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Sachverständige im BundestagImpfpflicht wird wohl vertagt

Sachverständige warnen vor einer Impfpflicht „ins Blaue hinen“. Eine Zweifach-Impfung könne auch im Spätsommer noch angeordnet werden.

Zack, einmal den Corona-Impfstoff Nuvaxovid für den Totenkopf, bitte Foto: Moritz Frankenberg/dpa

Freiburg taz | Die Befürworter einer sofortigen allgemeinen Impfpflicht ab 18 konnten das Ruder nicht herumreißen: Bei der Sachverständigen-Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags sah sich die CDU/CSU mit ihrem Vorschlag eines Impfvorsorgegesetzes bestätigt. Bei diesem Modell würde im April nur die Rechtsgrundlage und ein Impfregister beschlossen, die eigentliche Entscheidung über die Einführung der Pflicht würde einige Monate hinausgeschoben. Ohne Stimmen aus der Union hat eine sofortige Impfpflicht keine Mehrheit im Bundestag.

Mehrere juristische Sachverständige warnten den Bundestag vor der sofortigen Einführung einer Impfpflicht. „Es gibt keine tragfähige Begründung, warum im Herbst eine Überlastung des Gesundheitswesens drohen sollte“, sagte Robert Seegmüller vom Bundesverband der Verwaltungsrichter:innen. „Man kann eine Impfpflicht nicht mit Risiken begründen, die nur hypothetisch sind“, argumentierte Rechtsprofessorin Frauke Rostalski. Ihr Kollege Stephan Rixen verwies auf das Beispiel Österreich: „Dort hat man die Impfpflicht ausgesetzt und prüft jetzt erst einmal, ob man sie wirklich braucht.“ Auch Rechtsprofessor Josef Franz Lindner sah „verfassungsrechtliche Risiken“, wenn eine „Impfpflicht ins Blaue hinein“ eingeführt wird. Erst wenn „belastbar feststellbar“ ist, dass im Herbst eine Covidvariante kursiert, die zu einer massiven Belastung des Gesundheitswesen führen kann, solle die Impfpflicht beschlossen werden, empfahl der Jurist.

Rechtsprofessor Franz Mayer fand die verfassungsrechtlichen Bedenken jedoch völlig übertrieben. Das Bundesverfassungsgericht habe dem Gesetzgeber jüngst in seinem Beschluss zur Bundesnotbremse „bei unsicherer Erkenntnislage“ doch gerade einen weiten Gestaltungsspielraum eingeräumt. Karlsruhe werde nur prüfen, ob die politisch gefundene Lösung „vertretbar“ ist. Entscheidend sei eine solide Begründung für die Einführung einer Impfpflicht.

Me­di­zi­ne­r:in­nen für Impfpflicht

Unterstützung für eine sofortige Impfpflicht kam aber vor allem von Me­di­zi­ne­r:in­nen. „Es besteht die Gefahr, dass wir zu langsam sind, wenn wir erst in einigen Monaten über die Impfpflicht entscheiden“, warnte Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. „Wenn man zu spät beginnt, läuft uns die Zeit davon“, sagte auch Christine Falk von der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Für die volle Impfwirkung seien schließlich vier Monate erforderlich.

Zwischen erster und zweiter Impfung müsse ein Monat liegen und die Booster-Impfung sei erst nach drei weiteren Monaten sinnvoll. Leif Erik Sander von der Berliner Charité erklärte, dass die zugelassenen Impfstoffe – etwa von Biontech und Moderna – nach den bisherigen Erfahrungen voraussichtlich auch gegen neue Covidvarianten einen guten Schutz bieten werden. Rechtsprofessor Hinnerk Wißmann erklärte den CDU-Vorschlag deshalb für „fast ungeeignet“. „Wenn man bis zur vollen Impfwirkung vier Monate Vorlauf braucht, dann kann man über die Impfpflicht nicht erst im Herbst entscheiden.“

Doch der Virologe Klaus Stöhr beruhigte die Unions-Abgeordneten: „Wenn man im Spätsommer eine Impfpflicht beschließt, dann könnten im September und Oktober problemlos die hauptsächlich gefährdeten 2,8 Millionen ungeimpften Se­nio­r:in­nen zweimal geimpft werden. „Die zweimalige Impfung gibt dann einen hohen Impfschutz, weil sie ja noch ganz frisch ist“, so Stöhr. „Das ist fast so gut wie eine Dreifach-Impfung, mit der schon im Sommer begonnen wurde.“

Infektionsforscherin Brinkmann wurde auch gefragt, was sie von einer Impfpflicht ab 50 hält. „Das ist natürlich besser als nichts, weil das Covidrisiko doch stark altersabhängig ist.“ Allerdings wurde der entsprechende Antrag des FDP-Politikers Andrew Ullmann auch heftig kritisiert, da er zunächst eine obligatorische Beratung über die Impfung vorsieht.

Der liberale Rechtsprofessor Hinnerk Wißmann warnte vor einem gewaltigen millionenfachen Aufwand durch eine Beratungspflicht: „Wer soll das denn eigentlich machen?“ Auch die Krankenkassen warnten vor zusätzlichen Aufgaben. „Wir können auf keinen Fall 60 Millionen Versicherte anschreiben“, betonte Doris Pfeiffer vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen. Ampel-Politiker:innen hatten vorgeschlagen, dass die Kassen die Impfpflicht umsetzen.

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16 Kommentare

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  • Man sollte sich die Beiträge der Sachverständigen selbst anhören, lohnt sich.

    www.bundestag.de/d...-gesundheit-883036

    Besonders die Antwort der Vorsitzende des Ethikrats Prof. Buyx bei 2:54:00 ist bemerkenswert.

    • @Francis:

      Schlimm genug, dass Vertreter einer Fascho-Partei im Parlament sitzen und folglich auch Fragen stellen durften, dazu kommt, dass "Expert*innen" wie Tom Lausen und Arne Burkhard befragt wurden, die durchaus kritisch gesehen werden:



      hier:



      "„BKK ProVita“-Bericht sorgte für WirbelAnalyst von umstrittener Studie zu Impfnebenwirkungen stammt aus Querdenker-Milieu"



      www.focus.de/gesun...u_id_62190520.html



      und da:



      " Faktencheck



      Mitglieder der „Pathologie-Konferenz“ verbreiten unbelegte Behauptungen über Covid-19-Impfungen und Todesfälle"



      correctiv.org/fakt...n-und-todesfaelle/

    • @Francis:

      Danke, wirklich interessant.



      00:13:33 sagt alles!

      • @salem:

        Meines Wissens ist das ProVita-Gutachten nicht öffentlich zugänglich. Ich habe jedenfalls vergeblich danach geforscht. Es gibt nur eine Presseerklärung mit "hübschen" Grafiken, aber keine nachprüfbaren Hinweise auf Quellen und Methoden der Statistiken. Für mich sagt das alles über den umtriebigen Gutachter: Lärm schlagen und sich dann vor Nachprüfungen schützen.

  • Die neue Variante WIRD kommen. Und sie WIRD im Sommer oder Herbst auf eine Bevölkerung treffen, bei denen der Impfschutz insbesondere bei den Älteren drastisch nachgelassen haben wird.

    • @Suryo:

      Und was genau ändert nun die Impfpflicht daran?

      Die Impfpflicht würde nur für die 10% Ungeimpften Ü60 gelten. Eine vierte Impfung bleibt weiter freiwillig.

      • @CrushedIce:

        Ganz einfach: Impfpflicht für alle ab 18, und zwar so, dass ein Höchstmaß an Schutz in der Bevölkerung besteht. Heißt: natürlich kann auch ein viertes, fünftes oder meinetwegen auch sechstes Mal geimpft werden, wenn das im Hinblick darauf sinnvoll ist.

      • @CrushedIce:

        Die Impfpflicht würde sinnvollerweise für alle ab 18 gelten. Und den Booster haben bisher weniger als 60% Da ist noch viel Spielraum nach oben. Die Impfpflicht würde den Impfschutz deutlich erhöhen

  • Es geht bei Corona immer auch um den Schutz der Anderen, bei der Überlastung des Gesundheitswesens genauso wie beim Schutz vor Ansteckung. Das wird bei der oft sehr unsolidarisch geführten Corona-Debatte leider oft vergessen. Wenn Kinder und Jüngere, AFD und FDP meinen, sie müssten sich nicht mehr schützen, treffen sie mit ihren Infektionen halt immer auch die Älteren, Kranken, Behinderten, die deshalb möglicherweise schwere Schäden erleiden werden oder gar sterben müssen.

    • @berlin ist für alle da:

      Jupp! Positiv überrascht hat mich die FDP-Abgeordnete Kathrin Henning-Plahr, die anhand der Freiheit für die Impfpflicht argumentierte. Die hat verstanden, dass es auch um die Freiheit der Anderen geht und die eigene zum einen Grenzen hat und zum anderen Alle vom Impfen profitieren, spätestens dann, wenn aufgrund des Impfschutzes beschränkende Maßnahmen wie Veranstaltungsteilnahmebegrenzungen, Lockdowns etc. nicht mehr notwendig sind. Sie hat offenbar ihren Liberalismus im Gegensatz zu Kubicki&Co nicht (gänzlich) gegen Egoismus eingetauscht.

  • "Erst wenn „belastbar feststellbar“ ist, dass im Herbst eine Covidvariante kursiert, die zu einer massiven Belastung des Gesundheitswesen führen kann, solle die Impfpflicht beschlossen werden, empfahl der Jurist."



    Super Plan. Und wenn dann in der absehbaren Welle im Herbst belastbar festgestellt wird, dass das Gesundheitswesen überlastet werden kann weil es überlastet oder kurz davor ist, wird dann wieder erklärt, dass die Impfpflicht kein adäquates Mittel ist weil sie gegen die dann aktuelle Welle nicht mehr helfen würde.

    • @Ingo Bernable:

      Ja, das klingt nach dem Prinzip Laschet: erstmal abwarten. Vielleicht kommt es ja nicht so schlimm. Und vielleicht lässt das Virus ja mit sich reden, damit man wenigstens noch nett Weihnachten feiern kann.

  • Was ist noch gleich das Fachgebiet von Jurist*innen gegenüber Virolog*innen und Mediziner*innen? ;-) ... Worauf berufen sich eigentlich die zitierten Jurist*innen? Welche gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnisse führen sie zur Begründung für ihre Position an?



    "Erst wenn „belastbar feststellbar“ ist, dass im Herbst eine Covidvariante kursiert, die zu einer massiven Belastung des Gesundheitswesen führen kann, solle die Impfpflicht beschlossen werden, empfahl der Jurist."



    Klingt nicht nachvollziehbar. So es vorab kaum anderweitige Maßnahmen gibt, kann sich ein Virus sehr schnell ausbreiten, ehe genauere Erkenntnisse über diesen vorliegen, wie in Großbritannien zu beoabachten war. Welche Vorlaufzeit für Impfungen soll es denn zu jenem Zeitpunkt nach J.F. Lindner geben? Vergangenes Jahr war Omikron erst Thema, als es bereits da war, wenn ich mich recht entsinne.



    "„Wenn man im Spätsommer eine Impfpflicht beschließt, dann könnten im September und Oktober problemlos die hauptsächlich gefährdeten 2,8 Millionen ungeimpften Se­nio­r:in­nen zweimal geimpft werden."



    Weil die Impfpflicht dann von jetzt auf gleich radikal umgesetzt werden würde oder die Ungeimpfte dann plötzlich sich sogleich impfen lassen würden? Klingt unrealistisch, finde ich.



    "„Wir können auf keinen Fall 60 Millionen Versicherte anschreiben“, betonte Doris Pfeiffer vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen."



    Wenn ich mich recht entsinne, hatten dies andere Länder (Portugal?) aber getan.

    • @Uranus:

      Wieso sollten Jurist*innen gesundheitswissenschaftliche Erkenntnisse zur Begründung nutzen?



      In einem Rechtsstaat muss jedes Gesetz verfassungskonform sein, völlig unabhängig davon was Virolog*innen oder Mediziner*innen davon halten. Und das zu beurteilen ist die Aufgabe der befragten Jurist*innen. Nicht mehr und nicht weniger.

      • @CrushedIce:

        Die Jurst*innen machen ja nicht nur Referenzen zum GG sondern tätigen auch inhaltliche Aussagen wie "Erst wenn „belastbar feststellbar“ ist, dass im Herbst eine Covidvariante kursiert, die zu einer massiven Belastung des Gesundheitswesen führen kann, solle die Impfpflicht beschlossen werden, empfahl der Jurist." Dummerweise "funktioniert" die Pandemie aber nicht so. Wenn die Welle da ist, ist sie da. Bei Omnikron ist sogar sehr schnell eine Wand dagewesen. Da wird es schwierig/unmöglich vorher schnell alle durchzuimpfen ...

  • Statt irgendwie vorsorglich 18Jährige zu impfen, die im Zweifel keinen Vorteil davon haben, sollte man sich lieber den Risikogruppen zuwenden. Die Impflücke bei Älteren öffnet sich durch den nachlassenden Impfschutz bereits wieder. Man sollte lieber deren Impfung und eine entsprechende Impfkampagne für den Sommer planen. Aber das klappt dann wieder nicht, weil keine Impfzentren mehr und alles so überraschend ...