Russischer Dissident Alexei Nawalny tot: Ein Mord auf Raten
Nawalny wurde isoliert, malträtiert und gefoltert. Nun soll er zusammengebrochen und gestorben sein. Bis zuletzt hat er sich dem Regime widersetzt.
E s ist eine Nachricht, die sich für einige seiner Weggefährten, für Journalist*innen und Aktivist*innen im In- und Ausland so anfühlt wie der 24. Februar vor knapp zwei Jahren: Alexei Nawalny ist tot. Das teilte die russische Gefängnisbehörde FSIN am Freitagnachmittag mit. Nach einem Spaziergang in der Strafkolonie „Polarwolf“ im Dörfchen Charp hinter dem Polarkreis, in dem der 47-Jährige seit Weihnachten einsaß, sei Nawalny zusammengebrochen, der halbstündige Wiederbelebungsversuch habe keinen Erfolg gehabt.
„Um 14.17 Uhr (Ortszeit) stellten die Ärzte den Tod fest“, hieß es. Nach unbestätigten Angaben soll sich ein Blutgerinnsel gelöst und zum Tod geführt haben. Moskauer Ärzte seien für eine forensische Untersuchung in die Region der Jamal-Nenzen aufgebrochen, teilte die FSIN mit.
Auch Nawalnys Anwalt Leonid Solowjow sei nach Charp unterwegs, schrieb Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch bei X, ehemals Twitter. „Wir sind gerade dabei, die Dinge zu klären. Alexei hatte am Mittwoch einen Anwalt bei sich. Da war alles normal“, teilte Solowjow mit. „Wir haben ihn am 12. Februar bei einem Treffen im Gefängnis gesehen. Er war lebendig, gesund und glücklich“, schrieb Nawalnys Mutter, Ljudmila Nawalnaja, bei Facebook.
Alexei Nawalny war der berühmteste russische Oppositionelle. Vor mehr als drei Jahren überlebte er einen Anschlag mit dem Nervengiftgas Nowitschok, mutmaßlich von russischen Geheimdiensten ausgeführt, nun bezahlt er seinen unerschrockenen Kampf gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin doch mit dem Leben.
27 Mal war er in den vergangenen Monaten in Isolationshaft. Nawalnys Ärzte sprachen immer wieder davon, dass die drei Jahre andauernden Qualen kaum ein Mensch aushalten könne. Russlands Liberale wie auch Politiker*innen im Westen bezeichneten Nawalnys Tod als „politischen Mord“. „Es fühlt sich an, als hätte noch ein Krieg begonnen“, schrieb der russische Journalist Alexander Tschernych in seinem Telegram-Kanal.
„Ich habe keine Worte, ich habe nur Hass“, meinte der russischsprachige estnische Philologe Roman Leibow. „Die Verantwortung für seinen Tod hat allein Putin, unabhängig vom formalen Grund“, so Michail Chodorkowski, ehemaliger Ölmagnat und Putins früherer Feind Nummer eins.
Merkel: „Opfer der repressiven Staatsgewalt“
In Moskau legten Menschen Nelken und Rosen vor dem Haus ab, in dem Nawalny vor seiner Vergiftung gewohnt hatte. In europäischen Städten hielten Menschen Plakate in der Hand. „Putin ist ein Killer“, stand darauf. Nawalnys Frau Julia sagte auf der Münchner Sicherheitskonferenz: „Wenn es tatsächlich stimmt, werden Putin und alle, die für ihn arbeiten, nicht straflos davonkommen.“
Die EU machte direkt den russischen Staat für den „tragischen Tod“ Nawalnys verantwortlich. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, Nawalny habe seinen Mut mit dem Tod bezahlt. Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte den Politiker, den sie nach dem Giftanschlag einst in der Berliner Charité besuchte, „Opfer der repressiven Staatsgewalt Russlands“.
Russlands Propagandist*innen ätzten: „Der Westen ist selbstentlarvend. Es gibt noch keine forensische Untersuchung, aber der Schuldige steht für sie schon fest“, schrieb Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums. Margarita Simonjan, die Chefin der staatlichen Medienagentur Rossija Segodnja, teilte lediglich mit: „Nawalny ist tot. Russland schuldet niemandem etwas.“
Präsident Putin weilte derweil in einem Unternehmenspark in Tscheljabinsk am Ural, wo er allerlei Maschinen in Augenschein nahm. Informiert sei der Präsident bereits, teilte sein Sprecher Dmitri Peskow mit. Bei seiner Ansprache vor den Mitarbeiter*innen der Unternehmen ging Putin nicht auf den Tod seines Widersachers ein. Ein Wort des Beileids äußerten weder Putin noch Peskow.
Russlands kremltreue Politiker forderten eine „gründliche Untersuchung, um westliche Informationsangriffe abzuwehren“, wie Sergei Mironow, der Vorsitzende der Partei „Gerechtes Russland“, bemerkte.
Eine unabhängige Untersuchung in einem solch geschlossenen System wie einer russischen Strafkolonie, zumal von einem, der offiziell als „Feind“, „Extremist“ und „Verräter“ wahrgenommen wird und dessen Namen der russische Präsident nicht einmal in den Mund nimmt, dürfte allerdings kaum zu erwarten sein.
Ein Russland ohne Putin
Noch am Donnerstag, dem Tag vor der FSIN-Nachricht, war Nawalny per Videoschalte während einer Gerichtsverhandlung so aufgetreten, wie er es all die Jahre getan hatte: gelassen, gewitzt, gelöst. Keine Schikane konnte ihm seine Ironie nehmen. Er kämpfte abgemagert und stark geschwächt auch noch aus seinem Gefängniskäfig entschlossen für ein demokratisches Russland. Für ein Russland ohne Putin und mit freien Wahlen.
Einen Monat vor Russlands „Wahl“ am 17. März, vor Putins fünfter Wiederbestätigung als Präsident, hat ihn die Staatsmacht ins Grab gebracht, weil sie ihn all die Jahre mit einem absurden Prozess nach dem nächsten und mit immer härteren Haftbedingungen von der Gesellschaft isolierte, malträtierte, folterte.
Putins Regime hat lange vor dem Krieg in der Ukraine, den Nawalny aufs Schärfste verurteilte, seinen Kritiker*innen mit aller Macht klarzumachen versucht: „Legt euch nicht mit uns an.“
Von Berlin zurück nach Russland
Nawalny war 2011 als Antikorruptionsblogger gestartet, um die Bereicherung von hohen Beamten aufzudecken – und wurde mit der Zeit immer politischer. Im ganzen Land entstanden seine Stäbe. Er fand schnell die Sprache, die vor allem von der Jugend als die ihre anerkannt wurde. Endlich einer, der sich was traue, einer, der was bewegen wolle, sagten sie.
Nawalny, selbstbewusst, brutal realistisch und kompromisslos, konnte fesseln. Auch wenn er mit seiner besserwisserischen Art viele Menschen vor den Kopf stieß, hörten sie zu. Er gab vielen Russinnen und Russen die Möglichkeit, an Veränderungen zu glauben. Daran, dass sich etwas bewegen ließe im Land, dass es ein besseres Leben ohne Angst geben könne. Er war ihr Hoffnungsträger, eine Projektionsfläche. Ihr Anti-Putin, der zugänglich war. Der sich mit seiner Tochter Dascha und seinem Sohn Sachar ablichten ließ, der seine Frau Julia vor allen Kameras küsste, auch dann, wenn Polizisten ihn wieder einmal abführten.
Nawalny verschwand für Tage und Wochen in Arrestzellen und kam lächelnd wieder heraus. Bis zur nächsten Demonstration. Es war der Kreml selbst, der ihn zu einer Alternative machte, die es nicht geben darf in einem System, das keine Alternative vorsieht. Dann nahm das Regime Rache an einem Unbeugsamen: mit Nowitschok zunächst (Nawalny überlebte knapp), danach mit jahrelangen Haftstrafen.
Nach seinem Klinikaufenthalt in Deutschland war der Politiker im Januar 2021 zurück nach Russland geflogen. Bewusst. Er wollte reinen Gewissens sein, auf diese Weise zeigen, dass er mit den Menschen in seinem Land ist, dass er aus dem Land heraus für die Freiheit kämpft, die den Russ*innen verwehrt wird. Im Exil, so machte er deutlich, könne er seinem politischen Anspruch schlicht nicht gerecht werden. Er wollte eine glaubwürdige Identifikationsfigur sein.
Der Staat forderte 3 Jahre, 9 Jahre, schließlich 19 Jahre. Wegen Betrug, Veteranenbeleidigung, Veruntreuung, Verherrlichung des Nazismus, wegen Extremismus. Was ihm wirklich vorgeworfen wurde, wussten auch die klügsten Juristen nicht, auch nach dem Lesen von mehreren tausend Seiten an Vorwürfen. Der Störer des Systems sollte einfach verschwinden. Nawalny wurde abgeschoben an den Rand der menschlichen Zivilisation, ins Dorf Charp hinter dem Polarkreis.
Die Sowjetunion hatte vorgeführt, wie mit Menschen zu verfahren sei, die nicht ins vermeintlich „Normale“ passen. Die Enkel der damaligen Henker machen sich in der Jetztzeit an die von ihnen ausgemachten „Feinde“ heran. Das System der „Zone“, wie das Gefängniswesen in Russland genannt wird, ist eine Welt für sich. Wer in sie hineingestoßen wird, schafft es kaum hinaus.
Nawalny, der stets Willensstarke und ironisch Feixende, hat es nicht aus der „Hölle“ geschafft, wie selbst Strafvollzugsbeamte ihre Strafkolonien nennen. Seinen Anhänger*innen hat er immer eine Überzeugung mit auf den Weg gegeben: „Gebt niemals auf!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Absagen vor Kunstsymposium
Logiken der Vermeidung