RKI-Chef Wieler zu Corona und Migration: Ungleichheit macht krank

In der „Bild“-Zeitung stellt Lothar Wieler Covid-Infektionen als ‚Integrationsproblem‘ dar. Das ist rassistisch, offenbart aber auch ein Problem der Krankenstatistik.

Lothar Wieler setzt sich eine OP-Maske auf

Seine Behörde ist zuständig für den Schutz der Bevölkerung vor Krankheiten: RKI-Chef Lothar Wieler Foto: Michael Kappeler/dpa

Obwohl die Neuinfektionen steigen, wurden am Mittwoch „Lockerungen“ und somit wohl auch eine dritte Welle beschlossen. Am gleichen Tag suggerierte die Bild-Zeitung, dass der Großteil der Covid-Intensivpatient*innen Menschen mit Migrationshintergrund seien – womit sie schlechte Deutschkenntnisse meint. Der Autor beruft sich auf Zitate von RKI-Chef Lothar Wieler und weiteren Medizinern. „Es ist ein Tabu“: Man dürfe nicht darüber sprechen, sonst habe man eine Rassismusdebatte an der Backe.

Ja, hat man auch – aber aus einem anderen Grund als dass es verboten ist, rassistische Sachen zu erzählen. In der Bild wird versucht, eine neue Integrationsdebatte wie in den Nullerjahren aufzumachen. In einem Wieler zugeschriebenen Zitat redet er von Parallelgesellschaften. „Beinharte Sozialarbeit in Moscheen“ sei nötig, aber die erreiche man nicht. Er redet von 4,8 Prozent der Bevölkerung, deren Anteil aber mehr als 50 Prozent der In­ten­siv­pa­ti­en­t*in­nen ausmache. Gemeint sind offensichtlich Muslime. Ein Chefarzt redet von 90 Prozent der intubierten Pa­ti­en­t*in­nen mit „Migrationshintergrund“, die er „Patienten mit Kommunikationsbarriere“ nennt.

Das RKI stellt später klar, dass sich die 50 Prozent nur auf drei Bespiele aus Großstädten beziehen und es sich nur um Überlegungen und keine abschließenden Feststellungen gehandelt habe. Die einzige konkret revidierte Aussage bleibt diese. So bleiben Anekdoten wie die von Wieler angeblich bemühte verstorbene Mutter eines „Clanchefs“ bestehen. Auch andere Behauptungen aus dem Artikel wurden aber bereits durch Faktenchecks entkräftet.

Auf der Intensivstation? Selbst schuld

Der Subtext: Wer mit Covid auf der Intensivstation landet, ist ein bisschen selbst schuld. Darf man aber nicht sagen. Außerdem: Die Intensivstationen sind nicht etwa deshalb voll, weil die Regierung die Bevölkerung nicht angemessen vor der Pandemie schützt, sondern weil die Menschen sich nicht an die Regeln halten. Und zwar Menschen mit schlechten Deutschkenntnissen. So werden die Verhältnisse auf den Kopf gestellt und die Verantwortung den Schwerkranken selbst zugeschoben. Zur Erinnerung: Wieler ist der Kopf der Behörde, die für Krankheitsprävention zuständig ist.

Die DIVI (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfalldisziplin) widersprach prompt, dass es nicht stimmen würde, dass 90 Prozent der Covid-Intensivpatient*innen einen Migrationshintergrund hätten. Zum einen gebe es die Daten nicht, zum anderen würden alle Pa­ti­en­t*in­nen gleich behandelt, die Aussagen seien diskriminierend.

Es ist schön, dass die DIVI der rassistischen Stoßrichtung des Bild-Artikels widerspricht. Allerdings wird es als anstößig dargestellt, dass es tatsächlich einen höheren Anteil von wie auch immer definierten Menschen mit Migrationshintergrund auf den Intensivstationen geben könnte. Denn dass es plausibel sein könnte – wenn auch bundesweit nicht im behaupteten Ausmaß –, ist ein Problem. Und es ist auch ein Problem, dass wir es nicht wissen, weil entsprechende Daten nicht erhoben werden.

Denn wenn wir nicht wissen, was die Risikofaktoren sind, können Menschen auch nicht entsprechend geschützt werden. (Jetzt mal unabhängig davon, dass „Risikogruppen schützen“ hauptsächlich eine Chiffre dafür geworden ist, dass sich mehr als ein Drittel der Bevölkerung alleine zu Hause einschließen soll, damit sich der Rest nicht einzuschränken braucht).

Es fehlen Daten

Weil wir Daten anhand der Zugehörigkeit zu rassistisch diskriminierten Gruppen kaum erheben, können wir sie auch schlecht sichtbar machen und verändern. Deswegen gibt es Initiativen wie den Afrozensus, die das ändern wollen. Der Datenmangel betrifft die Ungleichheiten, die es schon vor der Pandemie gab – und die jetzt durch sie verstärkt werden. Wer in beengten Verhältnissen wohnt, bei der Arbeit viel Kontakt zu Menschen haben muss oder auch dem Virus direkt ausgesetzt ist, wie zum Beispiel Personal in medizinischen Bereich, ist stärker gefährdet. Und ja, Zugang zu medizinischer Versorgung und zu verständlichen Informationen ist auch nicht gleichermaßen gegeben.

Wir wissen aus anderen Ländern, dass aufgrund von Rassismus diskriminierte und marginalisierte Gruppen ein teilweise deutlich höheres Risiko haben zu erkranken, schwere Verläufe zu haben, und zu sterben. Indigene und Schwarze US-Amerikaner*innen haben beispielsweise ein gegenüber Weißen mindestens doppelt so hohes Risiko für einen tödlichen Covid-Verlauf (Stand März 2021, um den Faktor Alter bereinigt.)

Wir wissen aber auch aus Deutschland, dass Armut beziehungsweise ALGII-Bezug das Risiko für schwere Verläufe stark erhöht. Viele Benachteiligungen können das Risiko für Menschen verschärfen, die in Deutschland unter „mit Migrationshintergrund“ gefasst werden – diese sind sehr vielfältig, mit Faktoren wie Alter, Geschlecht, Religion, finanziellem Status verschränkt. Sprachkenntnisse sind wohl einer dieser Faktoren – seine Gewichtung unklar. Man lehnt sich wohl nicht sehr weit aus dem Fenster zu vermuten, dass die meisten Menschen verstanden haben, dass Abstand und Masken wichtig sind. Die Frage ist, ob sie überhaupt Abstand halten können, etwa in Massenunterkünften oder auch im ÖPNV zur Rush-Hour auf dem Weg zur Arbeit.

Ins öffentliche Bewusstsein sind vor allem extrem ausbeuterische und gefährliche Arbeitsverhältnisse wie in der Fleischindustrie geraten. Doch systematische Daten fehlen, sowohl für die Risikofaktoren, sich anzustecken, als auch zu Diskriminierung und ungleichem Zugang im Gesundheitswesen selbst.

Es sind zwei unterschiedliche Probleme, die jetzt in der Pandemie zusammenlaufen: Daten zu Diskriminierungskategorien werden nicht systematisch erfasst. Und Daten zum Infektionsgeschehen sind mangelhaft: Wo stecken sich Leute wirklich an? Wir wissen es nur über einen Bruchteil der Fälle.

In der Schublade

In der Standardantwort der RKI-Pressestelle zu den Bild-Zitaten wird auf eine Handreichung an die Gesundheitsämter verwiesen mit dem Titel „Allgemeine Hinweise für Gesundheitsbehörden zur Kontaktaufnahme und Zusammenarbeit mit marginalisierten Bevölkerungsgruppen“. Darin werden zum einen diskriminierende Strukturen als Faktoren von Ausbrüchen analysiert und zum anderen ein inklusiver Ansatz aufgezeigt, um diese zu verhindern:

„Grundhaltung der vorliegenden Hinweise ist, dass es weder ‚schwer erreichbare‘ noch ‚schwierige Populationen‘ gibt. Mit antidiskriminierenden und adressatinnen- und addressatengerechten Vorgehensweisen werden alle Bürgerinnen und Bürger befähigt, bei der Eindämmung der Pandemie mitzuwirken.“ Eine Anfrage, inwiefern die Gesundheitsämter nach diesen Hinweisen arbeiten, blieb bislang unbeantwortet. Auch wenn dies die offizielle Haltung vom RKI ist – Aufmerksamkeit bekam Wieler genau mit den Aussagen, die laut diesem Papier vermieden werden sollen.

Die RKI-Handreichung endet mit: „Reproduktion von Stereotypen und Vorurteilen sollte sowohl in der internen Kommunikation, sowie in der Berichterstattung und in der Planung und Umsetzung von Maßnahmen (Do-no-harm-Prinzip) vermieden werden.“ Vielleicht sollte Wieler es lesen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Die Coronapandemie geht um die Welt. Welche Regionen sind besonders betroffen? Wie ist die Lage in den Kliniken? Den Überblick mit Zahlen und Grafiken finden Sie hier.

▶ Alle Grafiken

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.