Regierungskrise in Österreich: Keine Koalition zwischen ÖVP und SPÖ
Der Rücktritt von Kanzler Nehammer stürzt Österreich in eine Regierungskrise. FPÖ-Chef Kickl könnte als Gewinner aus dem Chaos hervorgehen.
Nach stundenlangen Verhandlungen platzte Samstagabend dann aber die Bombe: Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer kündigte den Ausstieg seiner Partei sowie seinen Rücktritt an. „In wesentlichen Punkten ist mit der SPÖ keine Einigung möglich“, erklärte Nehammer in einem Video auf X. „Ich werde mich als Bundeskanzler und auch als Parteiobmann der Volkspartei zurückziehen und einen geordneten Übergang ermöglichen.“
Unmittelbar zuvor machte schon die SPÖ das Scheitern bekannt. „Die Sozialdemokratie hat nach dem gestrigen Ausstieg der Neos die Verhandlungen mit der ÖVP heute fortgesetzt. Diese Verhandlungen wurden von der ÖVP nun beendet“, sagte SPÖ-Vorsitzender Andreas Babler. Seitdem schieben sich beide Seiten gegenseitig die Schuld zu. Die jeweils andere Partei habe sich zu wenig kompromissbereit gezeigt.
Zwar bedankte sich Babler ausdrücklich bei Nehammer, der sich durchaus um Kompromisse bemüht habe. „Am Ende hat sich in der ÖVP aber jener Flügel durchgesetzt, der von Anfang an mit der FPÖ geliebäugelt hat“, sagte Babler. Nehammer ließ die Hintergründe unausgesprochen und stellte sich keinen Fragen. Klar ist: Mit seinem Rücktritt, der schon in den kommenden Tagen erfolgen soll, hinterlässt Nehammer einen Scherbenhaufen, nicht nur in seiner Partei.
Kommt jetzt doch die FPÖ in die Regierung?
Das wahrscheinlichste Szenario ist nun tatsächlich eine Zusammenarbeit zwischen der konservativen ÖVP mit der rechtsradikalen FPÖ. Eine solche gab es zuletzt von 2017 bis 2019 unter Kanzler Sebastian Kurz, bevor sie krachend infolge des Ibiza-Skandals gescheitert ist. Bei der Parlamentswahl letzten September haben sich die Freiheitlichen von ebendiesem erholt und erreichten mit knapp 29 Prozent Platz eins. Dass mit der FPÖ eine dezidiert antieuropäische, russlandfreundliche und illiberale Partei an die Macht käme, wird bisher noch kaum diskutiert.
Inhaltlich trennt ÖVP und FPÖ in vielen Politikfeldern nicht viel. Nun ist auch Nehammer weg, der eine Zusammenarbeit mit FPÖ-Parteichef Herbert Kickl ausgeschlossen hatte. Hinter den Kulissen machen einige Schwergewichte der ÖVP schon lange Druck. Auch jetzt forderte der Tiroler Landeshauptmann, Anton Mattle von der ÖVP, „rasche Handlungsfähigkeit der Bundespolitik“. Das lässt sich kaum anders denn als Aufforderung zu einer FPÖ-Koalition lesen.
Wie es nun weitergeht, liegt nun unter anderem am Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen. Er hatte im Herbst die FPÖ übergangen und entgegen der Usancen keinen Regierungsauftrag an sie als erstplatzierte Partei vergeben. Begründet hat er dieses Vorgehen jedoch schlüssig, nämlich damit, dass weder SPÖ noch ÖVP zu einer Koalition mit Kickl bereit waren.
Gerüchte über Kurz als Nachfolger verbreiteten sich schnell
Fraglich ist, ob Van der Bellen in der jetzigen Lage nicht doch einen Regierungsbildungsauftrag an Kickl vergibt. Prinzipiell bräuchte Kickl den aber gar nicht: Gemäß Bundesverfassung müssten sich FPÖ und ÖVP schlicht zusammenfinden und mit einer gemeinsamen Mehrheit zum Bundespräsidenten gehen. Dem bliebe realpolitisch aktuell nicht viel anderes übrig, als Kickl zum Kanzler zu machen. Denkbar wäre, neben Neuwahlen, bloß noch die Lösung einer Expertenregierung. Eine solche gilt aber als unwahrscheinlich.
Rasch hatten sich am Samstag auch Gerüchte einer neuerlichen Übernahme der ÖVP durch deren einstige Lichtgestalt Sebastian Kurz verbreitet. In einem solchen Szenario hätte Kurz wohl auf Neuwahlen gedrängt, in der Hoffnung neuerlicher Höhenflüge. Die Gerüchte waren aber so schnell wieder vom Tisch, wie sie aufgekommen waren. Dass ausgerechnet er manchen als Wunsch-Nachfolge Nehammers galt, sagt einiges über die Verfasstheit der ÖVP. Kurz war es, der mit zahlreichen Skandalen, autoritären Anwandlungen und wenig Achtung vor demokratischen Institutionen einen Scherbenhaufen hinterlassen hat.
Der Sonntag wird möglicherweise ein entscheidender Tag: Ab 10 Uhr tagen die ÖVP-Gremien. Am Nachmittag steht ein Gespräch Nehammers mit dem Bundespräsidenten an. Der wiederum dürfte sich im Lauf des Tages auch an die Öffentlichkeit wenden, wie es denn nun weitergehen soll. Ein Wort mitzureden wird dabei auch die FPÖ haben. Gut möglich, dass sie angesichts der aktuellen Turbulenzen auf Neuwahlen drängt. Dann dürfte sie noch mehr Stimmen einfahren: Aktuelle Umfragen bescheinigen ihr 35 Prozent und mehr.
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