Stichwahl französische Präsidentschaft: Heimspiel für Marine
Am Sonntag könnte die Rechtsextreme Marine Le Pen Frankreichs erste Präsidentin werden. Wer wählt sie?
Nachdem in diesem Ort im Département Aisne in der Picardie der Front National (FN) stets Spitzenergebnisse verzeichnen konnte, wurde 2014 Franck Briffaut vom FN zum Bürgermeister gewählt, 2020 gewann er die Wiederwahl gleich im ersten Durchgang, nun für seine in Rassemblement National (RN) umbenannte Partei.
Villers-Cotterêts liegt eine gute Stunde Autofahrt nordöstlich von Paris und gilt als Musterbeispiel einer von Frankreichs extremen Rechten regierten Kleinstadt. Den Wahlanalysen zufolge entspricht diese Ortschaft mit ihren 10.000 Einwohner*innen dem Profil der mehr als 20.000 Kommunen außerhalb der großen urbanen Gebiete, in denen Le Pen im ersten Wahlgang triumphiert hat.
Niemand war deshalb verwundert, dass hier die rechtsextreme Kandidatin mit 37,22 Prozent als Erste vor dem Linken Jean-Luc Mélenchon und Präsident Emmanuel Macron einen klaren Sieg verzeichnen konnte. Wer am Sonntag in der Stichwahl gewinnen wird, ist in Villers-Cotterêts keine Frage. Der öffentliche Wahlkampf scheint bereits vorbei zu sein. Am Donnerstag vergangener Woche verteilen auf dem Straßenmarkt weder Macron-Anhänger noch Fans von Le Pen Flugblätter. „Macron hatten wir schon, jetzt muss man Marine eine Chance geben“, meinen mehrere Passanten, einstimmig, aber kurz angebunden. Die meisten wollen nicht über die Wahlen sprechen. Ihr Misstrauen gegen die Medien ist spürbar.
Die 40-jährige Séverine, die ihren Nachnamen nicht nennen will, kommt dagegen wie magnetisch angezogen über den Platz. „Oh ja, die Wahlen interessieren mich! Wissen Sie, hier sind wir in einer RN-Hochburg. Und selbst ich als Wählerin von Zemmour hatte Mühe, Leute von ihm zu überzeugen. Alle sagten, sie würden Marine Le Pen wählen.“
„Marine, bereits zum dritten Mal“
Über ihre eigene Motivation befragt, spricht sie aber nicht vom Leben in Villers-Cotterêts, sondern redet von Quartieren in Paris, wo die Frauen nicht in ein Café gehen oder auf der Straße spazieren könnten, ohne von Islamisten belästigt oder attackiert zu werden. Weil Le Pen das bekämpfen und die Immigration stoppen wolle, stehe ihre Entscheidung für die Stichwahl fest.
„Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht einfach rassistisch. Wenn ich morgen eine Afrikanerin als Nachbarin habe, nehme ich trotzdem den Aufzug mit ihr. Ich habe Muslime unter meinen Freunden. Individuell habe ich nichts gegen sie. Ihre Masse stellt ein Problem dar.“ Was sie sagt, klingt absurd. Sie muss den etwas erstaunten Seitenblick bemerkt haben, denn sie selber sieht aus wie eine Frau aus Nordafrika.
Sie bemüht sich ungefragt um eine Erklärung: „Ich bin ein Mischling, mein Vater ist ein echter Franzose („Français de souche“), meine Mutter kommt aus Neukaledonien, das ist französisches Territorium.“ Damit auch bezüglich ihres Glaubens keine Zweifel aufkommen, trägt sie gut sichtbar ein silbernes Kreuz an ihrer Halskette.
Sie ist Mutter von zwei Kindern und sagt, ihr Haupteinkommen sei die „AAH“, die öffentliche Sozialbeihilfe für Behinderte. In ihrem Programm habe Le Pen angekündigt, sie werde diese von 900 auf 1.000 Euro monatlich erhöhen. Daran glaubt sie felsenfest. „Zemmour hat einen Fehler gemacht, er hat nicht erkannt, wie wichtig die Kaufkraft für Leute wie uns ist. Im Gegensatz zu ihm hatte Marine Le Pen das früh im Blick. Und wenn am Ende des Monats das Geld fehlt, ist es egal, ob der Nachbar Araber oder Afrikaner ist.“
Angélique Meurice, eine Frau in den Dreißigern, kommt mit ihrem Kind an der Hand am Dumas-Denkmal vorbei. „Nach den fünf Jahren, in denen wir gelitten haben und die demoralisierend waren, braucht es einen Wechsel“, sagt sie. Meurice arbeitet in der Automobilindustrie in der Produktion, an diesem Tag hat sie frei. „Wir wollen eine Frau an der Macht!“, sagt sie. Sie verspricht sich von Le Pen eine andere Gesundheitspolitik, „selbstverständlich bezüglich Covid und all dem“, denn sie ist gegen jede Form vom Impfzwang.
Besonders skandalös sei es, dass Pflegefachkräfte, die sich nicht impfen lassen wollten, von ihrem Dienst im Krankenhaus suspendiert wurden. Auch sie erhofft sich eine Verbesserung ihrer Kaufkraft durch „Marine“ und nennt sie wie die meisten ihrer Anhänger*innen nur beim Vornamen. Am Sonntag wird Meurice für sie stimmen. „Marine, bereits zum dritten Mal“, fügt sie mit Überzeugung an.
Auch eine dritte Frau, die Helena als Vornamen angibt, erwartet sich von Le Pen erleichterte Lebensbedingungen: „Ich bin 69 Jahre alt, und ich arbeite immer noch. Ich habe meinen Mann verloren. Voilà!“ Darum nämlich sei sie in ihrem Alter weiter auf ihr Einkommen als Friseurin angewiesen. Mit einem leichten osteuropäischen Akzent erwähnt sie ihre letzte „enorme“ Rechnung für die Heizkosten.
„Wir hatten Monsieur Macron für fünf Jahre, Madame Le Pen kann nicht schlechter sein als die anderen.“ Die Frage, ob sie denkt, dass diese als Präsidentin etwas ändern könne, beantwortet Helena mit einem überzeugten „Oui!“. Ihre Einkäufe macht sie nicht im Carrefour-Einkaufszentrum außerhalb, wo eher besser gestellte Leute mit ihrem Pkw aus der Umgebung anzutreffen sind, sondern beim kleinen Discountladen im Zentrum.
Die Wahl
Wird die Rechtsextremistin Marine Le Pen die erste weibliche Präsidentin der französischen Republik? Oder wird Emmanuel Macron für eine zweite Amtszeit gewählt? Am Sonntag dürfen 48,7 Millionen Wahlberechtigte in einer Stichwahl abstimmen. Erste Ergebnisse werden nach Schließung der Wahllokale um 20 Uhr erwartet.
Die Umfragen
In allen aktuellen Umfragen dieser Woche liegt Emmanuel Macron vorne. Ihm werden zwischen 54 und 56 Prozent der Stimmen prognostiziert. Marine Le Pen kommt demzufolge auf 44 bis 45,5 Prozent. Bei der Stichwahl vor fünf Jahren kam Macron noch auf 66,1 Prozent der Stimmen.
Dort parkt ein Mann seinen Wagen. Er macht Deutschland verantwortlich für den „Zustand“ Frankreichs. „Das ist ja schön, Mitterrand und Kohl, die Händchen halten, aber das war auf unsere Kosten. Ich habe nichts gegen die Deutschen, aber Frankreich hat bei der Einführung des Euro einen Großteil der Wiedervereinigung bezahlt“, davon ist Sylvain überzeugt.
Er spricht mit dem typischen „Ch'ti“-Akzent der Leute aus dem ehemaligen Kohlenbecken in Nordfrankreich, wo viele Bergarbeiterfamilien aus Polen stammen. Sylvain erzählt, sein Vater habe Sikorsky geheißen, er aber trage den Namen seiner Mutter: Lagneau. Er ist mit erst 58 Jahren in Frührente, und schimpft darüber, dass Leute wie er durch die Produktionsverlagerungen der Industrie in den Osten oder den fernen Osten keine Arbeit mehr hätten.
Sein Atem riecht nach Alkohol, er hat Mühe, in der Aufregung die Worte zu finden. „Also der jetzige Präsident, Monsieur … Macron, der passt mir nicht, ich habe nichts Persönliches gegen ihn. Warum er mir nicht gefällt? Da ist schon mal die Rente. Ich habe mit fünfzehneinhalb zu arbeiten begonnen, hatte dann aber häufige Lücken, und damals zählten die Tage der Arbeitslosigkeit nicht für die Rente.“ Er hat gehört, dass Macron das Rentenalter auf 65 Jahre erhöhen will, bei Le Pen dagegen soll es bei 62 bleiben. Für Leute, die wie Lagneau früh erwerbstätig wurden, würde es dann auf 60 sinken. Damit ist die Rechnung für ihn gemacht.
Der Bürgermeister Franck Briffaut ist 64 Jahre alt. Er trägt einen grauen Anzug und eine rote Krawatte und lädt zum vereinbarten Interview in den Sitzungssaal im historischen Rathaus, auf dessen Eisentor mehrere Trikolore-Fahnen, aber auch zwei EU-Flaggen im Wind flattern. Monsieur le Maire ist stolz darauf, sich als frühes FN-Mitglied schon seit 1977 als historischen Kampfgefährten von Jean-Marie Le Pen bezeichnen zu können. Der ehemalige Fallschirmspringer-Unteroffizier hat auch die Jahre der Umwandlung in das heutige „Rassemblement“ unter der Führung der Tochter des Parteigründers aus Überzeugung mitgemacht.
Europa? Ein Vasall der USA!
Sieht er sich vielleicht schon als zukünftiger Minister der Staatspräsidentin Marine Le Pen? „Da wollen wir doch lieber nicht vorgreifen. Aber die Frage wurde mir tatsächlich bereits gestellt.“ Briffaut ist hörbar geschmeichelt. Wer genau ihn, den Experten für Transportfragen, schon auf einem Regierungsposten sieht, will er lieber nicht verraten.
Er erklärt den Erfolg seiner Parteichefin in seinem Wahlkreis mit einer „hartnäckigen Arbeit auf dem Terrain seit 20 Jahren“, aber auch mit der erneuerten Parteilinie: „Frankreich verändert sich, Europa ebenfalls. Ich habe Marine Le Pen bei der Anpassung begleitet.“ Er ist sehr zuversichtlich für die Stichwahl am Sonntag, denn die Partei und ihre Kandidatin hätten aus den Fehlern von 2017 gelernt und seien „reif“ für die Staatsführung geworden.
„Heute ist die RN nicht mehr bloß eine Stimme des Protests, die nur dagegen ist. Wir haben uns die Regierungskultur angeeignet, um glaubwürdige Vorschläge für unser Land machen zu können. Und das hat ein guter Teil der Bevölkerung verstanden.“ Mit dem Blick auf seine eigene Kommunalpolitik beansprucht Briffaut, „mindestens ebenso gut und kompetent zu sein, wie unsere Gegner“.
Wird Marine Le Pen die nächste französische Präsidentin? In der taz am wochenende vom 23./24. April 2022 schauen wir auf Frankreich vor der Stichwahl, auf die Wähler:innen von Le Pen und auf die, die ihren Wahlsieg am meisten fürchten. Außerdem: Die Linkspartei in der Krise. Und: Wie das „Missoir“ für Geschlechtergerechtigkeit beim Pinkeln sorgt. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Zu den „Anpassungen“ zählt er die Korrektur des europapolitischen Programms: „Wir sind nach wie vor der Meinung, dass die EU total umgestaltet werden muss.“ Aber nicht mehr, oder wenigstens nicht sofort, mit einem „Frexit“, einem Austritt aus der EU, sondern durch den Druck zur Veränderung von innen. Le Pen zählt dabei auf die Mitgliedsländer im Osten – Briffaut erwähnt Ungarn, Polen und die baltischen Staaten –, die „aus diversen Gründen innerhalb der Gemeinschaft sagen, so könne es nicht weitergehen“. Seine Partei und EU-Fraktion stehe mit der Kritik nicht mehr isoliert da.
„Heute erscheint es uns möglich, die EU von innen zu reformieren, weil sich die EU selber verändert hat.“ Er wünscht sich, dass jedes Land seine Identität und Interessen wahren könne, also „ein lockeres Europa, das nicht stur um jeden Preis alles regulieren will“. Doch es gebe auch einen Plan B: „Wir schließen ein Referendum über einen Austritt nicht aus, wenn es uns nicht gelingt.“ Europa dürfe nicht länger ein „Vasall der USA“ bleiben.
Die Vereinigten Staaten hätten „alles getan, um Europa von Russland zu trennen. Seit dem Fall der Mauer wurde Russland in die Position gedrängt, in der es sich heute befindet. Das heißt nicht, dass Putin nicht am Krieg schuld wäre. Aber der Westen hat auch seine Verantwortung, namentlich die USA, die alles tun, damit wir schwach und von ihnen abhängig bleiben. Das ist ihnen in meisterlicher Art gelungen: Sie haben Putin zu seinem Fehler verleitet, und er ist in die Falle gegangen.“
Die Erweiterung der Nato sei eine Provokation gewesen, die Putin nicht habe hinnehmen können. Das erkläre seinen unglaublichen „Fehler“ – von Krieg spricht Briffaut nicht. Im Übrigen habe es Marine Le Pen begrüßt, dass Präsident Macron den Kontakt zu Putin nie abgebrochen hat. Ein Grund für die Wählersympathien sei es, dass sie nicht einfach eine „Anti-Macron-Kampagne“ gemacht habe.
Der Bürgermeister redet gern über die Geschichte seiner Stadt. Nicht so gern aber über ein bestimmtes Kapitel: Briffaut dementiert, dass er hier eine schon angekündigte Gedenkfeier zur Abschaffung der Sklaverei verhindert habe. Ausgerechnet in der Stadt, in der Alexandre Dumas’ Vater, Frankreichs erster afrokaribischer und dunkelhäutiger General, 1806 in Napoleons Ungnade gefallen, starb. Er habe sich bloß geweigert, an einem von „Vereinen aus Paris“ als „Provokation“ organisierten Event von politischen Gegnern teilzunehmen.
Ein anderes Kapitel der Geschichte liegt ihm dagegen am Herzen. In Villers-Cotterêts hatte nämlich 1539 König François I. ein Dekret unterzeichnet, das Französisch zur Amtssprache erklärte. Briffaut freut sich, dass Präsident Macron das Schloss in seiner Stadt renovieren ließ, in dem in Erinnerung daran ein zukünftiges Centre International de la Langue française (CLIF) entstehen soll, zur „Grandeur“ der französischen Sprache und Kultur. Einweihen wird es, so hofft Briffaut, dann aber eine andere Präsidentin: Marine Le Pen. „Wir haben gute Chancen“, sagt Briffaut und lacht.
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