Tag der Deutschen Einheit: Akutmaßnahmen reichen nicht

Bis heute liegt eine große Distanz zwischen Ost- und Westdeutschland. Nötig wäre ein anderer, wertschätzender Blick auf den Osten.

Politiker, unter anderem Olaf Scholz, sitzen in einer Kirche bei einem Ökumenischen Gottesdienst

Alle Jahre wieder: Politprominenz am 3. Oktober, diesmal im Erfurter Dom Foto: Martin Schutt / dpa

Diese Ossis mal wieder – zu doof zur Demokratie. Der aktuelle Bericht des Ostbeauftragten Carsten Schneider scheint alle Voruteile über „den Osten“ zu bestätigen: Die Distanz zum demokratischen System wächst gerade hier; nur noch 39 Prozent der Ostdeutschen sind mit der Demokratie, wie sie in Deutschland funktioniert, zufrieden. Im Westen sind es immerhin noch knapp 60 Prozent. Der Anteil derer, die die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen als „verdrossene Populisten“ charakterisieren, ist im Osten mit über einem Drittel doppelt so hoch wie im Westen.

Und das spiegelt sich ja auch in den Umfragewerten der AfD wider, die in zwei Bundesländern derzeit den meisten Zuspruch hat und in einem gleichauf mit der Regierungspartei liegt. Aber das ist nur die eine Seite. Öffentlich weniger thematisiert wird die Distanz des Westens zum Osten. Das zeigt sich im Kleinen – so war jeder fünfte Westdeutsche noch nie im Osten, umgekehrt waren nur 7 Prozent der Ostdeutschen noch nie im Westen.

Das zeigt sich aber auch im Großen: Kein einziges Dax-Unternehmen hat seinen Sitz im Osten, hier werden nach wie vor niedrigere Löhne gezahlt, die Menschen haben weniger Rücklagen und kaum Vermögen, und der politische Wille zum Ausgleich hält sich in Grenzen. Eine Erbschaftssteuerreform oder eine Vermögenssteuer sind nicht in Sicht.

Diese Distanz gegenüber dem Osten hat historische Gründe, sie hat viel mit dem Prozess der Wiedervereinigung zu tun, die ein Beitritt ohne Augenhöhe war. Sie hat aber auch mit einem bis heute anhaltende Desinteresse quer durch die Bevölkerung und die großen politischen Parteien für den Osten zu tun. Was interessiere ihn Thüringen mit seinen 2 Millionen Einwohnern, sagte einmal der Ministerpräsident eines bevölkerungsreichen Westbundeslandes. Kein Wunder, dass sich Menschen im Osten mehrheitlich als Menschen zweiter Klasse behandelt fühlen.

Gegen Russland-Sanktionen

Die schwelende Unzufriedenheit im Osten wird vor allem dann wahrgenommen, wenn sie auflodert und gefährlich zu werden droht. Wenn die AfD Wahlerfolge verzeichnet oder, wie aktuell, auf der Welle der sinkenden Zustimmung zur Politik der Bundesregierung gegenüber Russland reitet. Nur noch eine Minderheit der Ostdeutschen unterstützt die Sanktionen.

Es ist wichtig, gerade für die Stimmung im Osten, dass die Bundesregierung nun einen Schutzschirm aufspannt, um die Energiepreise abzufedern. Reiner Haseloff, der CDU-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, mahnte vergangene Woche sogar, dass er ohne einen schnellen Energiepreisdeckel die Existenz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bedroht sehe. Das sind deutliche Warnungen.

Aber Akutmaßnahmen reichen nicht aus. Notwendig ist auch ein anderer, wertschätzender Blick auf Ostdeutschland und damit eine andere Politik für den Osten. Der Bericht des Ostbeauftragten setzt da übrigens neue Maßstäbe. Im ersten Teil, auf gut 80 der 150 Seiten, lässt er Menschen aus dem Osten zu Wort kommen, die nicht larmoyant, sondern selbstbewusst, stolz, kritisch und voller Hoffnung auf diesen Teil Deutschlands blicken.

Es lohnt sich, beim Lesen damit anzufangen.

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Schwerpunkte SPD und Kanzleramt sowie Innenpolitik und Bildung. Leitete bis Februar 2022 gemeinschaftlich das Inlandsressort der taz und kümmerte sich um die Linkspartei. "Zur Elite bitte hier entlang: Kaderschmieden und Eliteschulen von heute" erschien 2016.

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