Turboindividualismus in der Coronakrise: Der Zynismus des Pöbels
Leute, die nichts mehr zu verlieren haben, setzen die Maske ab, sind auf eine gesellschaftszerstörerische Art frei. Was tun?
D en Kern des Aufstands gegen die liberalen Demokratien bilden rechtspopulistische oder rechtsradikale Strategen, die sie gezielt zerstören wollen und andere dafür instrumentalisieren. Darum scharen sich gebildete Karriere-Interessierte, für die es anderswo nicht gereicht hat und die nun bei Trump, Orbán, PiS oder AfD etwas werden und sein können. Hauptagitationsgruppe sind Leute, die sozial und kulturell abgestiegen sind oder ihren Abstieg fürchten, weil die liberale Demokratie es aus ihrer Sicht nur für andere, aber nicht für sie bringt.
Ein bisher meist ignorierter Typus oder Aspekt sind Leute, denen es um gar nichts mehr geht, was sie auf eine destruktive Art frei macht, die sie nun ausleben. Darum geht es mir im Folgenden.
Anfang der 1980er erschien Peter Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft“, die man auf den Typus des gebildeten Menschen anwenden kann, der ein hohes Bewusstsein dafür artikuliert, was alles schiefläuft im Kapitalismus; aber das ist es dann auch. Zynismus von oben. Man profitierte in vielerlei Hinsicht vom „Schweinesystem“, wie früher ja manche Linke die liberale Demokratie nannten – und wollte sich mit aufgeklärter Kritik an den „Verhältnissen“ zusätzlich nobilitieren.
Nicht mehr ignoriert werden
Der neue Zynismus kommt von Trumps, aber auch von unten. Er kommt von Leuten, deren Freiheit im Sinne von Kris Kristoffersons „Me And Bobby McGee“ darin besteht, nichts mehr zu verlieren zu haben beziehungsweise das anzunehmen. Sie haben jegliche Hoffnung aufgegeben, dass für sie in der liberalen Demokratie noch etwas drin ist. Bei den gefährlichen Strategen und den Gewalt- und Umsturzbereiten ist das anders, aber wenn dieser Typus Richtung Reichstag, Kapitol oder sonst wohin mitläuft, dann geht es für ihn nicht um alles. Sondern um nichts.
Es geht darum, auf die Kacke zu hauen, damit die anderen einen nicht mehr ignorieren können, sondern sehen müssen. Sie können sich nur noch in der Negation spüren. Das steckt auch hinter der Behauptung von Abermillionen, Bidens Präsidentschaft beruhe auf Wahlbetrug. Es ist ein trotziges Nein zur Realität, die auf die Realität der anderen reduziert wird.
„Zynismus des Pöbels“, nennt Sloterdijk das in einem hellseherischen Aufsatz von 2018, wobei Pöbeltum nach Hegel aus Armut und dem Gefühl der Rechtlosigkeit entsteht und für Kant aus dem Wegfall gesellschaftlicher Bindungen.
Beide Seiten lassen die Masken fallen
Im Turboindividualismus geht es heute vor allem auch um Anerkennung durch die Gesellschaft. Deren Fehlen wird nun durch möglichst heftige Ablehnung kompensiert, was eine negative, aber starke Form von Anerkennung ist. Wie sonst auch im menschlichen Leben, besteht die Erklärung für das eigene Verhalten darin, dass der andere angefangen habe (Politik, Establishment, Linksliberale und sonstige Feindbilder).
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Sloterdijk hat das als wechselseitige Aufkündigung eines „Illusionspakts“ beschrieben. Die Oberen machten sich nicht mehr die Mühe, wenigstens so zu tun, als gäbe es ein Gemeinwohl. Und die unten tun dann auch nicht mehr so, als glaubten sie daran.
Beide Seiten ließen die Masken fallen, schreibt er. Was insofern ein interessantes Bild ist, da sich ja pöbelnde Kritiker der Coronapolitik auch weigern, Masken aufzusetzen. Das ist angesichts der Pandemie gesundheitspolitisch fatal und unsolidarisch, passt aber in diese Logik der „Selbstdemaskierung“, nach der man sichtbar machen will, dass für einen selbst alles egal geworden ist und man den anderen aber auch gar nichts mehr schuldet.
Mit Aufklärung, Moral und Gemeinwohl braucht man dem Typus der zynischen Unvernunft nicht zu kommen, denn dagegen richtet sich ja die aus seiner Sicht aufklärerische Revolte. Er denkt, was er tut, ist in seiner Lage das einzig Vernünftige. Was also tun?
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