Palästinenser in Deutschland: An der Seitenlinie
Viele Palästinenser in Deutschland haben Angehörige in Gaza verloren. Mit ihrer Trauer fühlen sie sich seit Monaten allein.
I hren ersten Tweet schrieb Iman Abu El-Qomsan Ende Oktober. „Ich habe heute bei der Bombardierung von #Jabalia in Gaza 19 Familienmitglieder auf einen Schlag verloren, insgesamt sind mehr als 60 Mitglieder meiner Familie durch israelische Bomben getötet worden. Warum wird unser Leid in Deutschland ignoriert?“ Tausende reagierten auf den Tweet, die meisten mit Mitgefühl. Manche zweifelten aber auch an ihrer Aussage, wunderten sich über die große Zahl oder machten die Hamas für den Tod ihrer Verwandten verantwortlich.
Die große Zahl ihrer Angehörigen lasse sich leicht erklären, sagt die zierliche 26-Jährige bei einem Treffen in einem orientalisch-modern eingerichteten Frühstückscafé in der Dortmunder Innenstadt. „Palästinensische Familien sind nun mal so groß.“ Ihr Vater habe neun Geschwister, ihre Mutter fünf. Wenn sie deren Kinder und Enkelkinder mitzähle, dann komme sie schnell auf mehrere Hundert Angehörige, außerdem zähle man die Großcousins mit.
In den deutschen Medien habe man nichts über den Vorfall erfahren können. „Das war für mich der Punkt zu sagen: Du musst das jetzt öffentlich machen.“ Seitdem postet Iman Abu El-Qomsan regelmäßig auf dem Twitternachfolger X, Journalisten wurden dadurch auf sie aufmerksam. Der Stern und die Süddeutsche Zeitung haben sie porträtiert. Sie erhält aber auch viel Hasspost. Auf ihrem Handy zeigt Imam Abu al-Qomsan gespeicherte Screenshots. Es sind viele grob sexistische und rassistische Kommentare darunter. Manche davon gibt sie an eine Meldestelle gegen Hetze im Netz weiter.
Iman Abu El-Qomsan studiert in Münster Chemie-Ingenieurwesen, sie ist in Deutschland aufgewachsen. Ihre Eltern stammen aus dem Gazastreifen. In den 1990er Jahren zog der Vater für sein Medizinstudium nach Deutschland, heute betreibt er als Unfallchirurg und Orthopäde eine Praxis im Ruhrgebiet. Imans Mutter, die später zu ihm nach Deutschland zog, ist dort fürs Kaufmännische zuständig. Sie wuchs im Flüchtlingslager Jabalia im Norden des Gazastreifens auf, der Großvater hatte dort einst ein Haus für die Familie gebaut. Die Mutter habe es sofort wiedererkannt, als sie die Trümmer im Fernsehen sah. Unter den Opfern seien Onkel und Tanten von ihr.
Ende November kam es noch schlimmer. Die israelische Armee bombardierte im Zentrum des Gazastreifens das Haus, in dem die älteste Schwester des Vaters lebte. Imans Tante Suheila liegt bis heute unter den Trümmern begraben, nur ein Cousin überlebte schwerverletzt. Das wurde von Al-Jazeera praktisch live übertragen, ihr Vater rief sie deswegen an.
Anfangs hatte er noch Hoffnung, seine Schwester könnte überlebt haben, bald aber nicht mehr. „Ich habe meinen Vater noch nie weinen sehen“, sagt Iman Abu El-Qomsan. „Aber an dem Tag hat er geweint.“ Der Cousin fahre immer wieder zu den Ruinen seines Hauses, doch die Leiche seiner Mutter konnte noch nicht geborgen werden. „Ich wäre beruhigter, wenn sie begraben werden könnte“, sagt Iman Abu El-Qomsan. „Das tut weh.“ Sie spricht leise und gefasst, aber knetet ihre Hände dabei. „Wir haben keine Zeit, das zu verarbeiten“, sagt sie. „Ständig stirbt jemand. Ich weiß nicht, wie man das verkraften soll.“ Auch ihre Eltern verdrängen sehr viel, glaubt sie. „Irgendwie muss man funktionieren.“ Sie trinkt nur ein Glas Wasser, während sie erzählt. Ihre jüngeren Geschwister seien verwirrt, die meisten Lehrer wüssten nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten.
Das letzte Mal war Iman Abu El-Qomsan vor neun Jahren mit ihrer Familie in Gaza, sechs Wochen in den Sommerferien. Die Hälfte der Zeit waren sie in Jabalia, die andere Hälfte in Al-Rimal, einem Stadtteil in Gaza-Stadt. Damals war sie 16 Jahre alt, sie hat schöne Erinnerungen daran: „Das Meer, die Menschen, das Essen, die Gemeinschaft.“ Fortwährend sei man herzlich eingeladen worden, sagt sie. Es gab Musakhan, ein Brathähnchen im Fladenbrot, und zum Nachtisch Erdbeeren aus Beit Lahia im Norden. „Dort gab es Ferienhäuser am Strand und Hotels mit Schwimmbad und Sauna“, erinnert sich Iman Abu El-Qomsan. Öfters ging man auch zu Kazem, dem bekanntesten Eisladen von Gaza, über den sogar einmal die BBC berichtete.
Im vergangenen Sommer wäre sie gerne wieder hingefahren. „Aber da ging es nicht, wegen Klausuren“, sagt sie. Nun wird es nie wieder so sein wie vorher. „Gaza war schön“, sagt sie. „Die Menschen haben das Beste daraus gemacht.“
Ihre Mutter und ihre Geschwister haben Imans Großmutter das letzte Mal in den Sommerferien in Jordanien getroffen. Beide Großeltern sind noch im Gazastreifen. Ihr Großvater leitete in Gaza-Stadt einst eine Schule, er war Geschichtslehrer. Heute lebt er am Strand, nachdem er zwischenzeitlich mit 15 anderen Menschen in einem Haus Zuflucht gefunden hatte. Ihre Großmutter ist in einer Moschee in Dar El-Balad untergekommen. Mühsam hält die Familie in Deutschland den Kontakt zu ihnen aufrecht und überweist Geld, wenn es geht.
Einen Tag nach dem Gespräch postet Iman Abu al-Qomsan auf X das Bild eines toten Kleinkinds. Ihr zweijähriger Großcousin Khaled Hijazi sei an Unterernährung gestorben, schreibt sie dazu. Israel verzögere die Einfuhr von Lebensmitteln und greife jene an, die auf Lebensmitteltrucks warteten. Am Montag vor einer Woche schreibt sie: „Ich mache mir Sorgen. Sorgen um meine Familie, die von Israel in die Safe Zone Rafah zwangsumgesiedelt wurde, dort ständigen Bombardements ausgesetzt war und jetzt zum vierten Mal innerhalb von sieben Monaten vertrieben wird. Nichts rechtfertigt dies. Nichts.“
Deutschland blickt auf eine lange Geschichte palästinensischer Einwanderung zurück. Rund 200.000 Menschen palästinensischer Herkunft leben in der Bundesrepublik – ungefähr ein Fünftel von ihnen in Berlin. Eine belastbare Statistik gibt es nicht, denn viele von ihnen sind staatenlos oder Bürger eines Landes, in das sie oder ihre Vorfahren geflohen sind – des Libanons, Jordaniens oder Ägyptens, zum Beispiel. Die ersten Palästinenserinnen und Palästinenser kamen in den 60er Jahren nach Deutschland, zum Studium oder zur Arbeit. In den 1970er Jahre flohen viele vor dem libanesischen Bürgerkrieg. Mit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs flohen zuletzt viele Menschen aus den palästinensischen Flüchtlingslagern in Syrien nach Deutschland.
Die vielfältige Geschichte der palästinensischen Einwanderung nach Deutschland sei hierzulande weitgehend unbekannt, schrieb der Berliner Historiker Joseph Ben Prestel kürzlich in der neuen Zeitschrift „Berlin Review“. Zwar sei Deutschland das Land mit der größten palästinensischen Diaspora in Europa. Doch von der deutschen Politik werde diese hauptsächlich als Sicherheits- oder Integrationsproblem angesehen, und in den Medien käme sie kaum vor. Noch schärfer hat das die Sozialwissenschaftlerin Sarah al-Bulbeisi in der taz formuliert: Ihre Geschichte werde negiert, ihre Gewalterfahrung würde ausgeblendet, ihre Anliegen ignoriert.
Hatem Safadi empfängt in seinem Büro, von dem er auf den Berliner Kurfürstendamm blicken kann. Der 56-Jährige trägt einen eleganten Anzug und einen Henryquatre. In den sparsam eingerichteten Räumen mit Fischgrätparkett hängen neben modernen Gemälden die Auszeichnungen für seine Arbeit an den Wänden. Safadi ist Ingenieur und Architekt. Er hat sich als Bauunternehmer darauf spezialisiert, denkmalgeschützte Altbauten in Berlin und Potsdam zu sanieren und zu modernisieren, seine Firma hat über 90 Mitarbeiter. Vor fast dreißig Jahren kam er aus Gaza, seinem Geburtsort, nach Berlin, um an der Technischen Universität in Berlin zu studieren. „Ich komme aus einer angesehenen Familie“, sagt er.
Seit 2005 ist er nicht mehr in Gaza gewesen. Die Reise dorthin sei immer „zu kompliziert“ gewesen, sagt er, die Ausreise für seine Angehörigen nun ebenfalls. „Ende Oktober wollte ich mit meinen beiden Kindern hin, stell dir das vor“, sagt er fast ungläubig. Für seinen Sohn wäre es die erste Reise nach Gaza gewesen, seine erwachsene Tochter war einmal als kleines Mädchen dort. Doch jetzt sei es zu spät.
Der Erste aus seiner Familie, der zu Beginn des Krieges getötet wurde, sei sein Neffe gewesen, ein beliebter und talentierter Doktorand: „Ich habe die Auszeichnung gesehen, die ihm der Professor geschrieben hat“, sagt Safadi. Ende Oktober starb auch seine Mutter. Ihr Tod schmerze ihn am meisten, sagt er. Auf Instagram schrieb er ihr einen Abschiedsbrief: „Du hast mich verlassen und mein Herz mitgenommen.“
Insgesamt 75 Mitglieder seiner großen Familie hat er verloren, viele von ihnen auf einen Schlag. Sein Bruder, dessen Frau und ihre sieben Kinder starben bei einem Luftangriff auf ihr Haus. Auch der Mann seiner Schwester und einige ihrer Kinder sowie ein Cousin wurden durch Bomben des israelischen Militärs getötet. „Seine Sonne“ sei der Cousin gewesen, sagt Safadi. Nach dem 7. Oktober habe er jeden Tag mit seinem Cousin telefoniert, wenn es der Empfang in Gaza erlaubte. Er habe ihm immer auf den neuesten Stand gebracht, wie es den vielen Verwandten in Gaza gehe – bis die Leitung still blieb. „Für mich ist er nicht gestorben“, sagt Safadi. In seiner Erinnerung bleibe er lebendig.
Der größte Teil seiner Familie sei im Norden des Gazastreifens geblieben und nicht nach Rafah geflohen, erzählt er, obwohl die israelische Armee im Laufe ihrer Offensive immer wieder dazu aufgefordert hatte, sich dorthin zu begeben. „Unsere Familie ist in ihren Häusern geblieben.“ Das sei besser, als in den Süden zu flüchten, glaubt er. Doch im Norden sind die Nahrungsmittel inzwischen sehr knapp. Das Gebiet ist durch einen von Israel kontrollierten Korridor vom Süden des Gazastreifens abgeschnitten, die Grenze nach Israel im Norden ist dicht, Hilfslieferungen kommen dort kaum an. Vor dem Krieg war die Familie begütert: Sie besaß mehrere Häuser und einen Hain mit Bäumen, erzählt er. Mittlerweile sei alles zerstört, und seine Familie könne sich kaum noch etwas zu essen leisten, sagt Safadi.
Während des Gesprächs zeigt er immer wieder Bilder auf seinem Handy. Auf einem Foto ist ein Mann zu sehen, der sein Kind in die Luft hält. Dem Mann fehlt ein Bein, er stützt sich auf eine Krücke, dem Kind fehlen beide Beine und ein Arm. Das Bild stamme aus Gaza, sagt Safadi. „Grausam.“ Er selbst teilt auf seinem Instagram-Account fast täglich, was ihn bewegt: Bilder von ausgemergelten und toten Kindern, Karikaturen, die Benjamin Netanjahu als Kannibalen zeigen, den Abschiedsbrief an seine Mutter.
Er müsse irgendwas tun, sagt er. Statt zum Sport zu gehen oder nachts zu schlafen sitzt er oft am Handy und vor dem Fernseher und betrachtet Bilder und Videos von Explosionen, Zerstörung und Tod. Der TV-Sender Al-Jazeera ist sein täglicher Begleiter. Freunde schicken ihm Listen mit Namen von Verstorbenen. Auf einem sind Hunderte getötete Universitätsangestellte in Gaza aufgelistet. In den sozialen Medien sind Bilder, die schwer verletzte oder tote Menschen zeigen, oft verpixelt oder so dargestellt, dass sie erst angetippt werden müssen, bevor man sie vollständig sehen kann. „Ich bekomme viele Livebilder“, sagt er.
Von Deutschland fühlt er sich entfremdet. Die Medien würden nur bruchstückhaft über den Krieg in Gaza berichten, sagt er, und von hiesigen Politikern vermisst er Worte des Beileids. Obwohl er selbst deutsche Politiker kenne, wie er sagt, habe er von ihnen wenig persönlichen Anteilnahme vernommen. „Ich habe an die Werte dieses Landes geglaubt“, sagt Hatem Safadi. Die Zerstörung Gazas und die vielen Toten würden in Deutschland wenig Beachtung finden. Das schockiere ihn. Er spricht von einem Genozid.
Nachdem die Hamas am 7. Oktober ihren Angriff auf Israel verübte, bei dem rund 1 200 Menschen starben, sollen nach palästinensischen Angaben rund 35.000 Menschen im Gazastreifen durch israelische Bombardements getötet und mindestens 80.000 verletzt worden sein. Diese Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen, sie werden aber weithin als glaubwürdig eingestuft. Selbst US-Präsident Joe Biden kritisierte bereits im Dezember die „wahllose Bombardierung“ des Gazastreifens, die zu viele zivile Opfer koste.
Doch geändert hat Israel sein militärisches Vorgehen deswegen nicht. Allen Warnungen sogar der engsten Verbündeten zum Trotz bereitet die Regierung im Süden des Gazastreifens, wohin in den vergangenen Monaten über eine Million Menschen geflüchtet sind, eine weitere Offensive vor. Damit könnten Hunderttausende Zivilisten zwischen die Fronten geraten und die ohnehin schwierige Versorgung der Menschen völlig zusammenbrechen, fürchten Hilfsorganisationen. Wie der US-amerikanische Sender NBC kürzlich berichtete, hat die israelische Armee im Süden von Gaza mehrmals Gebiete bombardiert, die es zuvor ausdrücklich als „sichere Zonen“ ausgewiesen hatte. Die Hamas mag sich in Tunneln verstecken, aber für Zivilisten im Gazastreifen hat sie keine Schutzräume oder Bunker gebaut. Mit anderen Worten: es gibt im Gazastreifen keinen sicheren Ort.
Über 100 Familienmitglieder habe er verloren, erzählt Salah Khattab, über 200 Angehörige seien durch israelische Bomben verletzt worden, zwanzig Häuser der Familie zerstört. Seine Familie sei eine der größten in Gaza, sie bestehe aus mehreren Tausend Menschen, aber die hohen Opferzahlen seien keine Ausnahme: „Andere Familien haben noch mehr Menschen verloren, manche über 200.“ Gemeinschaftsgräber würden immer häufiger in Gaza, sagt er. Auch seine Familie hätte ihre Angehörigen so bestatten müssen.
Salah Khattab betreibt ein Ladengeschäft im Berliner Stadtteil Neukölln. Er verkauft Unterwäsche und Dessous, Parfüms und Kronleuchter. Neben anderer Kleidung verkauft er traditionelle palästinensische Gewänder mit Kreuzstickereien. Ursprünglich stammt der 63-Jährige aus Deir-el-Balah im Zentrum von Gaza. Die meisten seiner Angehörigen seien dort geblieben, auch seine beiden Schwestern. Wessen Haus zerstört wurde, der sei bei Verwandten oder Freunden untergeschlüpft oder lebe in Zelten, berichtet er. Wenn es das Internet zulasse, telefoniere er jeden Tag mit ihnen. Aber manchmal habe er sie bis zu drei Wochen lang nicht gesprochen, weil es keinen Kontakt gab. Kurz vor dem Treffen sei diese Gegend gerade bombardiert worden, erzählt er zu Beginn des Gesprächs. Das habe er aus dem Netzwerk Telegram erfahren. Seine Frau habe daraufhin gleich ihre Schwester dort angerufen – alles gut, sie lebe noch. „Ich weiß besser, was in unserer Gegend in Gaza passiert, als die Leute, die dort sind“, sagt er. Vor Ort könne man kaum wissen, welches Haus genau gerade getroffen worden sei. Er dagegen sei über soziale Netzwerke, über Telegram- und Whatsapp-Gruppen, quasi live dabei, und gebe die Informationen weiter.
Salah Khattab lebt seit über 40 Jahren in Deutschland. Als junger Mann kam er nach Leipzig, in die DDR, und lernte dort Deutsch. Anschließend studierte er in Weimar, bevor er in den Westen Berlins zog und dort ein zweites Diplom machte. Er uns seine Frau haben vier Kinder, alle sind schon erwachsen. Im Hinterzimmer seines Ladengeschäfts hängt eine Collage an der Wand. Sie besteht aus Fotos von Yassir Arafat, dem ehemaligen palästinensischen Anführer und Präsidenten, der vor fast zwanzig Jahren gestorben ist, Familienfotos von Kundgebungen mit palästinensischen Flaggen und einer Karte des historischen Mandatsgebiets Palästinas. Ein Foto zeigt einen jungen Salah Khattab zusammen mit Arafats Nachfolger, dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, der als Chef der „Autonomiebehörde“ im Westjordanland über begrenzte Macht verfügt. Ein paar Jahre lang vertrat Abbas dessen Partei, die Fatah, in Deutschland.
Khattab spricht gerne über Politik. Für ein Foto legt er sich einen Schal mit dem schwarz-weißen Kuffiyeh-Muster, auf dem der Felsendom in Jerusalem abgebildet ist. An der Wand hängt ein ähnlicher Schal, darauf steht auf Arabisch: „Jerusalem ist unser“. Khattab spricht sich dennoch klar für eine Zweistaatenlösung aus. Das sei die einzige Möglichkeit für Frieden, betont er – auch wenn dies bedeute, dass seine Familie nicht in den Ort zurückkehren werde, den seine Vorfahren 1948 verlassen mussten – das heutige Be’er Sheva, die Hauptstadt des Negev, die im Süden Israels liegt. Seine Partei habe dazu eine Resolution beschlossen, sagt er: Entweder das Recht auf Rückkehr oder Entschädigungszahlungen. „Ganz einfach.“ Doch eine Zweistaatenlösung, für die sie seit Jahren eintritt, scheint heute ferner denn je: „Nachdem Arafat in den 1990er Jahren die Oslo-Abkommen unterschrieben hatte, sollte es innerhalb von fünf Jahren einen palästinensischen Staat geben, mit allem Drum und Dran“, sagt Khattab. „Doch was ist seitdem passiert?“, fragt er und antwortet selbst: „Nichts.“ Das Westjordanland werde zersiedelt, alles sei schlechter geworden als vor Oslo.
Am schlimmsten sei aber der aktuelle Krieg in Gaza. Er klingt resigniert. Die israelische Armee mache dort keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Hamas-Kämpfern, davon ist Khattab überzeugt. „Sie erklären einfach: Das sind Hamas-Aktivisten.“ Das Leid der Menschen in Gaza werde in Deutschland seiner Meinung nach kaum wahrgenommen. Eigentlich, sagt er, lebe er sehr gerne in Berlin. „Wenn ich verreise und zurückkehre, dann fühle ich mich hier wieder zu Hause.“ Doch seit dem 7. Oktober habe sich das geändert. Er fühle sich inzwischen „unwohl“, sagt er, auch wenn ihm persönlich niemand etwas getan habe. Aber das laute Schweigen der deutschen Politik störe ihn. Doch langsam, sehr langsam, scheine sie sich zu ändern, glaubt er.
„Die Medien stehen an der Seite Israels“, sagt er unaufgeregt. Für ihn ist das eine Tatsache, aber kein Grund aufzugeben. Khattab hat viele Proteste gegen den Krieg in Gaza in Berlin mitorganisiert, darauf ist er stolz. Kurz nach dem 7. Oktober sei das schwierig gewesen, erzählt er – viele Kundgebungen wurden untersagt. Wie entmachtet habe er sich da gefühlt. Doch inzwischen habe sich das geändert, und es würden auch viel mehr Menschen zu den Demonstrationen kommen als zu Beginn, sagt er, überall in Deutschland – auch mehr Menschen, die keinen persönlichen Bezug zu Palästina hätten, aber gegen den Krieg seien. Das Verhalten der Polizei bei den Demonstrationen halte er für unverhältnismäßig, aber die einzelnen Beamten treffe keine Schuld, findet er: „Sie haben ihre Befehle von oben.“
In seinem Laden seien die palästinensischen Kuffiyeh-Tücher und Schals mit dem gleichen Muster in den letzten Monaten zu einem Verkaufsschlager geworden, erzählt er noch. Viele Deutsche, die sie kaufen, würden nun den arabischen Namen kennen. Auch Fahnen bietet er an, sie hängen draußen, in der Auslage vor dem Laden. „Meistens verschenke ich die“, sagt er lächelnd.
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