die Osteraktion vorgezogen, und der Laden­ brummt, wie ich mir habe sagen lassen.­ Ist Alkohol systemrelevant oder ist Alkohol vielleicht eine Droge, die das Gesundheits­system Milliarden kostet? Werden wir nach dieser­ Krise einen ganzen Haufen mehr Alkohol­kranker haben? Wird die Polizei auch an den Arbeitsplätzen kontrollieren? Wird es überhaupt Vorschriften für Firmen geben?

Ich bin wütend über die ungerechte Verteilung der Verantwortung, mit der größten Last auf den Schultern der Schwachen, der Pfleger*innen, der Kassierer*innen, der Arbeitnehmer*innen. Man kann von niemandem verlangen, sich privat nach Regeln zu verhalten, die er beruflich alle zu missachten gezwungen wird, weil sein Chef (seine Firma, sein Konzern) sich nicht kümmert, weil sein Chef (seine Firma, sein Konzern) in erster Linie Geld verdienen muss, weil das das System ist. Wenn man das System teilweise außer Kraft setzt und teilweise weiterlaufen lässt, dann leben wir schizophren, ein Leben, das auf Solidarität beruht, und ein Leben, das auf Wettbewerb beruht. Das ist absurd und sehr ungerecht.

Katrin Seddig reagiert auf die Kritik in den unten stehenden Kommentaren in ihrer neuen Kolumne.

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ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

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