Scholz und Pistorius: Journalismus oder Pferdewette?
Man wundert sich über die Hysterie, mit der manche Medien über die K-Frage innerhalb der SPD berichtet haben. Da war wenig Sachliches und viel Hysterie dabei.
E s sind noch etwa 90 Tage bis zur Bundestagswahl. Wie gut, dass die knapp bemessene Zeit dazu führt, im Wahlkampf Prioritäten zu setzen. Nur die drängendsten Fragen werden diskutiert: Wie kann der Aufstieg der Autoritären gestoppt werden? Wie können Rezession und Inflationsangst bekämpft werden? Hat der SPD-Kandidat eine randlose Brille oder eine Glatze?
Zwei Wochen hat das Land über den Wahltermin diskutiert, um nun eine Personalie durchs deutsche Dorf zu treiben. In der Kandidatendebatte der SPD ging es, materiell betrachtet, um die Frage, ob ein konservativer Sozialdemokrat oder ein sozialdemokratischer Konservativer die Partei in den Wahlkampf führt. Der Eifer wäre verständlich, wenn es zwischen den Kandidaten politische Unterschiede gäbe oder wenn Scholz wie Joe Biden nicht regierungsfähig wäre. Warum aber sollte der Minister einer gescheiterten Regierung erfolgreicher sein als ihr Kanzler – wegen eines Beliebtheitsrankings? Ein Wechsel des Kandidaten wäre schnell verpufft, WählerInnen sind ja nicht doof.
Die K-Fragen-Hysterie dieser Woche ist ein Beispiel dafür, dass Medien nicht einfach Wirklichkeit beschreiben. Man spürte in manchen Beiträgen eine Lust, Pistorius hoch- und Scholz runterzuschreiben. Wenn man tagelang jede Einzelmeinung eines SPD-Mitglieds aus der dritten und zweiten Reihe zur Breaking News aufbläst, wird die Aussage, die SPD sei gespalten, zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Natürlich hat die SPD-Spitze zur Debatte beigetragen. Aber man kann (wie die taz) über die K-Frage auch nüchtern berichten und feststellen, dass das Rumoren an der Basis medial angeheizt und so eindeutig nicht war.
Nun ist einseitige Medienschelte oft etwas billig, denn Meldungen über Personalfragen werden auch gern gelesen. Vielleicht ist es ein gemeinsamer Eskapismus von uns MedienmacherInnen und Ihnen, den MediennutzerInnen: Gerade weil die Herausforderungen erdrückend sind und die Angebote, sie zu lösen, so unzureichend, ist es befreiend, sich mit Köpfen zu beschäftigen. So aber fehlt nach der ganzen Aufregung die Energie für die größeren Fragen. Nicht wer für die SPD antritt, ist doch die spannende Frage, sondern: wofür.
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Die linksliberalen Parteien, also auch die Grünen, haben ein Problem. Sie hoffen weiterhin, dass sie mit einem Kurs auf die Mitte Wahlen gewinnen können. Aber die Merkel-Jahre sind vorbei, und ihre Voraussetzungen – Wachstum, billiges Geld und Gas, Probleme in die Zukunft verdrängen – sind es auch. Die Grünen scheinen dennoch die Fehler von Kamala Harris wiederholen zu wollen: Pathetisch von Demokratie sprechen, popkulturelle Anspielungen, damit erreicht man keine Mehrheit. Wenn SPD und Grüne gewinnen wollen, müssten sie aus der Merkel-Logik ausbrechen. Sie müssten mit einer Umverteilungspolitik die Interessen der Mehrheit bedienen, statt mit der Union um den kleiner werdenden Kuchen zu kämpfen, der deutsche Mitte heißt. Doch dafür sind weder Habeck noch Scholz oder Pistorius die geeigneten Kandidaten.
Dennoch sollte der Blick auf den Wahlkampf 2021 Demut lehren. 90 Tage vor der Bundestagswahl stand die SPD in Umfragen auch bei 14 Prozent. Nun spricht viel dafür, dass Geschichte sich nicht wiederholt. Wie aber kommt man dazu, wie manche Kollegen bei den Illustrierten, Minuten nach der Nachricht von Pistorius’ Verzicht in die Glaskugel zu schauen? Im Spiegel wird geleitartikelt, dass die SPD ein einstelliges Ergebnis holen werde, ein Stern-Kollege legt sich fest, das Kanzlerduell sei nun „entschieden“. Derweil jubelt man bei Politico, dass man die Nachricht von Pistorius’ Rückzug eine Minute früher vermeldet habe. Ist das noch Journalismus oder schon Pferdewette?
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