Sozialismus und Religion: Weniger Befremden – mehr Respekt

Lange herrschte unter Linken der Irrglaube, die Religion werde bald überholt sein. Tatsächlich gewinnt sie an gesellschaftlicher Bedeutung.

Illustration: eingezäunte Gotteshäuser, eine Kirche, eine Moschee und eine Synagoge

Religion – auch die von Minderheiten – rückt stärker vom privaten in den öffentlichen Raum Illustration: Jeon Hwa Min

Die Linke hat es nicht leicht mit dem lieben Gott. Sie fremdelt mit ihm, oder mit ihr, oder sagen wir: mit „Religiosität“. Das zeigt sich auch bei der taz. Bei wohl keinem Thema unterschreitet sie so häufig ihr Durchschnittsniveau wie bei den Themen Religion und Kirche. So sind ironisierende Berichte und übellaunige Kommentare erwartbar, wenn beispielsweise im Land wieder das Himmelfahrtsfest naht oder Kirchen­tags­be­sucher_in­nen in den ­U-Bahnen der Großstädte lauthals gesungen haben.

Das liegt, so vermute ich, zum einen daran, dass die Gegnerschaft zu Religion und Kirche zurzeit eine der wenigen letzten Frontstellungen ist, auf die sich politisch links denkende Menschen hierzulande milieu- und fraktionsübergreifend in großer Leichtigkeit verständigen können. Nach dem Ende so vieler anderer linker Gewissheiten kann man wenigstens dann mal wieder locker und ironisch klare Kante zeigen, wenn Religiosität im öffentlichen Raum auffällt.

Aber da ist noch mehr. Diese Befremdung hat schließlich eine lange Geschichte. Von Beginn an ist Religion der Linken verdächtig gewesen. Karl Marx sah in ihr bekanntlich ein verkehrtes Weltbewusstsein, das die verkehrte Welt widerspiegeln würde, den Seufzer der bedrängten Kreatur und zugleich ihr schmerzlinderndes Opiat. August Bebel formulierte 50 Jahre später, Christentum und Sozialismus stünden sich gegenüber wie Feuer und Wasser.

Damit schien die Sachlage weitgehend geklärt und eine kritische Abgrenzung gegenüber Religion gehörte fortan zum theoretischen und habituellen Bestandteil linksorientierter Parteien und Gruppen sowie kritischer Theoretiker_innen, bis heute. Zwar gab es immer auch ein „Crossover“-Milieu, das sich als „religiöse Linke“ zeigte.

Religionsdistanz war linker Mainstream

Ich denke zum Beispiel an Dorothee Sölle und diverse Befreiungstheologien, an deren frühe europäische Version in der Form des „religiösen Sozialismus“ sowie an die bedeutenden Formulierungen im Godesberger Programm der SPD, insbesondere aber an das gemeinsame politische Engagement in den Bewegungen für Frieden, Gerechtigkeit, Umweltschutz und Klima.

Auf der anderen Seite hatte die religionskritische Linke in ihren Evolutions- und Revolutionsvorstellungen mit der Figur des „neuen Menschen“ selbst immer höchst religiöse Vorstellungen in säkularer Form konserviert, beginnend in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den utopischen Entwürfen der neuen sozialen Bewegungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts.

Und doch: Religionsdistanz blieb linker Mainstream und mit der soziologischen Säkularisierungsthese setzte sich dann auch übergreifend die Vorstellung durch, Religion sei ein bald überwundenes Relikt in unseren westlichen Gesellschaften. Man ging davon aus, dass die Existenz von Religion soziales Elend, wissenschaftliche Unkenntnis oder staatlichen Zwang zur Voraussetzung habe.

Und doch scheint es anders zu laufen. Religiosität ist noch da, auch dort, wo sich Wohlstand, Bildung und Demokratie durchsetzten. Nach Jahrzehnten religiöser Individualisierung, Pluralisierung und Privatisierung und der esoterischen Ausdifferenzierung religiöser Überzeugungen gibt es Hinweise darauf, dass sie gesellschaftlich sogar an Bedeutung gewinnt (freilich ohne dass dadurch in diesem Land voller werdende Gotteshäuser zu erwarten wären).

Religiöse Vorstellungen in säkularer Form

Da ist beispielsweise zu beobachten, dass Religion neu politisiert zu werden scheint. Sie wandert „vom Raum des Persönlichen und Privaten in den Raum des Öffentlichen und Kollektiven“, wie der Soziologe Heinz Bude feststellt, und zeigt sich als eine der Quellen, aus der sich individuelle und kollektive Selbstermächtigungen speisen. Auch religiöse Minderheiten fordern zunehmend Anerkennung und damit eine differenzfreundliche Gesellschaft, in der jede und jeder Platz hat.

Und als Statthalterin einer solchen Idee von Gesellschaft, in der man ohne Angst nicht nur leistungsschwach, sondern auch verschieden und verschieden gläubig sein darf, hat es einer Linken jetzt weniger um Religionskritik zu gehen, sondern vielmehr um Anwaltschaft für solche (religiösen) Anerkennungsforderungen.

Zu entdecken ist Religion zudem in den öffentlichen Wertedebatten. Spektakulär und für die Linke bedeutsam war in diesem Zusammenhang die Begründungsarbeit des Philosophen Jürgen Habermas in den letzten zwei Jahrzehnten und sein Verweis auf die Fähigkeit religiöser Traditionen, Einsichten zu liefern, die in säkularer Form nicht zur Verfügung stünden, was in Zeiten einer „entgleisenden Modernisierung“ zum Problem werde.

Damit formulierte er etwas aus, das schon bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno in Ansätzen gefunden werden kann und dreißig Jahre zuvor bei Max Horkheimer auch formuliert worden war: Religion, so Horkheimer, enthalte eine kritische Utopie. Sie sei der Aufbewahrungsort einer „Sehnsucht danach, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge“, ein Reservoir der Begründung menschlicher Humanität.

Sehnsucht nach Gewissheit und Horizont

Ganz praktisch zeigt sich sodann mit dem Bedürfnis nach Entschleunigung und Achtsamkeit ein bis tief in die kirchenferne Mittelschicht wahrnehmbares neues Interesse an religiösen Traditionen, an Ritualen und Formen von Spiritualität. „Man merkt es am Aufleben alter Sehnsüchte: nach Gewissheit und Horizont, Heil und vielleicht sogar Erlösung“, wie Evelyn Finger in der Zeit schreibt.

Und in der Resilienzforschung zeigen sich, Fingers Beobachtung stützend, Hinweise auf gesundheitsfördernde Effekte von individuell gelebter Religiosität. All das ist für traditionell linke Religionskritik irritierend, sowohl theoretisch wie auch praktisch und habituell. Und in diesem Licht wirkt die gegenwärtig in vielen Kreisen der Linken weiterhin noch gepflegte, affektiv ablehnende Haltung gegenüber Religiosität und Spiritualität fast ein bisschen konservativ.

Nun muss hier eingeräumt werden, dass die traditionell große Distanz zwischen der politischen Linken und der organisierten Religion in diesem Land über sehr lange Zeit auch vonseiten der christlichen Kirchen emsig betrieben wurde. Und es soll in keinem Fall in Abrede gestellt werden, dass präzise Religionskritik in der Vergangenheit nötig war und bis heute geblieben ist.

Es geht mir also nicht um eine Zurückweisung kritischer Religionsanalyse, die wir in Zeiten von Gewaltskandalen, verschiedensten Fundamentalismen und ideologischen Verrücktheiten sehr dringend nötig haben. Es geht mir ebenfalls nicht um eine Verunglimpfung atheistischer Überzeugungen. Vielmehr geht es mir um Ernsthaftigkeit im Umgang mit Differenz – und um Respekt!

Hierfür erscheint es mir hilfreich, die Aufmerksamkeit von der Frage nach dem Wahrheitsgehalt religiöser Bekenntnisse abzuwenden und stattdessen den Blick auf den Kern religiöser Praxis zu wenden: auf existenzielle menschliche Erfahrungen der Selbstüberschreitung, des Ergriffenseins und des Sinns. Es sind Resonanzerlebnisse in der Begegnung mit etwas Unverfügbarem, wie der Soziologe Hartmut Rosa sie beschreibt.

Solche Erfahrungen machen alle Menschen und sie haben oftmals das Bedürfnis, hierfür eine Artikulationsform zu finden, also Symbole, Zeichen, Sprache. Und diese finden sie durchaus auch in religiösen Traditionen, die von den vorherigen Generationen hervorgebracht und bewahrt worden sind. Religionen sind, so betrachtet, nicht nur Wertesysteme und Lehrgebäude, sondern, so der Sozial­philosoph Hans Joas, Versuche zur Auslegung menschlicher Erfahrungen der Selbsttranszendenz.

Sie sind zu verstehen als Deutungsangebote, die in einem Kulturraum zur Verfügung stehen und sich vielen Menschen als Wahrheit zeigen. Und weil Religiosität in existenziellen Erfahrungen der Selbsttranszendenz und dem Wunsch nach deren sprachlicher Reflexion ihre Quelle hat, ist sie auch nicht still zu stellen. Im Gegenteil.

Viele Menschen bemühen sich aktiv um solche Erfahrungen, beispielsweise in der Begegnung mit Natur, Kunst, Tradition und Religion – und sie schöpfen hieraus Kraft und Orientierung für ihr Handeln und ihr Engagement. Das verbindet sie. Es unterscheidet sie aber die Art, wie sie diese Erfahrungen deuten, und somit auch, inwiefern sie diese Erfahrungen als Begegnung mit einer transzendenten Realität verstehen, oder aber profane Ursachen vermuten. Das bleiben Glaubensfragen.

Aber wenn wir uns in diesem Sinne grundsätzlich selbst wahrnehmen könnten, dann vergrößert sich vielleicht die Basis für eine wechselseitige Anerkennung der Erfahrungen und Deutungsmuster, die uns jeweils prägen. Und womöglich fördert es auch unsere Fähigkeit, uns weniger befremdet und zunehmend respektvoll über diese eigenen Deutungsmuster und deren Gründe auszutauschen, also über das, was wir jeweils glauben und hoffen, worauf wir vertrauen und was uns im Leben trägt.

Ich danke Michaela Grön und Udo Fleige für wichtige Hinweise und Kommentare bei der Ausarbeitung dieses Textes.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.