Suizide bei Tierärzt*innen: Hilflose Helfende
Kaum ein anderer Beruf wird so romantisiert wie der der Tierärzt*in. Dabei ist es der Job mit dem höchsten Suizidrisiko. Warum?
Einen Vogel mit gebrochenem Flügel verarzten, bei der Geburt von Kälbchen helfen und täglich zig Hunde und Katzen streicheln – so vielleicht stellen sich Kinder den Alltag von Tierärzt*innen vor. Auch unter Erwachsenen ist die Annahme verbreitet, Veterinär*innen führten ein erfülltes, glückliches Berufsleben, schließlich verbringen sie den ganzen Tag mit Tieren und tun nebenbei noch etwas Gutes. Die Realität aber ist: In keinem Beruf ist das Suizidrisiko so hoch wie in diesem.
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Internationale Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Veterinärmediziner*innen ein doppelt so hohes Suizidrisiko wie Ärzt*innen haben und ein viermal so hohes wie die Allgemeinbevölkerung. Forscherinnen der FU Berlin und der Universität Leipzig, die nun erstmals das Risiko für Depressionen und Suizid bei Tiermediziner*innen in Deutschland untersucht haben, gehen sogar von einem sechsfach erhöhten Suizidrisiko aus.
Warum ist das so? Und wieso ist darüber in Deutschland so wenig bekannt? Zu Besuch bei Diplompsychologin und Psychotherapeutin Heide Glaesmer in ihrem Büro der Universität Leipzig. Sie ist Mitautorin der 2020 im Fachmagazin Veterinary Record veröffentlichen Studie zum Suizidrisiko bei Veterinärmediziner*innen in Deutschland. „Dass sich die Wissenschaft hierzulande bislang nicht mit der Suizidalität unter Tierärzt*innen beschäftigt hat, hat einen Grund“, sagt Glaesmer. „Anders als in anderen Ländern wird der Beruf der Verstorbenen in der Suizidstatistik in Deutschland nicht erfasst. Daher ist es sehr aufwendig, das Suizidrisiko von Berufsgruppen zu erforschen.“
Da Glaesmer und ihre Kolleginnen die Suizidrate von Tierärzt*innen nicht einfach beim Statistischen Bundesamt nachschauen konnten, haben sie eine Befragung unter 3.118 Veterinärmediziner*innen im Alter von 22 bis 65 Jahren durchgeführt, wovon 79,5 Prozent Frauen waren. Zum Vergleich: Der Frauenanteil unter den knapp 43.500 Tierärzt*innen in Deutschland liegt bei rund 63 Prozent.
19 Prozent hatten Suizidgedanken
Die Teilnehmer*innen mussten unter anderem angeben, wie oft sie sich in den vergangenen zwei Wochen niedergeschlagen gefühlt haben, wie oft sie gedacht haben, dass sie lieber tot wären, wie wahrscheinlich es ist, dass sie irgendwann durch Suizid sterben oder ob sie schon mal versucht haben, sich umzubringen. Das Ergebnis: Knapp 28 Prozent der Befragten wiesen Depressionssymptome auf, 19 Prozent hatten aktuelle Suizidgedanken und 32 Prozent ein erhöhtes Suizidrisiko. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung haben Veterinärmediziner*innen damit ein dreimal so hohes Risiko, an Depressionen zu erkranken und ein sechsmal so hohes Risiko, sich das Leben zu nehmen.
Auf die Frage, warum Veterinärmediziner*innen so gefährdet sind, antwortet die Therapeutin: „Tierärzt*innen sind erst mal Menschen wie alle anderen auch, alle allgemeinen Risikofaktoren für Suizid gelten also auch für diese Berufsgruppe.“ Dazu zählten etwa psychische Erkrankungen, das männliche Geschlecht, soziale Isolation oder Krisen wie das Ende einer Partnerschaft oder der Verlust des Jobs.
Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/1 11 01 11 oder 08 00/1 11 02 22) oder www.telefonseelsorge.de besuchen. Dort gibt es auch die Möglichkeit, mit Seelsorger*innen zu chatten.
Risikofaktor Erschöpfung
Zusätzlich dazu gebe es Risikofaktoren, die speziell für Human- und für Tiermediziner*innen gälten und in der Forschung immer wieder diskutiert würden: beruflicher Stress, lange Arbeitszeiten, Nacht- und Wochenenddienste und damit wenig Freizeit. „Viele der Befragten gaben an, oft müde und emotional erschöpft zu sein, kaum Zeit für Privatleben zu haben und sich wenig wertgeschätzt zu fühlen“, sagt Glaesmer. Arbeitsbelastung und Belohnung lägen in einem Ungleichgewicht.
Darüber hinaus hätten Human- und Tiermediziner*innen Zugang zu tödlichen Medikamenten und wüssten, wie sie welches Mittel dosieren müssen, um zu sterben. „Mediziner*innen sterben überzufällig häufig an einer Medikamentenvergiftung, das belegen internationale Studien“, sagt Glaesmer.
Warum aber ist das Suizidrisiko bei Tiermediziner*innen noch mal deutlich höher als bei Humanmediziner*innen? „Eine Erklärung könnte sein, dass Veterinärmediziner*innen häufig kranke oder verletzte Tiere einschläfern müssen, sie werden also viel öfter mit dem Tod konfrontiert.“ Ein Viertel der Studienteilnehmer*innen gab an, das Einschläfern stelle eine „substanzielle Belastung“ für sie dar. „Dass sie durch das häufige Einschläfern emotional abstumpfen und daher die Furcht vor dem eigenen Tod verlieren, konnten wir aber nicht belegen, obwohl das eine Hypothese ist, die in diesem Zusammenhang diskutiert wird“, sagt Glaesmer.
Ethischer Konflikt
Eine weitere mögliche Erklärung: „Veterinärmediziner*innen können manche Tiere nur deswegen nicht retten, weil den Besitzer*innen das Geld für die nötige Operation fehlt“, sagt Glaesmer. „Das tut nicht nur weh, sondern bringt Tierärzt*innen auch in einen ethischen Konflikt. Sie haben sich ja für den Beruf entschieden, weil sie Tieren helfen wollen.“ Während Behandlungen in der Humanmedizin von der Krankenkasse übernommen werden, zahlen Haustierbesitzer*innen meist aus eigener Tasche. Bei einer Umfrage der LMU München unter 405 Hunde- und Katzenbesitzer*innen in Deutschland gaben 16 Prozent an, ihr Tier krankenversichert zu haben.
Julia Arnoldi, 40, wurde schon oft von Tierhalter*innen angeschrien, weil die Behandlungskosten zu hoch seien. Sie arbeitet seit August als Tierärztin in Freiburg, vorher war sie mehr als zehn Jahre in der Kleintierklinik der FU Berlin tätig, erst als tiermedizinische Fachangestellte und später, während des Studiums, als Hilfskraft. Im Notdienst in Berlin hatte sie ständig Angst, auf wütende oder verständnislose Halter*innen zu treffen. „Uns wurde oft vorgeworfen, geldgierig zu sein und Tieren nicht helfen zu wollen – nur weil wir sie nicht umsonst operiert haben.“
Besitzer*innen können nicht zahlen
Ein Mann ist ihr besonders in Erinnerung geblieben. Sein Hund wurde vom Auto angefahren und war schwer verletzt, die Operation hätte 1.500 Euro gekostet – Geld, das der Besitzer nicht hatte. „Wir haben ihn gebeten, sich das Geld bei Freund*innen oder der Familie zu leihen“, sagt Arnoldi. „Er aber ist völlig ausgeflippt und hat der behandelnden Ärztin gedroht, ihr nach Feierabend aufzulauern, wenn sie seinen Hund nicht kostenlos operiere. Am Ende musste die Polizei kommen.“
Die 32 Jahre alte Tierärztin Melanie Schwarze, die zusammen mit einer Freundin eine Kleintierpraxis in Leipzig führt, berichtet Ähnliches: „Mir ging es schon oft emotional schlecht, weil mir Haustierbesitzer*innen vorgeworfen haben, zu hohe Preise zu haben oder schlechte Arbeit zu leisten.“
Kein Privatleben, kaum Freizeit
Bevor Schwarze sich 2019 selbstständig machte, war sie unter anderem als Assistenzärztin in einer Praxis für Groß- und Kleintiere auf dem Land tätig. Dort hatte sie oft eine Woche am Stück Bereitschaftsdienst – 24 Stunden am Tag. Weil Schwarze binnen 30 Minuten beim Tier sein musste, konnte sie nie wegfahren. Besuche bei Freund*innen in Leipzig waren damit unmöglich. „Bekam wiederum ich Besuch, musste ich oft mitten im Gespräch aufbrechen, weil zum Beispiel eine Kuh nach der Geburt nicht aufstehen konnte.“ Ein Privatleben hatte Schwarze so gut wie nicht. Für ihren Vollzeitjob bekam sie ein Monatsgehalt von knapp 2.800 Euro brutto. „Ich habe mich nicht anerkannt gefühlt“, sagt Schwarze. Heute verdient sie als selbstständige Tierärztin „deutlich mehr“ – und das, obwohl sie in Teilzeit arbeitet.
Anders als Amtstierärzt*innen, die zum Beispiel Schlachtbetriebe und Bauernhöfe kontrollieren, haben angestellte Tierärzt*innen keinen Tarifvertrag. Der Bund angestellter Tierärzte e.V. (BaT) möchte das ändern. Berufsanfänger*innen sollten dem BaT zufolge im ersten Halbjahr monatlich mindestens 3.500 Euro brutto bekommen. Zum Vergleich: Humanmediziner*innen verdienen laut Deutschem Ärzteverlag im ersten Assistenzarztjahr im Schnitt 4.700 Euro pro Monat. „Das Tiermedizinstudium ist genauso anspruchsvoll und anstrengend wie das Humanmedizinstudium. Es ist ungerecht, dass Tierärzt*innen weniger verdienen“, sagt Dr. Elisabeth Brandebusemeyer vom BaT.
Info-Website geplant
Um das Suizidrisiko bei Veterinärmediziner*innen zu minimieren, plant Heide Glaesmer mit zwei Kolleg*innen eine Webseite, auf der Tierärzt*innen erfahren, wie ein Ausgleich zwischen Job und Freizeit gelingen kann, woran man Depressionen erkennt, wie man mit Symptomen umgeht und wo man Hilfe bekommt. Während es in anderen Ländern Suizidpräventionsprogramme speziell für Tiermediziner*innen gibt, in den USA etwa „Not One More Vet“, fehlen solche Angebote in Deutschland bislang.
Neben einem höheren Gehalt und Präventionsprogrammen sei es wichtig, sagt Glaesmer, Veterinärmediziner*innen bereits im Studium auf die zum Teil emotional belastenden Situationen mit Tierhalter*innen vorzubereiten. Bisher gibt es nur Wahlpflicht-Kurse zu diesem Thema.
Verpflichtende Tierkrankenversicherung
Die Therapeutin schlägt verpflichtende Schulungen vor, in denen angehende Tiermediziner*innen an Schauspieler*innen üben, unerfreuliche Nachrichten zu überbringen, zu trösten oder über Operationskosten zu sprechen. „In der Ausbildung von Humanmediziner*innen ist das inzwischen Standard.“
Damit es gar nicht erst zu Auseinandersetzungen mit Tierbesitzer*innen kommt, wünschen sich die Tierärzt*innen Melanie Schwarze und Julia Arnoldi eine verpflichtende Tierkrankenversicherung. So müsste kein Tier Schmerzen aushalten oder sterben, nur weil sein*e Besitzer*in nicht genug Geld beiseite gelegt habe. Gleichzeitig hätten die Praxen dann mehr Einnahmen und könnten die Veterinärmediziner*innen besser bezahlen. Viel bedeutender als Geld, sagt Tierärztin Arnoldi, sei aber die Wertschätzung durch Tierhalter*innen. „Würden uns alle mit Respekt begegnen und sich häufiger bedanken, wäre schon viel gewonnen.“
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