Umgang mit Klimaprotesten: Politik der Doppelmoral
Lkw-Blockaden? Kein Problem! Klimablockierer? Härte des Rechtsstaats! Warum manche Formen zivilen Ungehorsams Politiker besonders provozieren.
A nfang 1984 kam es in Deutschland zu Straßenblockaden, die alle Aktionen der heutigen Klimaaktivisten in den Schatten stellen. Lkw-Fahrer blockierten über Tage die Inntal-Autobahn, um gegen die langsame Abfertigung am Zoll zu protestieren.
Angesichts der heftigen Reaktionen auf die Straßenblockaden der Klimaaktivisten der Letzten Generation könnte man vermuten, dass besonders die als Garanten des Rechtsstaats auftretenden Politiker von CDU und CSU seinerzeit die protestierenden Kraftfahrer als „kriminelle Straftäter“ beschimpft und Forderungen an die Justizminister aufgestellt hätten, die Verbrecher auf acht Rädern „einfach wegzusperren“. Man könnte auch annehmen, dass Blockierer in konsequenter Anwendung des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes in Präventivhaft genommen wurden.
Das Gegenteil war der Fall. Die Polizei ließ die Lkw-Blockaden auf den Straßen stehen und notierte nicht einmal die Autokennzeichen der Fahrzeuge. Bayrische Politiker setzten keine Hundertschaften der Polizei in Marsch, um die Straßen zu räumen, im Gegenteil: Minister, Staatssekretäre und Abgeordnete der CSU pilgerten zu den Blockierern, um ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Der damalige bayrische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß warf sich sogar in Trucker-Kluft, um seine „volle Unterstützung“ mit den Protestierenden zu zeigen.
Aus juristischer Perspektive müsste man davon ausgehen, dass Politiker auf Straßenblockaden stets gleich reagieren, unabhängig vom Inhalt der Proteste. Denn anders als bei angemeldeten Kundgebungen, bei denen die kurzzeitige Behinderung des Verkehrsflusses durch das Demonstrationsrecht gedeckt ist, handelt es sich bei Straßenblockaden eindeutig um eine illegale Protestform.
Es gelten unterschiedliche Standards
Man müsste deswegen erwarten, dass die sich zu den Prinzipien des Rechtsstaat bekennenden Politiker zwar ein mehr oder minder ausgeprägtes Verständnis für die Anliegen der Protestierenden äußern, aber die Proteste doch aufgrund ihrer Illegalität konsequent verurteilen. Aber scheinbar existieren für Lkw-Fahrer, die über Tage Autobahnen versperren, und Klimaaktivisten, die für einige Stunden eine Straße blockieren, unterschiedliche Standards. Wie ist das zu erklären?
ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und forscht über politische und religiöse Bewegungen. Vor Kurzem erschien von ihm „Der ganz formale Wahnsinn. 111 Einsichten in die Welt der Organisationen“ (Vahlen).
Die einfachste Antwort ist, dass das Bekenntnis zu rechtsstaatlichen Prinzipien stark von den politischen Positionen der jeweiligen Parteien abhängt. Parteien mit Nähe zur Autolobby zeigen größere Toleranz für Gesetzesverstöße, wenn durch Blockaden das Prinzip der freien Fahrt für freie Bürger durchgesetzt werden soll, reagieren aber allergisch, wenn sich die Proteste gegen ihre autofreundliche Verkehrspolitik richten.
Parteien, die zum Schutz des Klimas den Autoverkehr in den Städten einschränken wollen, sympathisieren mit Aktionen der blockierenden Klimaaktivisten, würden aber auf konsequenter Durchsetzung des Rechts bestehen, wenn Autofahrer als Protest gegen ein Tempolimit kollektiv mit 100 km/h durch die Stadt heizen würden. Diese Erklärung mit unterschiedlichen Parteipräferenzen ist sicher nicht falsch, kann die Heftigkeit der Reaktionen auf die Proteste der Klimaaktivisten aber nicht erklären.
Der inszenierte Kontrast provoziert
Unabhängig von den konkreten politischen Forderungen scheinen sich Politiker durch den Anspruch einer moralischen Überlegenheit der Klimaaktivisten provoziert zu fühlen. Bewegungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie für allgemein akzeptierte Werte wie Menschenrechte, Weltfrieden oder Klimaschutz einstehen, aber dabei suggerieren, dass diese nur mit den von ihnen geforderten einschneidenden Maßnahmen erreicht werden können. Die Moralisierung der Werte führt dazu, dass diejenigen, die den weitgehenden Maßnahmen nicht zustimmen wollen, die geballte Missachtung der Bewegung gezeigt bekommen.
Deswegen provoziert gerade der inszenierte Kontrast zwischen dem hehren Wert der Menschheitsrettung der Protestierenden und den an unbeschränkter individueller Mobilität orientierten Bedürfnissen der blockierten Autofahrer und der visuell eindrucksvolle Gegensatz zwischen den bewusst friedlichen Blockierern und aufgebrachten Autofahrern.
Wir wissen von den Protesten gegen die britische Kolonialpolitik oder gegen die Apartheidpolitik in Südafrika, dass nicht der Einsatz von Gewaltmitteln durch Protestierende, sondern gerade der Gegensatz zwischen gewaltfreien Protesten und einer zum Einsatz staatlicher Gewalt bereiten Politik die heftigsten Reaktionen bei Politikern hervorrufen. Schlimmer als der Einsatz von Gewalt bei Protestaktionen scheint für Politiker die Symbolisierung einer moralischen Überlegenheit der Protestierenden durch illegale, aber inszeniert friedliche Proteste.
Aufmerksamkeit ist für erfolgreichen Protest notwendig
Gerade die konsequente Gewaltlosigkeit, die Inkaufnahme erheblicher persönlicher Konsequenzen und die selbstverständliche Akzeptanz der Bestrafung scheint paradoxerweise Politiker dazu zu verführen, die Protestierenden mit Terroristen zu vergleichen. Wenn es um die Abkühlung des Gemüts der adressierten Politiker ginge, müssten die Klimaaktivisten bei ihren nächsten Straßenblockaden nicht die Rettung der Menschheit in Anspruch nehmen, sondern lediglich auf ihren ganz individuellen Überlebensdrang verweisen.
Statt sich unter hohem persönlichen Risiko an die Straßen zu kleben, müssten sie diese mit 36-Tonnern blockieren und würden dadurch nicht durch inszenierte Schwäche provozieren. Die Reaktionen von Politikern auf Straßenblockaden von Landwirten wegen zu geringen staatlichen Subventionen oder von Autofahrern wegen gestiegenen Benzinpreisen zeigen, dass diese deutlich milder reagieren, weil sie sich davon moralisch nicht unter Druck gesetzt fühlen. Aber um diese Abkühlung geht es den Protestierenden nicht.
Die Erregung der Politiker angesichts der Illegalität der Protestaktionen ist für jede Bewegung notwendiger Teil zur Aufmerksamkeitsproduktion für ihr Anliegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl