Proteste nach Lina-E.-Urteil: Zittern vor „Tag X“
Nach ihrer Haftverschonung ist Lina E. zurück in Leipzig. Die Polizei dort rüstet sich für einen Großeinsatz am Samstag, die Stadt verhängt ein Demoverbot.
Am Abend zuvor war die linke Studentin für viele überraschend aus der U-Haft entlassen worden – ganz am Ende einer rekordverdächtigen, neuneinhalbstündigen Urteilsverkündung in dem Prozess gegen sie und drei Mitangeklagte. Anderthalb Jahre hatte das Oberlandesgericht Dresden gegen das Quartett wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und sechs schweren Angriffen auf Rechtsextreme verhandelt. Am Ende verurteilte das Gericht Lina E. zu 5 Jahren und 3 Monaten Haft, ihre Mitangeklagten zu Haftstrafen bis zu 3 Jahren und 2 Monaten.
Die Bundesanwaltschaft hatte für Lina E. noch acht Jahre Haft gefordert. Das Gericht hielt es aber nur bei vier der sechs Angriffe für nachweisbar, dass die Studentin daran beteiligt war. Auch ihre angeklagte Rädelsführerschaft verneinten die RichterInnen: Lina E. habe zwar eine „herausgehobene Rolle“ in der kriminellen Vereinigung gehabt, aber nicht „prägend“ genug, um als Anführerin zu gelten.
Dann hob das Gericht E.s Haftbefehl auf: Weil diese als bisher nicht Vorbestrafte mit einer Haftentlassung nach zwei Dritteln der Strafe rechnen könne und bereits zweieinhalb Jahre Haft verbüßt habe, sei derzeit nicht mehr von einer Fluchtgefahr auszugehen. Sobald das Urteil rechtskräftig ist, muss Lina E. die Reststrafe verbüßen.
Das Gericht verhängte bis dahin Meldeauflagen: Zweimal wöchentlich muss sich Lina E. nun auf dem Leipziger Polizeirevier melden und musste ihre Ausweispapiere abgeben. Die Bundesanwaltschaft hatte dagegen vor einer Haftverschonung von Lina E. gewarnt, vor allem wegen ihres seit drei Jahren abgetauchten Verlobten, der sich auch an Angriffen auf Rechtsextreme beteiligt haben soll.
Auch international wird zur „Tag X“-Demo aufgerufen
Derweil ruft die linksradikale Szene zum Großprotest wegen der Urteile im Lina-E.-Prozess auf: Am Samstag soll eine „Tag X“-Demonstration in Leipzig stattfinden, die auch international beworben wird. Zudem gibt es einen Aufruf von Autonomen, für jedes verhängte Haftjahr 1 Million Sachschaden zu verursachen – und verhängt wurden 13 Haftjahre.
Die Leipziger Polizei bereitet sich nach eigener Auskunft auf einen ihrer größten Einsätze seit Jahren vor. Polizeikräfte aus mehreren Bundesländern und von der Bundespolizei sollen anrücken, auch Polizeihubschrauber und stationäre Kameras zum Einsatz kommen. Von Freitagabend bis Sonntagabend gilt zudem ein „Kontrollgebiet“ im Stadtzentrum. Kontrolliert werden sollen auch Pkw- und Bahnanreisen in die Stadt.
Die Leipziger Polizei begründet die Vorbereitungen mit „Aufrufen zu Militanz und zum Teil massiven Gewaltankündigungen“. Man stelle sich auf einen „teilweise unfriedlichen Verlauf mit hohem Schadenspotenzial“ ein. Erschwert wird der Einsatz, weil am Samstag in Leipzig auch ein Stadtfest, ein Großkonzert von Herbert Grönemeyer und das Sachsenpokalfinale stattfinden. Die Polizei appellierte auch an Autohäuser oder Baufirmen, Schutzmaßnahmen zu treffen, da sie zum Ziel autonomer Angriffe werden könnten.
Die Stadt verkündete am Donnerstagabend dann schließlich ein Verbot der Demonstration. Nach den Polizei- und Verfassungsschutzprognosen sei von einem „unfriedlichen Versammlungsverlauf“ auszugehen, der die „öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährden“ würde. Nur ein Verbot des Aufzugs könne dies verhindern. Die autonome Szene hatte aber bereits in Aufrufen klargestellt, auch im Falle eines Verbots am Samstag in der Stadt protestieren zu wollen.
Wüste Demonstrationen bereits nach dem Urteil
Bereits am Mittwochabend, nach dem Urteil in Dresden, war es zu Demonstrationen in mehreren Städten gekommen. In Leipzig, Dresden oder Bremen kam es zu Würfen von Steinen, Flaschen und Pyrotechnik auf Beamte. In Leipzig wurde zudem ein Hubschrauberpilot mit einem Laserpointer geblendet.
Jochen Kopelke, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, sprach von „brutalen Angriffen“, die ihn „erschüttern“. Es sei „bitter“, dass Lina E. nun frei sei, Linksextreme sich auf Gewalt vorbereiteten und die Polizei deren Demonstrationen schützen müssten.
Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte vor „gesunkenen Hemmschwellen“ in der linksextremen Szene und „äußerster Brutalität“ gesprochen. Die Sicherheitsbehörden würden die Szene in den kommenden Tagen und Wochen „noch stärker in den Fokus nehmen und konsequent einschreiten, wenn es zu Straf- und Gewalttaten kommt“.
Union warnt vor „Racheterror“
CDU-Innenexperte Alexander Throm sagte der taz, die Strafhaft für Lina E. bedeute, „dass Deutschland ein Stück weit sicherer wird“. Nun müsse man wachsam sein und dürfe „den Linksextremisten keine Chance für ihren angekündigten Racheterror geben“. Auch die Letzten in der Ampel, „die den linksextremen Terror verharmlosen“, müssten nun „aufwachen“, so Throm.
Timon Dzienus, Vorsitzender der Grünen Jugend, twitterte dagegen, der Prozess gegen Lina E. sei „völlig übertrieben und auf fragwürdigen Indizien beruhend“. Auch die sächsische Juso-Vorsitzende Mareike Engel sprach von „gezielten Repressionen gegen Antifaschist*innen“, die mit dem Lina-E.-Urteil „einen ihrer Höhepunkte erreichen“.
Auch Unterstützer:innen von Lina E. hatten die Urteilsverkündung im Gericht mit Unmutsrufen begleitet. Justizwachleute reagierten darauf teils rabiat. Die Verteidigung von Lina E. kündigte bereits Revision an: Die Haftstrafe sei „in keiner Weise akzeptabel“.
Die Haftverschonung am Ende des Prozesstages quittierten die Zuhörenden dagegen mit Applaus, Lina E. selbst rang um Fassung. In dem Prozess hatte sie zuvor Aussagen zu den Vorwürfen verweigert, aber angekündigt, nach einer Haftentlassung ihr Studium der Erziehungswissenschaften fortzusetzen oder die in der JVA begonnene Tischlerinausbildung. Als sie am Mittwochabend das Gericht verließ, umging sie wartende Fotografen und Unterstützer:innen und brauste im Auto ihres Anwalts davon. Bisher wird daher auch nicht damit gerechnet, dass sie am Samstag auf der „Tag X“-Demonstration oder anderen Kundgebungen auftaucht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen