Politische Debattenkultur in Deutschland: Diskursive Unfähigkeit
Die deutsche Öffentlichkeit verliert sich gern im Klein-Klein. Bis sich in Krisen zeigt: Auf komplexere Fragen ist niemand vorbereitet.
P utin ist Putin, und er hat nie vorgegeben, etwas anderes zu sein als Putin. Kein Despot muss sich die Mühe machen, den Westen zu täuschen, der Westen täuscht sich schon selbst. Demokratische Regierungschefs reisen zu Diktatoren und wagen es kaum, Menschenrechts- oder Freiheitsfragen auf die Agenda zu setzen – Diplomatie heißt das dann, der Dialog muss fortgesetzt werden! Fortgesetzt wird jedoch hauptsächlich der Handel, der Dialog reißt ab.
Warum wurde in den letzten Jahren die sicherheitspolitische Debatte nicht aufrichtig geführt: Wo war die breitere gesellschaftliche Debatte darüber, wie abhängig wir uns von Putin machen dürfen? Es gab tatsächlich keinen Plan B für den Katastrophenfall, der jetzt eingetreten ist. Wir sind abhängig; sorry, auf jeden Fall bis zum Winter untergraben wir unsere eigenen Sanktionen gegen Putin! Der beste Rat bisher ist, dass wir Strom sparen sollen, es gibt ja auch Pullis.
Es sind eben solche Vorschläge, die zeigen, wie wenig geübt die deutsche Öffentlichkeit noch darin ist, über die Lage der Welt nachzudenken. Heizung an- und ausdrehen, das können wir anscheinend verarbeiten, aber das Wissen über Geopolitik, die Bedeutung Deutschlands oder gar der liberalen Demokratien in der Welt ist kaum ein Thema in den Alltagsgesprächen dieses Landes. Politik ist in Deutschland eine immer kleinteiligere Frage geworden, und der Umgang mit der Coronapandemie war exemplarisch für unsere diskursive Unfähigkeit: Wir haben uns über Kleinstmaßnahmen von Bundesland zu Bundesland gestritten, wir haben allen mehr oder minder erfolgreichen Ministerpräsidenten die Bühne geboten, obwohl sie nichts zu sagen hatten – gelöst haben wir die Probleme damit noch lange nicht.
In Deutschland lieben wir den diskursiven Nebel. Vier Talkshows bieten uns die Öffentlich-Rechtlichen regelmäßig, alle haben fast zwei Jahre lang ausschließlich die pandemische Lage beackert. Natürlich kann man sagen, das lag an der historischen Herausforderung, es lag aber auch daran, dass es der deutschen politischen Diskurskultur entspricht, das Klein-Klein aufzublasen, so zu tun, als verstehe man in den Redaktionen den armen Michel oder die Luise in Bottrop; ich weiß nicht, wie man diese Kunstfiguren des mittelmäßigen Verstehens im Journalismus sonst noch nennt.
Diese Vorstellung, dass die Bürgerinnen und Bürger im Durchschnitt eben nicht in der Lage wären, strukturelle Fragen in den Blick zu nehmen, Verbindungen zu ziehen und so nach Schaltstellen zu suchen, an denen man Größeres bewegen könnte. Dieses beharrliche Unterschätzen der demokratischen Öffentlichkeit, tausend Nostalgiesendungen wurden in den letzten zwei Jahren produziert, man will uns ja Ablenkung schenken, daher auch die Behauptung: Der erneute Angriff auf die Ukraine kam „plötzlich“ und „unerwartet“.
Wer hätte das ahnen können, fragen jetzt einige, als müsste man sich freisprechen. All das, was Putin jetzt tut, kam mit Ansage. Wir müssen anfangen, das kollektive Wegsehen aufzuarbeiten. Die Ermüdung, wenn es um die komplexen politischen Fragen der Welt geht, die Hintergrundinformationen verlangen. Es fehlen Formate, die große politische Themen auf eine Art präsentieren, dass sie zu breiten gesellschaftlichen Debatten werden. Die „Talkshows“ sollten ergänzt werden durch wirkliche Gesprächsformate – ohne Politiker in der Runde, die sowieso nur das wiederholen, was sie schon in ihren Nachrichtenstatements abgegeben haben.
Es braucht mehr kritische Einordnungen, eine höhere Themenvielfalt und den Abschied von der Idee, dass Menschen, nur weil sie ärmer sind oder weniger gebildet, es nicht nötig hätten, auch komplexere Fragen erläutert zu bekommen. Eine andere Ursache für die Verdrängung ist die krankhafte Fokussierung auf die eigenen Befindlichkeiten. Drei Stunden liefen die Bilder vom Krieg und schon fragen hier alle: Wie halte ich es aus, mir das alles anzusehen? Natürlich ist es legitim, sich selbst zu schützen.
Privatisierung des Kriegs
Doch die Art, wie wir unsere Gefühle über einen Krieg, den andere führen müssen, in den Mittelpunkt unseres Redens stellen, macht mich stellenweise fassungslos. Kaum rede ich fünf Minuten mit Leuten über die Ukraine, sagt jeder Zweite zu mir: „Aber wir müssen auch sehen, dass es uns gut geht.“ Muss man sich bei allem fragen, ob es einem dabei gut geht? Geht es uns denn „schlecht“, wenn wir uns anfassen lassen von einem Krieg und seinen unschuldigen Opfern, oder geht es uns eigentlich angemessen?
Es ist, als hätte das Grauen, das Leben eben auch sein kann, keinen Platz mehr in unserer Gesellschaft, ohne dass man die emotionalen Reaktionen auf diesen Schrecken sofort pathologisieren oder wegberaten müsste. Man sucht oder gibt sofort Rat, wie das Leiden wieder weggehen kann, statt eben diesen Leidensdruck als etwas zu erkennen, das wieder an die Welt zurück gerichtet werden muss: Wir leiden an diesem Unrecht und sollten das gesellschaftlich zum Ausdruck bringen, nicht nur Ratschläge erteilen, wie es uns gelingen kann, an dem Elend nicht zu leiden. Uns abzulenken.
Es ist diese merkwürdige Verdrängung und Privatisierung von Leiden, die dazu geführt hat, dass zahlreiche gesellschaftliche Missstände nicht mehr angeprangert werden. Das Problem ist nicht, dass wir zu weich sind, sondern dass auch eine solidarische Öffentlichkeit fehlt, die gemeinsam leidet und den Verantwortlichen deutlich macht, dass man diese Inhumanität nicht dulden will. Strukturelles Denken fehlt. Aber auch der Glaube daran, dass wir gemeinsam etwas ändern können. So verdrängen viele dankbar, schlicht weil sie überfordert und vereinzelt sind.
Es wird in der Ukraine keine Geschichte von David und Goliath geben, auch wenn das eine tröstliche Hoffnung ist. Wir müssen lernen, den Schock zuzulassen, Zusammenhänge tiefer zu verstehen. Statt das Leiden zu privatisieren, ist es Zeit zu fragen: Was müssen wir tun?
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