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Streit bei israelischer Zeitung „Haaretz“Herr Levy soll weg

Die älteste Zeitung Israels verliert Abonnenten. Der Zorn richtet sich vor allem gegen einen Journalisten – und seine Kommentare zum Gazakrieg.

Aufregerthema: Sind sich die Piloten der israelischen Luftwaffe der Folgen ihres Einsatzes bewusst? Bild: dpa

Amos Schocken wollte einen Dialog beginnen. Der Herausgeber der israelischen Tageszeitung Haaretz („Das Land“) lud am 14. September über 1.000 LeserInnen, die ihr Abonnement in den vergangenen Wochen gekündigt hatten, ins Tel Aviver Kunstmuseum ein. Die Berichterstattung der Zeitung über die jüngste Militäroperation der israelischen Armee im Gazastreifen hatte zu vielen Printabo-Kündigungen geführt. Etwa 200 ehemalige AbonnentInnen kamen. Doch was ein Forum des Dialogs werden sollte, musste nach wüsten Beschimpfungen vorzeitig abgebrochen werden.

„Von einem wirklichen Dialog konnte keine Rede sein“, sagte Schocken. Die Veranstaltung war seine Idee. Durch einen Austausch mit den Haaretz-Verantwortlichen sollten die Menschen überzeugt werden, wieder Abonnenten zu werden. Schließlich waren unter den Kündigenden viele, die die Zeitung seit über 50 Jahren abonniert hatten. Neben Schocken waren auch Chefredakteur Aluf Benn und einer der bekanntesten Kolumnisten, Gideon Levy, anwesend. Vor allem Levys Kommentare zum Vorgehen Israels im Gazastreifen sind der Grund für die vielen Abo-Kündigungen bei Haaretz.

„Das war sicher keine angenehme Erfahrung“, sagt Levy über den Abend im Museum. Besonders sein Kommentar zur Verantwortung israelischer Kampfpiloten im Gazakrieg hatte hitzige Diskussionen im Land ausgelöst. Darin bezweifelte er, dass die Piloten sich ihrer Taten bewusst seien, wenn sie aus Kampfjets auf Joysticks rumdrückten und nicht sähen, wie durch ihre Raketen Kinder ums Leben kommen.

„Wegen eines Kommentars kündigt man doch kein Abo bei einer Zeitung wie Haaretz. Sie ist die einzige Zeitung im Land, die diese Bezeichnung auch verdient“, sagt Levy. Den TeilnehmerInnen der Veranstaltung sei jedoch auf rationale Weise nicht beizukommen gewesen. Levy musste seit Erscheinen dieses Kommentars Mitte Juli bis zur Vereinbarung des Waffenstillstands Ende August auf Personenschutz zurückgreifen.

Die linksliberale Haaretz wurde 1919 im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina gegründet und erscheint seitdem bis zum heutigen Tag nahezu ohne Ausnahme täglich. 1937 erwarb der deutsche Zionist Salman Schocken die Zeitung, bis heute befindet sie sich mehrheitlich im Besitz seiner Familie. Mittlerweile erscheint Haaretz sowohl auf Hebräisch als auch auf Englisch, die englische Version zusammen mit der internationalen Ausgabe der New York Times. Schocken zufolge liegt die Auflage am Wochenende in Israel etwa bei 100.000 Exemplaren.

Wütend niedergeschrien

Es ist nicht das erste Mal, dass LeserInnen in Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen Haaretz den Rücken kehren. „Das war schon während des ersten Libanonkrieges 1982 so wie auch während der ersten und zweiten Intifada. In der Regel sind jedoch mindestens die Hälfte der Abonnenten zurückgekommen“, sagt Schocken.

Diesmal geht es den meisten Kritikern jedoch nicht um die inhaltliche Ausrichtung der Zeitung, sondern um eine Person. „Einige sagten, wenn Levy entlassen werde, kämen sie zurück, denn er bewege sich außerhalb des zionistischen Konsenses und schade der öffentlichen Sicherheit“, sagt Schocken. Als er bei der Veranstaltung im Museum auf die Vorwürfe antworten wollte und dafür einen Artikel von Levy aus dem Jahr 2008 zitierte, der dem umstrittenen Kommentar ähnelte, hätten Teile des Publikums ihn niedergeschrien, die Veranstaltung wurde daraufhin beendet.

Dabei hat der letzte Gazakrieg hinsichtlich der absoluten Abozahlen nicht nur Negatives gebracht. Schocken zufolge übersteige die Zahl der Neu-Abonnenten für die hebräische Digital-Ausgabe sogar die Zahl derjenigen, die ihr Print-Abo gekündigt hätten. Das Blatt hat als einzige israelische Zeitung 2012 ein Bezahlsystem für seinen Onlineauftritt eingerichtet. Für Schocken spiegelt der Wandel in der Leserschaft den Unterschied zwischen den Generationen wider: „Die älteren Israelis, die sich politisch links der Mitte einordnen, tun sich mit den kontroversen Argumenten von Haaretz schwerer als jüngere, links orientierte Israelis.“ Auch im Ausland sei die Zahl der Digital-Abonnenten zuletzt spürbar angestiegen.

Zur von Schocken angesprochenen älteren israelischen Generation gehören auch viele ehemalige Kampfpiloten, die in der militarisierten israelischen Gesellschaft hochgeachtet sind. Generell bietet die Armee für jüdische Israelis eine vielversprechende Karriereperspektive. Eine Laufbahn in der Politik ist ohne eine vorangegangene militärische Laufbahn nahezu undenkbar. Gideon Levy hat mit seinem Kommentar daher viele Israelis persönlich getroffen. „Es gibt keinen Piloten, der diesen Kommentar nicht gelesen hat“, sagt er.

Dabei habe ihm zufolge auch die Hysterie in sozialen Netzwerken eine entscheidende Rolle gespielt. „Überall stand, dass ich die Piloten als Mörder bezeichnet hätte. Das ist natürlich Quatsch.“ Für ihn sind die Ereignisse der letzten Wochen ein Symptom für die Entdemokratisierung des politischen Diskurses. „Das Land hat sich geändert. Ich habe während des Gazakrieges 2008 die gleichen Sachen geschrieben wie heute. Doch damals war noch ein einigermaßen rationaler Diskurs möglich.“

Unter finanziellem Druck

Die große Frage ist, welche Rolle eine links-liberale Traditionszeitung wie Haaretz in einer immer mehr nach rechts driftenden israelischen Gesellschaft einnehmen kann. Zwar scheint die Zeitung mit ihrem Bezahlsystem fürs Erste eine gute Antwort auf die Digitalisierung der Zeitungsbranche gefunden zu haben. Denn damit ermöglicht sie es sich unter anderem, die zweifellos vorhandene ideelle Unterstützung aus dem Ausland in finanzielle Unterstützung umzuwandeln.

Dennoch hat die Umstellung Haaretz auch herbe Verluste beschert: Die Digitalausgabe auf Englisch oder Hebräisch kostet 9 US-Dollar, das Print-Abo in Israel im Normalpreis monatlich umgerechnet knapp 77 Dollar. Auch niedrigere Anzeigenerlöse im letzten Quartal machen Haaretz zu schaffen – wohl auch aufgrund der Agenda der Zeitung im letzten Gazakrieg.

Vor zwei Jahren baute die Zeitung angesichts der Einbußen etwa 20 Prozent der Stellen ab, die restliche Redaktion musste deutliche Gehaltseinbußen hinnehmen. Hätte Herausgeber Schocken sich nicht regelmäßig zur zionistischen Grundausrichtung der Zeitung bekannt, wären die Einnahmen wahrscheinlich noch weiter geschrumpft. Doch der Enkel des deutschen Zionisten Salman Schocken versichert, dass die Zeitung ihre Rolle in Israel „auch hinsichtlich der Angriffe auf die Demokratie“ weiter ausfüllen werde. Denn Israel wäre nicht nur laut Gideon Levy „ohne Haaretz nicht mehr das gleiche Land“.

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22 Kommentare

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  • Haaretz (ich kann nur die engl. Version lesen) ist wirklich formidable.

     

    Bernd Lind - super Idee! Übrigens- welche Qualitätsmedien? Könnte die Taz das stemmen?

     

    Und warum nicht Gideon Levy selbst um einen Beitrag bitten? Und Gush Shalom nicht vergessen! Und wussten Sie, dass die Araber unter dem Antisemitismus sehr leiden? Siehe Gaza-Strip, DLF heute morgen, junge Männer riskieren lieber das Ertrinken auf der Überfahrt im Mittelmeer als im von Israel u Ägypten hermetisch abgeriegelten und von der blöden Hamas kontrollierten Sperrgebiet weiter zu vegetieren.

  • 9G
    90191 (Profil gelöscht)

    Tja. Faschisten gibt´s halt überall. Da mehr, dort weniger.

  • Herr Levy ist ein mutiger, wenn auch ein sehr pessimistischer Mann, was man ihm bei dem sich doch arg ziehenden "Konflikt" nachsehen muss. So lange es ihn noch bei der Haaretz gibt, ja noch die Haaretz selbst, besteht Hoffnung auf einen letztlich friedliche Ausgang des Konflikts u den Erhalt der israel. Demokratie. Hoffnung ist ja das, was auch dt LeserInnen immer so gern noch beim Blick auf Israel brauchen, selbst wenn sie angeblich nicht religiös sind. (Irgendetwas, denk ich manchmal muss dort sein, vllcht eine Störung des Erdmagnetfeldes im Tempelberg, dass all diesen Wahnsinn auslöst.)

  • שלום taz: Menetekel läßt grüßen?

  • Solche Zustände sind eigentlich sehr normal, wenn man sich im Krieg befindet.Diese ganze Kram mit Werten, Demokratie etc. ist dann einfach obsolet.

    Das mögen diejenigen, die hierzulande so gerne Krieg wollen, sich klar machen. Die tollen Werte und Krieg gehen nicht miteinander und deshalb auch nicht füreinander.

    • @Klaus Franz:

      Schön und gut. allerdings befinet sich Israel nicht im Krieg. Passt aber zum Rest ihres Beitrages.

      • @Kaboom:

        Israel bfindet sich im Krieg, seit es gegründet wurde.

      • @Kaboom:

        hat es sich aber noch bis vor wenigen Wochen. oder etwa nicht?

  • Für das, was Gideon Levy schreibt, wird man in deutschen "Qualitätsmedien" gesperrt und als Antisemit denunziert.

    Aber natürlich darf Israel kritisiert werden ...

  • "umgerechnet knapp 77 Dollar."

    Eurokurs gerade unbekannt ?

  • Gibt es den Artikel irgendwo in einer Übersetzung?

    • @Christian:

      Levys Artikel sind in der englischen Ausgabe lesbar: haaretz.com, mit kostenloser Registrierung kann man 10 Artikel kostenfrei lesen.

      • @ingrid werner:

        Danke!

  • Man darf den Israelis nicht zu sehr klarmachen, was ihre IDF mit den Palästinensern anstellt, schließlich "verteidigt" man sich nur. Wohlgemerkt, die Unterdrücker "verteidigen" sich gegen die aufmüpfigen Unterdrückten.

    • 9G
      90191 (Profil gelöscht)
      @Rosbaud:

      "Man darf den Israelis nicht zu sehr klarmachen, was ihre IDF mit den Palästinensern anstellt, schließlich "verteidigt" man sich nur."

       

      Ach, da seien Sie mal ganz beruhigt. Diese Leute sind gegen jede gefährliche Aufklärung resistent.

  • Haaretz ist das lesenswerteste Medium in Israel. Es sollte eine deutsche Zeitung kooperieren und eine wöchentliche Beilage der Haaretz publizieren. Wetten, niemand von "Qualitätsmedien" getraut sich das? Nach der Einstellung wird man wieder Krokodilstränen vergiessen. Heuchler, elende!

  • In Deutschland müsste sich Herr Gideon Levy mit Antisymetisms Vorwürfen auseinandersetzen.

    • @Bernd Reinhardt:

      Is aber auch schlimm, der Antisymmetrismus in diesem Land. Viele Leute gucken einen schon so schief an.

      • @Christian:

        Also ich sags ganz offen. Ich fand Symmetrie schon immer blöd.

        • @Kaboom:

          Kaboom, also mit so schrägen Ansichten hast Du hier nix zu suchen!

  • 1G
    1714 (Profil gelöscht)

    Eine sehr "faire" Forderung... Es beleuchtet die Vielfalt und demokratische Grundhaltung dieser aufgehetzten Gesellschaft. Wie wär's denn mal mit Selbstkritik? Oder etwa einer unvoreingenommenen Betrachtung? Hat dieses Volk nicht selber über Jahrhunderte unter Vorurteilen, Haß, Mißachtung, Ungerechtigkeit und Intoleranz gelitten? Muß das jetzt an anderen praktiziert werden?

    • @1714 (Profil gelöscht):

      "Unvoreingenommene Betrachtung"? "Selbstkritik"?

       

      Die Schlussfolgerung, die Teile der jüdischen Gemeinschaft aus dem Leid, das sie in Jahrhunderten der Vorurteile, des Hasses, der Missachtung, Ungerechtigkeit und Intoleranz (sie vergaßen übrigens die vielfachen Pogrome, Massenmorde und den sehr weit fortgeschrittenen Genozid) gezogen haben, ist die Verteidigung "nach vorne". Völlig egal, was man politisch oder moralisch davon halten mag - menschlich (im Sinne von: so tickt der Mensch trotz all seiner zivilisatorischen Überstülpungen nunmal) ist das absolut verständlich und kann nur durch eine ideologisch verbrämte Brille nicht nachvollziehbar sein. Aber insbesondere die Generation in Deutschland, die als "die Nachgeborenen" den Krieg nicht mehr erleben mussten oder zumindest keinerlei Verantwortung für den Nationalsozialismus zu tragen hatten, die haben nun natürlich leicht reden. Geboren/aufgewachsen im "entnazifizierten" Deutschland, kann man Israel natürlich vorhalten, wie schlimm es doch eigentlich sei und dass sie doch die eigentlichen Nazis seien - schliesslich praktizieren sie ja die Methoden, die man einst gegen sie verwendete!

       

      Ist Ihnen ihr Zynismus (kann man das in dem Kontext noch so nennen?) eigentlich bewusst?

       

      Und nein, bevor hier nun wieder die üblichen Reflexhandlungen einsetzen: es ist wirklich schade, dass von (da stimme ich Ihnen zu) einem aufgehetzten Teil der Gesellschaft (der leider viel viel zu groß ist) diese schöne Möglichkeit zum innerisraelischen Dialog vergeben worden ist.