Roderich Kiesewetter über Ukrainekrieg: „Hysterie ist fehl am Platz“
Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter fordert mehr Waffenlieferungen. Ein Gespräch über Ängste vor einer Eskalation und Putins Kriegsführung.
taz: Herr Kiesewetter, am Montag ist eine russische Rakete in ein Kinderkrankenhaus in Kyjiw eingeschlagen. 30 Zivilisten wurden getötet. Gibt es aus Ihrer Sicht noch sichere Gebiete in der Ukraine?
Roderich Kiesewetter: Nein, Russland führt einen umfassenden Krieg gegen die zivile Infrastruktur in der Ukraine. 90 Prozent der Angriffe Russlands richten sich nicht gegen das Militär, sondern gegen Elektrizitätswerke, Wasserwerke, Krankenhäuser, Schulen, Kultureinrichtungen, Kirchen. Insofern gibt es keine sicheren Gebiete in der Ukraine.
Der 60-jährige ist Außen- und Verteidigungsexperte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Der Oberst a. D. war zudem von 2011 bis 2016 Präsident des Verbands der Reservisten der Bundeswehr.
Was folgt daraus?
Nicht umsonst haben Länder wie die baltischen Staaten und Skandinavien angeregt, die Luftverteidigung des westlichen Teils der Ukraine mit eigenen Mitteln zu unterstützen. Das würde der Ukraine helfen, ihren schon knappen Zivilschutz in die besonders angegriffenen Gebiete im Osten und Süden zu verlagern.
Damit wären Soldaten aus Nato-Staaten direkt am Ukraine-Krieg beteiligt. Wollen Sie das wirklich?
Das ist keine Kriegsbeteiligung, sondern ist vom Boden von Nachbarländern aus machbar! Das wäre eine „Koalition der Willigen“, an der sich Deutschland aus verschiedenen Gründen leider nicht beteiligen würde. Die Soldaten würden der Ukraine auf Grundlage der Charta der Vereinten Nationen helfen, nicht des Nato-Vertrages. Laut UN-Charta darf jedes Land dem Opfer eines Angriffskrieges helfen.
Ist das nicht etwas spitzfindig? In diesem Krieg unterstützt der Westen Kyjiw gegen die russische Aggression. Ein Einsatz in der Ukraine wäre aber doch eine gefährliche Eskalation.
Selbstverteidigung ist nie eine Eskalation. Die Eskalation geht immer von Russland aus. Als Deutschland am Anfang des Krieges weder Panzer noch Kampfflugzeuge lieferte, hat Russland das nicht als Zeichen der Deeskalation gewertet, sondern als Zeichen der Schwäche. Putin hat damals begonnen, die zivile Infrastruktur anzugreifen und 15 Millionen Menschen im Jahr 2022 zur Flucht gezwungen. Die heutigen Verluste der Ukraine sind die Versäumnisse von vor zweieinhalb Jahren. Wie von mir schon länger gefordert, haben die Unterstützerstaaten Kyjiw inzwischen erlaubt, mit importieren Waffen grenznah russische Stellungen anzugreifen – ohne dass dies den Krieg entgrenzt hat.
Falls Polen oder Litauen militärisch westukrainischen Luftraum sichern, könnte Russland militärische Stellungen dort angreifen …
Das ist hypothetisch. Russland würde dies nicht tun.
Wenn doch, dann wäre das der Bündnisfall, also ein Krieg zwischen der Nato und Russland. Oder sehen Sie das anders?
Ja, das wäre der Bündnisfall. Aber ich will es zuspitzen: Wir wollen uns nicht als Kriegspartei sehen, aber für Putin sind wir wegen der Unterstützung der Ukraine schon Kriegsziel. Das zeigen die Zerstörung einer tschechischen Munitionsfabrik vor zwei Jahren und die gezielten Tötungen in Litauen. Putin bezeichnet uns als Feind. Deswegen gilt es sicherlich, vorsichtig und überlegt zu handeln. Aber wir dürfen die Ukraine nicht sich selbst überlassen. Gravierend wäre es, wenn wir ihren Zerfall zulassen würden und es zu einer Massenflucht kommt. Das müssen wir verhindern.
Macht Ihnen das Szenario eines Krieges zwischen Russland und der Nato keine Angst?
Nein, weil Putin nüchtern und rational kalkuliert. Er will zeigen, dass die Nato nicht handlungsfähig ist, und nutzt dazu hybride Angriffe, die unterhalb der Schwelle dessen bleiben, was wir als Krieg verstehen. Wir begreifen nicht, dass Putin bei uns Ängste vor dem Bündnisfall schürt und niedrigschwellig geschickt sein imperiales Projekt vorantreibt. Putins Ziel ist die Ausweitung der russischen Föderation auf die früheren Gebiete der Sowjetunion. Dafür versucht er, das Vertrauen in Nato und EU zu zerstören.
Sie haben gefordert, dass Deutschland die Ukraine mit Waffen versorgen soll, mit denen sie auch russische Ministerien angreifen kann …
Nein. Das unterstellt mir Sahra Wagenknecht. Aber das ist falsch.
Was ist denn richtig?
Ich habe gesagt, wir müssen die Ukraine befähigen, den Krieg nach Russland zu tragen. Mit genug Unterstützung ist die Ukraine fähig, solche Waffen selbst zu produzieren. Gelieferte Waffen sind ohnehin ukrainische Waffen. Das russische Verteidigungsministerium und das Geheimdienstministerium sind natürlich legitime militärische Ziele. Kyjiw wird zerstört, Charkiw wird zerstört und die Ministerien, die das organisieren, sitzen nun mal in Moskau.
Glauben Sie wirklich, dass Raketenangriffe auf Moskau dabei helfen, dem Ziel einer Beendigung des Krieges näherzukommen?
Es kann der Ukraine helfen, der russischen Aggression zu widerstehen. Die Ukraine zerstört kriegswichtige Raffinerien, Munitionsfabriken und militärische Infrastruktur – keine Schulen wie Russland. Ich räume allerdings ein, dass die Wortwahl „Ministerien“ falsche Bilder provoziert hat. Gemeint waren nicht das Bildungs- oder Kulturministerium, sondern die Orte, an denen der Angriffskrieg gegen die Ukraine geplant wird.
Damit haben Sie Wagenknecht eine Steilvorlage geliefert.
Wagenknecht und die AfD verunsichern die Bevölkerung und schüren Illusionen über ein mögliches Kriegsende. Damit nutzen sie Putins Absichten.
Laut ARD-Deutschlandtrend gehen mehr als einem Drittel der Befragten die Waffenlieferungen an die Ukraine zu weit, im Osten sieht das sogar die Hälfte der Bevölkerung so. Beunruhigt Sie das nicht?
Wenn der Kanzler Orientierung geben würde, wie der seinerzeitige Kanzler in Sachen Afghanistan, dann würde er größere Mehrheiten für eine Unterstützung der Ukraine gewinnen. Ich unterstelle ihm keine Unredlichkeit, aber ich glaube, er bleibt unter seinen Möglichkeiten. Es bringt nichts, diesen Krieg aus dem Homeoffice zu beobachten, aus der Westentasche zu finanzieren und gewisse Notwendigkeiten zu verschweigen. Mir fehlt in der öffentlichen Debatte, dass es hier aus russischer Sicht um eine Systemauseinandersetzung geht.
Sie sind also gegen jegliche Verhandlungen mit Russland?
Nein. Es wäre wünschenswert, dass am Ende Verhandlungen über ein Kriegsende stehen. Aber wir sollten nicht Putins Gelüste befriedigen, indem wir versuchen, die Ukraine so schnell wie möglich in Verhandlungen zu bringen. Der Kernpunkt ist, dass wir nicht von ihr erwarten sollten, dass sie die Annexion der Krim und die Annexion der vier Territorien einfach als gegeben hinnimmt. Denn dann würden wir sagen, die Stärke des Rechts gilt nicht, sondern das Recht des Stärkeren. Die Ukraine hält seit zweieinhalb Jahren gegen die zweitstärkste Armee der Welt aus. Wir dürfen ihr nicht in den Rücken fallen.
Sie haben gesagt, es gäbe ein „typisch deutsches, fast schon hysterisches Eskalationsgerede“. Ist es nicht zu einfach, Ängste als irrational zu denunzieren?
Putins Strategie ist es, immer weiter zu eskalieren. Unsere Verantwortung ist es, mit Härte und Diplomatie zu antworten. Da bin ich ganz bei Annalena Baerbock. Russland hält uns für einen Kriegsgegner, ob uns das passt oder nicht. Wir sollten lieber ein starker als ein schwacher Gegner sein und nicht glauben, mit Softpower den Konflikt einfrieren zu können.
Russland ist eine Atommacht. Laut Berichten von US-Geheimdiensten gab es im Herbst 2022 in der russischen Armee ernsthafte Debatten, ob Russland kleine Atomwaffen einsetzen sollte. Ist es hysterisch, die US-Geheimdienste ernstzunehmen?
Hysterie ist fehl am Platz. Die russische Nukleardoktrin besagt, dass Atomwaffen nur bei einer Bedrohung des russischen Kerngebietes eingesetzt werden dürfen. Es gibt eine systematische Kontrolle über Nukleareinsätze wie in den USA. Anders als die USA drohen die Russen aber mit ihren Atomwaffen, darauf springen besonders die Deutschen an. Es geht um Einschüchterung, mehr nicht.
Russland-Experten glauben, dass auch der Atomwaffeneinsatz inzwischen völlig von Putin abhängt. Muss der Westen vorsichtiger, berechenbar auftreten, um hysterische Übersprungshandlungen in Moskau auszuschließen?
Putin ist weder hysterisch noch paranoid, sondern ein kühl kalkulierender Geheimdienststratege.
Woher wissen Sie das?
Das ist meine These, so wie das andere auch Thesen sind.
Und wenn Sie mit Ihrer Einschätzung falsch liegen?
Die russischen Atomwaffen stehen unter militärischer Kontrolle, und es gilt ein Prinzip mit mehreren Schlüsseln. Laut russischer Militärstrategie können aber taktische Nuklearwaffen wie normale Gefechtsfeldwaffen eingesetzt werden. Deshalb haben China und die USA Russland 2022 klar gemacht, dass Moskau bei einem Atomwaffeneinsatz global isoliert würde. Die nukleare Eskalation sehe ich nicht, weil Putin sich damit tief ins eigene Fleisch schneiden würde.
Während Sie sich für eine stärkere Unterstützung der Ukraine engagieren, wird in Ihrer Partei über mögliche Koalitionen in Sachsen, Thüringen oder Brandenburg mit Wagenknechts BSW diskutiert, das den Besuch des ukrainischen Präsidenten im Bundestag boykottiert hat. Wie passt das zusammen?
Das populistische Agieren des BSW sollte uns alle nachdenklich machen. Es ist ein Bündnis zur Spaltung unserer Gesellschaft und des Westens. Da wünsche ich mir Haltung, Orientierung, einen klaren Kompass. Meine ganz persönliche Auffassung ist, dass es nicht darum gehen kann, um jeden Preis zu regieren. Eine Zusammenarbeit mit dem BSW halte ich persönlich für absolut untragbar und undenkbar. Aber jetzt gilt es erst mal, den Kräften der demokratischen Mitte Zuversicht zu geben, dass es sich lohnt, für die Stärke des Rechts und der Toleranz ebenso wie für eine vernünftige Wehrhaftigkeit zu streiten.
Ihr Fraktionskollege Alexander Dobrindt fordert, Geflüchtete in die Ukraine zurückzuschicken, wenn sie in Deutschland arbeitslos sind. Das BSW sympathisiert mit dieser Idee. Was halten Sie davon?
Das ist ein Beschluss der CSU-Landesgruppe von ihrer Klausur vom Januar in Seeon, der jetzt nach außen getragen worden ist. Ich glaube, dass es hilfreicher ist, sowohl den Menschen hier eine Perspektive zu geben, als auch ihnen den Weg in Arbeit deutlich zu erleichtern, zum Beispiel durch raschere Anerkennung von Berufsabschlüssen.
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