Streit um „Wimmelwurm“-Muster: Da ist der Wurm drin
Die Berliner Verkehrsbetriebe wollen dem Designer des Musters ihrer Sitzpolster kein Geld bezahlen: Es sei zu hässlich, um Kunst zu sein.
Die BVG wusste das für sich zu nutzen: Unter „das-muster-kennen-wir.de“ verkaufte sie Brustbeutel, Seidenkrawatten, Regenschirme und andere Fanartikel mit dem bunten Aufdruck. Die frühere BVG-Chefin Sigrid Evelyn Nikutta trat öffentlich stets mit Wimmelwürmer-Halstuch auf. Und für einen limitierten Schuh mit „Urban Jungle“-Print, der gleichzeitig als BVG-Jahresabo diente, kampierten Berliner*innen 2018 sogar vor der Adidas-Filiale in Berlin-Mitte.
Doch mit diesem Rummel um die Wimmelwürmer ist jetzt Schluss: Der Designer des Musters, Herbert Lindinger, hat kürzlich vor dem Hamburger Landgericht erstritten, dass die BVG das Muster nicht mehr nutzen darf. Außerdem muss sie nachträglich Lizenzgebühren zahlen.
Beigelegt ist der Streit damit jedoch nicht. Die BVG hat Ende 2021 Berufung eingelegt. Vor dem Oberlandesgericht (OLG) in Hamburg geht der Streit jetzt in die zweite Runde.
Der Fall wirft Fragen auf: Warum macht die BVG jahrelang Werbung mit einem Design, das ihr scheinbar gar nicht gehört? Und wieso kann Lindinger nicht Gnade walten lassen, jetzt, da ihm Schadensersatz zusteht?
Keine Rechte mehr für Polster im Serienfahrzeugvertrag?
Um den Streit zu verstehen, hilft ein Blick in die Vergangenheit: Von 1984 bis 1994 betrieb die BVG auch die Berliner S-Bahn. Weil die von der Deutschen Reichsbahn übernommenen Züge überaltert waren, gab die BVG damals die Baureihe 480 in Auftrag. Die künstlerische Gestaltung der Züge übernahm der Industriedesigner Herbert Lindinger. Nach Angaben der Berliner Verkehrsbetriebe entwarf der damals vier Bahnmodelle – und sicherte sich die Rechte daran vertraglich, auch an den Sitzpolstern.
Diese Prototypen seien jedoch noch verändert worden: Die Serienfahrzeuge bekamen später nicht besonders schöne, dafür aber vandalismusresistente Polster im „Urban Jungle“-Print. Die Theorie: Je wilder das Muster und je schriller die Farben, desto unwahrscheinlicher, dass sich jemand darauf schmierend verewigt.
Bei der BVG meint man sich zu erinnern, dass Lindinger sich für die Polster im Serienfahrzeugvertrag keine Rechte mehr gesichert habe, so ihr Sprecher. Wäre dem so, würden den Verkehrsbetrieben die Rechte an dem Muster zustehen – zumindest für die Nutzung in anderen Fahrzeugen. 1994 ging die Berliner S-Bahn dann an die Deutsche Bahn – den „Urban Jungle“ nutzte die BVG weiterhin für Busse und Bahnen, später dann auch für ihr Merchandise.
Die Wimmelwürmer sind seitdem fester Bestandteil der Marketingstrategie der BVG, die mit ihrer selbstironischen Öffentlichkeitsarbeit zum wohl beliebtesten – und bekanntesten – Verkehrsbetrieb Deutschlands wurde. 2018 wandte sich Lindinger das erste Mal wegen fehlender Lizenzzahlungen an die BVG, 24 Jahre nach dem Eigentümerwechsel bei der Berliner S-Bahn. Laut seinem Anwalt Christian Donle will Lindinger vom Rummel um die Wimmelwürmer lange nichts mitbekommen haben, sowohl die Sitzpolster in den Berliner U-Bahnen als auch die vielen Werbemaßnahmen mit seinem Design seien an ihm vorbeigegangen. Schließlich lebe der mittlerweile 88-Jährige nicht in Berlin, sondern in Hamburg.
Hässlichkeit ist kein Argument
Die BVG stritt 2018 wie heute jeglichen Anspruch des Designers ab, deshalb reichte Lindinger Klage ein. Am 9. November urteilte das Landgericht Hamburg, dass „Urban Jungle“ als Werk der angewandten Kunst „urheberrechtlich geschützt“ sei. Damit widersprach es der BVG, die versucht hatte, das Urheberrecht durch vermeintlich fehlende ästhetische Ansprüche des Musters auszuhebeln: Die Wimmelwürmer seien schlicht nicht schön, daher könnten auch keine Nutzungsgebühren anfallen. Das Gericht sah das anders: Zwar sei die ästhetische Wirkung eine „möglicherweise künstlerisch umstrittene“. „Hässlichkeit“ sei aber „eine bloße Geschmacksfrage und daher kein Argument für oder gegen die Urheberrechtsfähigkeit“.
Die BVG darf seither das Muster nicht mehr verbreiten und muss alle Fan-Produkte vernichten, „das-muster-kennen-wir.de“ ist seit Mitte Dezember offline. Außerdem hat das Gericht das landeseigene Unternehmen verpflichtet, für den Zeitraum nach 2008 aufzulisten, wie viele Sitze mit „Urban Jungle“ bezogen waren, wie viele Fahrgäste darauf befördert wurden und wie viel Umsatz und Gewinn sie mit den Fan-Artikeln gemacht hat. Damit werde dann die Höhe der Schadensersatzsumme bestimmt, die die BVG an Lindinger zahlen muss.
Einen kleinen Sieg konnte die BVG dennoch einfahren: Zwar darf sie beschädigte Wimmelwürmer-Sitze nicht mehr ersetzen, alle bestehenden Polster dürfen jedoch bleiben. Müssten alle Sitze mit dem Muster ausgetauscht werden, würde das den Berliner Nahverkehr „ganz erheblich beeinträchtigen“, befand das Hamburger Landgericht. Das Interesse der BVG und der „gesamten Berliner Öffentlichkeit“ wiege in dieser Hinsicht schwerer. Lindinger hatte gefordert, dass die BVG zusätzlich zur Schadensersatzzahlung umgehend alle Sitze mit dem Print entferne.
„Wimmelwurm-Aus“ schon längst beschlossene Sache
In den kommenden Monaten geht der Rechtsstreit in die nächste Runde, weil beide Parteien Berufung eingelegt haben. Ein Termin für die Verhandlungen stehe allerdings noch nicht fest, so die Sprecherin des Gerichts.
Die BVG will ihre Absichten wegen des laufenden Verfahrens auf Anfrage nicht kommentieren. Um einen Einspruch gegen das Wimmelwurm-Aus wird es ihr jedoch vermutlich nicht gehen. Die BVG wollte das Muster ohnehin auslaufen lassen, das „Urban-Jungle“-Design habe sich „schlicht überlebt“. Bereits jetzt kriegen alle neuen Fahrzeuge Polster im sogenannten Nachtlinien-Print: ebenso wuselig, aber in Schwarz-Grau etwas schlichter. Der Verkehrsbetrieb will also vermutlich die Schadensersatzansprüche anfechten. Damit könnte die BVG Erfolg haben, wenn Lindinger sich die Rechte an „Urban Jungle“ damals tatsächlich nur im Prototypvertrag gesichert hat.
Wo der Vertrag abgeblieben ist, weiß bei der BVG jedoch niemand. In einer internen Nachricht habe sie nun ihre Mitarbeiter*innen gebeten, sie bei der Suche zu unterstützen, bestätigte der Sprecher der BVG.
Lindinger hingegen reichen die noch nicht errechneten Entschädigungszahlungen nicht. Der Schaden werde schließlich „nur in Teilen“ ersetzt, so sein Anwalt. Der Grafiker fordert weiterhin, dass die BVG alle Sitzbezüge mit seinem Design sofort entfernt. Daran, dass die BVG die Polster ohnehin ersetzen will, glaubt Lindingers Anwalt nicht. Er ist sich jedoch sicher, dass das Oberlandesgericht die Verhältnismäßigkeit anders einschätzt – das sage ihm seine juristische Erfahrung.
Bis das Oberlandesgericht in Hamburg entschieden hat, könnte es bis zu zwei Jahre dauern. Lindinger wäre dann 90 Jahre alt. Vielleicht hat die BVG bis dahin ohnehin alle Wimmelwürmer ausgetauscht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen