Toxische Männlichkeit und Migration: Orientalische Luftschlösser
Das Problem mit toxischer Männlichkeit wird gern auf Migranten abgewälzt. Dabei ist es ein umfassendes, das nur mit Feminismus zu lösen ist.
N ach der Silvesternacht die Empörung. Deutschland gerät mal wieder aus den Fugen, und die Verantwortlichen sind schnell ausgemacht. Die Debatten über junge Männer aus der vermeintlichen Parallelgesellschaft, die aus der Bildungsferne ins Leben blicken, sind schon immer mühselig gewesen. Auch jetzt wieder. Wenn Friedrich Merz von „kleinen Paschas“ redet, die sich in den Schulen nicht im Griff hätten, Jens Spahn von „kulturell vermittelter toxischer Männlichkeit“ spricht, dann ist eine Intervention notwendig: für eine antirassistische und feministische Neuausrichtung von Männlichkeitsperformance.
Denn die Debatten verlieren sich in der unermüdlichen Wiederholung bekannter Vorwürfe, weißer Ignoranz und bewusstem Desinteresse von Politiker*innen an Lebensrealitäten marginalisierter Menschen in Deutschland. Das Credo der Mehrheitsgesellschaft: Manche Männlichkeiten sind einfach nicht dazu gemacht, sich zu verändern.
Nicht in der Lage, sich aus ihrer vermeintlich festgefahrenen, antifeministischen Kultur und Religion zu befreien, die ihnen ultimative toxische Männlichkeit vorlebt. Die Debatten nach den Silvesternächten in Berlin oder Köln sind mittlerweile verankerte Politik. Racial Profiling, Rufe nach Law and Order und auch die rassistischen Morde von Hanau zeigen das nur zu deutlich.
So groß das Problem ist, so einfach scheint die Lösung: Toxische Männlichkeit wird in alter deutscher Tradition auf Migrant*innen abgewälzt. Wer so denkt, hat nichts kapiert. Toxische Männlichkeit kann nicht durch Recht und Ordnung „gelöst“ werden, es braucht zunächst ein Eingeständnis: Das Patriarchat betrifft auch Männer, und durch sie viele andere Menschen in ihrem Umfeld, die Gewalt erfahren. Mich macht es müde und wütend, dass das noch immer nicht überall angekommen ist.
Toxische Männlichkeit als gesamtgesellschaftliches Problem
Wer Männlichkeit verändern will, muss das als gesamtgesellschaftliches Problem begreifen. Männlichkeitsvorstellungen ändern sich ständig – oft auch zum Guten: Immer mehr Männer sprechen öffentlich über die Auswirkungen von Männlichkeit auf ihre Gesundheit und ihr Umfeld, wie der Fußballer Timo Baumgartl nach seiner Hodenkrebserkrankung. Selbst Bundeskanzler Scholz spricht von sich als Feminist. Vielen Männern scheinen auch durch #aufschrei und #MeToo zumindest ein wenig die Augen geöffnet worden zu sein.
Vieles bewegt sich aber auch in eine Richtung, die eigentlich der Vergangenheit angehören sollte. Im März 2022, kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, sprach Tobias Haberl in einem Spiegel-Artikel davon, dass „Pesto nicht vor Pistolen“ schütze. In den Medien wurden plötzlich Stimmen lauter, man müsse die Wehrpflicht wieder aufleben lassen, denn die Verweichlichung würde nicht nur den Männern schaden, im Zweifel auch Deutschland und Europa.
Das klingt nach Björn Höckes „Männlichkeit wiederentdecken“, nur in bürgerlich. Misogyne Figuren wie der Influencer Andrew Tate und der Psychologe Jordan Peterson erhalten online viel Zuspruch. Davon profitiert die AfD, die Hort vieler „Männerrechtler“ ist. Und selbst Rapper wie Kollegah gaben „Alpha-Mentoring“-Coachings für verunsicherte Männer.
Jeder dritte Mann hier hat ein sexistisches Weltbild
Die Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus-Studien 2022 unterstreichen diese Entwicklung. Jeder dritte Mann in Deutschland hat ein geschlossenes, antifeministisches und sexistisches Weltbild. Kaum Aufregung darüber, im Gegenteil: Einfache Antworten für komplexe Sachverhalte zu finden, ist bequem, denn das heißt: An Männlichkeit muss sich nichts ändern, nur die Männlichkeit nichtweißer Männer ist ein Problem.
Deutschland spricht in kolonialrassistischer Kontinuität oft und gern von Menschen wie mir und dem „Orient“ – als sei er ein Familienmitglied, mit dem ich jeden Tag telefoniere, um zu beraten, wie ich heute Deutschland auf den Sack gehen könnte. Der Orientalismus ist ein Luftschloss, auf das eine weiße Mehrheitsgesellschaft gerne blickt, wenn sie erklären will, warum ich, durch Religion und Kultur gefangen, hinter deren Mauern zu stecken scheine. Männlichkeiten sind auch immer Ergebnis sozialer Bedingungen, aber das scheint wenig zu interessieren. Unsere Männlichkeiten sind lediglich Probleme, die es zu beseitigen gilt.
Als ich zu Männlichkeiten zu schreiben begann, lag für mich der unmögliche Versuch darin, mich als cis-hetero-türkisch-muslimischer Mann zu begreifen, der trotz und wegen Deutschland zu einer Männlichkeit gedrängt und geformt wurde, die viel Spaß daran hatte, sie zu performen, sie bisweilen zu lieben und Sicherheit darin zu finden. Damit meine ich nicht nur Fußball spielen oder zum 16. Geburtstag Shisha rauchen, sondern die Selbstverständlichkeit zu entwickeln, permanent Grenzen zu überschreiten.
Kampf gegen Rassismus ist auch ein feministischer Kampf
Wir brauchen keine neue Männlichkeit, bitte nicht, aber zumindest eine, die in den Spiegel schaut und merkt: Wir stehen vor einem Problem und müssen uns als Gesellschaft verändern. Das heißt aber auch zu realisieren, dass mit Rassismus noch nie feministische Utopien gelungen sind.
ist Autor und schreibt über Männlichkeiten und Orientalismus. Sein Debüt „Im Morgen wächst ein Birnbaum“ erscheint im April im btb Verlag.
Alle Männer, und besonders „migrantische“, müssen verstehen, dass intersektionaler Feminismus auch für sie ein Ausweg sein kann. Weniger Druck verspüren, ständig hart sein zu müssen, weniger gewalttätig zu sein, mehr Zärtlichkeit in sich und mit anderen finden. Gleichzeitig gehört der Kampf gegen Rassismus eben auch dazu und auch, Teil feministischer Kämpfe zu werden.
Unsere Männlichkeiten werden politisiert, das heißt, wir müssen erst recht politisch werden – für eine feministische Zeitenwende, für die Gesellschaft und uns selbst. Gegen Luftschlösser, für eine postmigrantische, feministische Zukunft, die Männlichkeit in die Pflicht nimmt. Denn wir alle haben ein Problem mit dieser Gesellschaft, verändern können wir sie aber nur gemeinsam.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Desaströse Lage in der Ukraine
Kyjiws Wunschzettel bleibt im dritten Kriegswinter unerfüllt
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt