Politik in Zeiten von Corona: Regieren nach Zahlen
Die Politik höre in der Coronakrise endlich auf die Wissenschaft, loben Kritiker. Doch das führt zu einer Depolitisierung des politischen Systems.
E s ist zum täglichen Ritual geworden, der Pressekonferenz des Robert-Koch-Instituts (RKI) zu folgen. „Fieberkurve der Gesellschaft“, so könnte man die epidemiologischen Bulletins, die mit einem Beipackzettel möglicher Risiken dargereicht werden, überschreiben. Hatte Zahlenlehre einst den Charme eines verstaubten Hochschulseminars, ist Statistik plötzlich sexy.
Jeder hat zumindest schon mal was von der Reproduktionszahl R oder der Verdoppelungsrate gehört. Endlich mal ein sachlicher Diskurs! Endlich eine emotionslose, auf Fakten gestützte Politik! Wo US-Präsident Donald Trump den Rat von Experten ignoriert und haarsträubende Therapien vorschlägt, stützt die Bundesregierung ihre Maßnahmen auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Politik hört endlich auf die Wissenschaft, heißt es. Warum nicht gleich so? Das Klima wäre längst gerettet! Doch was die einen als evidenzbasierte Politik feiern, bedeutet in Wahrheit eine Entpolitisierung des politischen Systems.
Gerade weil die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen – Öffnungsverbote, Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht – sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, neigen sie dazu, sich gegen gesellschaftlichen Widerspruch zu immunisieren. Wer die Beschlüsse kritisiert, setzt sich dem Verdacht der Wissenschaftsfeindlichkeit aus. Mit fast schon blindem Eifer richtet die Regierung ihr politisches Handeln an epidemiologischen Kennzahlen aus. Liegt die R-Zahl unter eins, stehen die Zeichen auf Lockerung. Liegt sie über eins, geht die Tendenz zum Lockdown. Regieren nach Zahlen.
Welcher Wert ist maßgeblich?
Dabei sind die epidemiologischen Modelle, auf denen die Handlungsempfehlungen der Wissenschaft beruhen, durchaus anfechtbar. Wegen der unterschiedlichen Berechnungsweisen gab es mehrfach Verwirrung um den R-Wert, von dem es nun zwei gibt. Doch welcher ist maßgeblich? Und bilden die Werte das Infektionsgeschehen korrekt ab?
Die Diskussion wird weitestgehend in der scientific community geführt, einem elitären Zirkel von Wissenschaftlern, wo Einwände nur aus berufenem Munde zulässig sind. Kritik erschöpft sich in Methodenkritik. Dieser dünkelhafte Szientismus führt nicht zu einer höheren Legitimation oder besseren Qualität von Politik. Im Gegenteil: Er senkt die Legitimation, weil er die Hürden für die Beteiligung erhöht.
Die Kritik an technokratischen Steuerungsformen ist nicht neu. Der Soziologe Helmut Schelsky geißelte in seinem Aufsatz „Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation“ (1961) die „Verwissenschaftlichung“ und „Technisierung“ des Gemeinwesens: „Es wird in diesen Fällen deutlich, dass heute oft nicht mehr die Politiker das Allgemeininteresse vertreten, sondern gerade die Fachleute des wissenschaftlich-technischen Staates.“
In ähnlicher Stoßrichtung schrieb Jürgen Habermas in seinem Buch „Technik und Wissenschaft als „Ideologie““ (1968): „Die heute herrschende Ersatzprogrammatik bezieht sich hingegen nur noch auf das Funktionieren eines Systems. Sie schaltet praktische Fragen aus und damit die Diskussion über die Annahme von Standards, die allein der demokratischen Willensbildung zugänglich wären. Die Lösung technischer Aufgaben ist auf öffentliche Diskussionen nicht angewiesen.“
Technokratie und Populismus
Man braucht sich nicht zu wundern, wenn Verschwörungstheoretiker vom rechten Rand nun gegen eine vermeintliche „Gesundheitsdiktatur“ wettern und sich als Hüter der Verfassung gerieren. Auch in der Eurokrise hieß es, die Griechenland-Hilfen seien „alternativlos“. Dass dieses Rubrum heute im Parteinamen einer in Teilen rechtsextremen Partei firmiert, macht deutlich, wie das Abwürgen von Debatten zu einer Debattenunkultur verkommen kann.
Der Politologe Anders Esmark hat in seinem gerade erschienenen Buch „The New Technocracy“ auf den Zusammenhang von Technokratie und Populismus hingewiesen und dargelegt, wie eine Depolitisierung zu einer Repolitisierung an den Rändern führt.
Es scheint, als würden Regierungen in Zeiten von Fake News umso mehr auf wissenschaftliche Expertise rekurrieren, um ihre Politik zu beglaubigen, was jedoch genau das Gegenteil bewirkt, weil Politik mit dem Prüfsiegel der Wissenschaft zum einen den Eindruck erweckt, als sei sie nur mit wissenschaftlichen Methoden falsifizierbar, zum anderen weil die Erkenntnisse ja auch auf irgendwelchen Annahmen oder Weltbildern fußen, die als Interessen ungefiltert in das politische System einsickern.
Natürlich sollte man aus diesen Überlegungen nicht den falschen Schluss ziehen, dass Politik wissenschafts- oder gar faktenfrei sein sollte. Die Wahlkampflüge „350 Millionen pro Woche für den NHS“, die der heutige britische Premierminister Boris Johnson in der Brexit-Kampagne auf seinen Bus pinseln ließ, hat auf der Insel einen nachhaltigen Flurschaden hinterlassen. Auf der anderen Seite dürfen Zahlen und Modelle aber kein Ersatz für politische Argumente sein.
Es braucht gerade in der Krise das Politische, den offenen Streit, der über methodische Fragen hinausgeht; die Freiheit, jenseits wissenschaftlicher Plausibilitäten Ideen zu entwickeln. Erstaunlicherweise erleben wir bei der Diskussion über die Wiederaufnahme des Spielbetriebs in der Fußball-Bundesliga – also dort, wo es kaum belastbare Zahlengibt – die Repolitisierung eines gesellschaftlichen Subsystems. Ist man bereit, mit der Durchführung von Massentests eine Berufsgruppe zu privilegieren, die mit Spitzengehältern und medizinischer Rundumbetreuung ohnehin schon Sonderrechte genießt? Das ist keine epidemiologische, sondern eine politische Frage. Und sie zeigt auch, dass allein mit mathematischen Formeln kein Staat zu machen ist. Politik braucht die Wissenschaft. Aber Politik ist selbst keine Wissenschaft, die nach Lehrbuch funktioniert.
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