Sprechen über Flucht: Wer flieht, hat Gründe
Eine sprachliche Unterscheidung zwischen Vertriebenen und Migranten steht uns nicht zu. Solche Begriffe suggerieren Dringlichkeiten und schaffen Kluften.
I n unserem Sprechen und Denken über Flucht taucht ein alter Begriff gerade wieder neu auf: die Vertriebenen. So spricht etwa die Bundespolizei inzwischen konsequent von Vertriebenen, wenn es um die Flüchtlinge aus der Ukraine geht. Ähnlich – allerdings weniger konsequent – Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU). Sein Bundesland behelfe sich gerade „mit pragmatischen Lösungen“ bei der „Unterbringung und Versorgung der Vertriebenen“, erklärte er Anfang März, als täglich mehr Menschen aus der Ukraine auch nach Brandenburg flohen.
Dass nun von Vertriebenen die Rede ist, hat einen schädlichen Effekt. Es suggeriert einen Unterschied zwischen dieser Gruppe von Flüchtlingen und Flüchtlingen aus anderen Regionen. Damit entsteht eine tiefe Kluft. Es lässt die Fluchtgründe jener anderen Gruppen, die andere Grenzen überwinden (müssen), weniger dringlich erscheinen. Allen, die sich für eine grundsätzliche Gleichbehandlung geflüchteter Menschen einsetzen, muss das gegen den Strich gehen.
Noch schärfer zutage tritt diese Kluft im Sprechen über die Menschen, die seit dem vergangenen Herbst versuchen, über Belarus nach Polen und Deutschland zu kommen. Viele mit dem Ziel, Asyl zu beantragen. Für sie setzte sich der Begriff Migranten durch – nicht nur in Mitteilungen der Bundespolizei, sondern zunehmend auch in den Medien. Das Wort schwappte auch auf andere Gruppen über. „Migranten“ sind im öffentlichen Diskurs nun zunehmend auch die Menschen, die unter Todesgefahr über das Mittelmeer Richtung Europa fliehen.
Wer von Flüchtlingen als Migranten spricht, entpolitisiert ihr Anliegen und lässt ihr Schutzbedürfnis als wenig berechtigt erscheinen. Wenn bei Vertriebenen ein Zwang hinter ihrem Schicksal angedeutet wird – wer „vertrieben“ wird, kann schließlich kaum etwas anderes tun, als seine Sachen zusammenzuraufen und zu fliehen –, dann lassen Begriffe wie Migrant und stärker noch der besonders abwertende Begriff Wirtschaftsflüchtling die Flucht als frei gewählt oder selbst verschuldet erscheinen. Doch das ist eine Bewertung, die uns hier im globalen Norden nicht zusteht.
Massenzustromsrichtlinie spricht von „Vertriebenen“
Ein zusätzlicher Effekt des Begriffs Vertriebene ist, dass er die als solche bezeichneten Flüchtlinge aus der Ukraine näher heranrückt an die deutsche Geschichte. Sie gehören zu einer Gruppe, mit der sich auch diejenigen gut identifizieren können, die ihre Großeltern oder Eltern als Vertriebene des Zweiten Weltkriegs sehen. Denn von rechtlicher Bedeutung war der Begriff Vertriebene bisher nur im Zusammenhang mit dem Bundesvertriebenengesetz von 1953. Es fasste unter Vertriebene deutsche „Staatsangehörige“ oder sogenannte „Volkszugehörige“, die ihren Wohnsitz im Zusammenhang mit den „Ereignissen des Zweiten Weltkriegs“ verloren hatten.
Dass Flüchtlinge aus der Ukraine überhaupt einigen als Vertriebene gelten, hat einen rechtlichen Grund. In der am 3. März von der EU in Kraft gesetzten „Massenzustromsrichtlinie“, nach der Menschen aus der Ukraine nun in der EU aufgenommen werden, ist – in der deutschen Fassung – schon im ersten Artikel tatsächlich von „Vertriebenen aus Drittländern“ die Rede – und nicht etwa von Zugeströmten. So begründet auch die Bundespolizei ihre Verwendung dieses Begriffs.
Trotzdem bleibt es problematisch. Solche juristischen Feinheiten bügeln wir auch sonst in der Alltagssprache und in den Medien oft glatt. Flüchtlinge dürften sich streng genommen nur die nennen, denen ein Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention zugesprochen wurde – es wäre also ständig zu unterscheiden zwischen Geduldeten, Asylsuchenden und subsidiär Schutzberechtigten. Das passiert teils auch. Tatsächlich wird der Begriff Flüchtlinge aber viel breiter verwendet, als es rein juristisch gesehen angemessen wäre.
So hat etwa auch die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl 2016 dargelegt, warum sie den Begriff Flüchtling bevorzugt – auch im Vergleich zu Geflüchtete*r. Denn hier ginge es eben um einen Begriff, der die politische Dimension offenlege und der es den Gegnern der Flüchtlinge schwer mache, deren Anliegen abzuwerten.
Alltagssprache ist ungenauer
Vertriebene ist überdies nicht der einzige Begriff, mit in dem die Flüchtlinge aus der Ukraine sprachlich abgesetzt werden. Denn auffällig oft sind sie außerdem Kriegsflüchtlinge. So spricht etwa Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) genauso wie die Berliner Integrationssenatorin Katja Kipping (Linke) von „Kriegsflüchtlingen“ aus der Ukraine, wenn sie ihre Anstrengungen schildern, sie auf die Bundesländer zu verteilen. Auch das wertet ihr Anliegen rein sprachlich gegenüber dem anderer Flüchtlinge auf.
Im juristischen Kontext ist es berechtigt, je nach Status der Flüchtlinge auch begrifflich zu differenzieren. In unser Alltagssprache ist das nicht immer sinnvoll und sollte sich auch in den Medien nicht durchsetzen. Oft ist auch ein einmal vergebener Status nur zeitweise gültig. Entscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge werden vor Gericht nicht selten korrigiert. So wird Menschen, die zunächst vielleicht nur geduldet waren, eine andere Schutzform zugesprochen. Wer aus der Ukraine nach Deutschland kommt, könnte hier theoretisch Asyl beantragen und wäre damit – rein rechtlich gesehen – ein*e Asylsuchende*r. Das zeigt, wie volatil die rechtliche Lage der Menschen ist, die alles hinter sich lassen, um ihr eigenes und das Leben ihrer Lieben zu retten.
In der englischen Fassung der Massenzustromsrichtlinie geht es übrigens um displaced persons – ein Begriff, der international viel allgemeiner verwendet und der nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu der Gegenbegriff zu den Vertriebenen war. Selbst wenn Vertriebene aus rechtlicher Sicht passend wäre, werde ich diesen Begriff aus diesen Gründen nicht verwenden. Und es ist richtig, dass er bisher eher in Mitteilungen von Behörden auftaucht. In unsere Alltagssprache sollte er sich besser nicht einschleichen und im Sprechen der Medien sich nicht durchsetzen.
Wer flieht, hat Gründe. Darauf sollten wir uns einigen. Es steht uns nicht zu, diese im Einzelnen oder pauschal zu bewerten. Und persönlich möchte ich mich solidarisch mit den Menschen aus der Ukraine zeigen und diejenigen, die von dort fliehen unterstützen können, ohne dafür andere Menschen und ihre Fluchtgründe abzuwerten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe
Zoff zwischen SPD und Grünen
Die Ampel? Das waren wir nicht!
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär