Ostdeutsche über Landtagswahlen: Was hilft denn nun gegen rechts?
Rassismus, prügelnde Feuerwehrmänner und die Frage, ob Bautzner Senf der Demokratie hilft. Fünf Ostdeutsche diskutieren am Küchentisch.
Die Lage in Ostdeutschland ist ernst. Die AfD ist bei der Europawahl in Sachsen und Brandenburg stärkste Kraft geworden, in Chemnitz demonstrieren „normale“ Bürger gemeinsam mit Neonazis und finden nichts dabei. Die Demokratie hat als Staatsform dramatisch an Akzeptanz verloren. Woher kommt das? Und: Was tun? Um gemeinsam über diese Fragen nachzudenken, hat die taz fünf Menschen aus Ostdeutschland zum Essen und Diskutieren an einen Küchentisch eingeladen. Die meisten der Teilnehmer*innen kannten sich nicht. Wir haben uns trotzdem für das Du entschieden, weil es sich so leichter reden lässt.
taz am wochenende: Im Herbst sind drei Landtagswahlen in Ostdeutschland, die AfD kann auf einen großen Sieg hoffen, wie die Europawahlen gerade gezeigt haben. Was erwartet ihr?
Dennis Krauß: Die AfD wird echt gute Ergebnisse holen.
Annalena Schmidt: Bestimmt. In meinem Wahlkreis Bautzen hat die AfD bei der Bundestagswahl 2017 das Direktmandat geholt, in Sachsen war sie stärkste Partei. Bei der EU- und der Kommunalwahl hat sich das wiederholt. Und bei der Landtagswahl im September wird es auch so sein. Das Entscheidende ist, wie die anderen Parteien damit umgehen, vor allem die CDU. Geht sie eine Koalition mit der AfD ein? Oder lässt sie sich von den vielen geplanten Demos und Festivals der Zivilgesellschaft beeindrucken?
Sarah, du bist in Leipzig aufgewachsen, lebst inzwischen aber in Berlin. Interessiert dich noch, was in Sachsen passiert?
Sarah Mouwani: Ja, sogar sehr. Ich habe noch Familie da, Menschen, die nicht wegkönnen. Ich habe über Jahre gedacht, dass sich die Lage bessert, aber spätestens seit 2015 musste ich das revidieren. Seitdem sind der antimuslimische Rassismus und die Aggression gegen Geflüchtete extrem stark. Dadurch ist mir noch mal deutlich geworden, was die ganze Zeit schon da war.
Leipzig gilt als weltoffene Stadt.
Dennis Krauß
Sarah Mouwani: Für weiße Deutsche ist es eine wunderschöne Stadt, viele kulturelle Angebote, viel Natur, man kommt überall mit dem Fahrrad hin. Aber für Schwarze Menschen und People of Color geht das nicht. Für mich ist es unmöglich, dort meinen Lebensmittelpunkt zu haben. Da stimmen Basisdinge nicht: Leute setzen sich in der Straßenbahn nicht neben dich; wenn du Geld abhebst, wird beobachtet, ob du etwas am Bankautomaten manipulierst. Die Räume, in denen ich mich in Leipzig bewege, sind sehr klein. Und es wird schlimmer.
Angelika Nguyen: Das kenne ich. Ich bin ja älter als du und in der DDR groß geworden. Heute werde ich oft nicht mehr als Person of Color wahrgenommen. Aber das Gefühl ist trotzdem da. Ich bin damit aufgewachsen, ständig auf der Hut sein zu müssen. Ostberlin habe ich nicht gern verlassen. Ich erinnere mich an das bedrohliche Gefühl bei Klassenfahrten Richtung Thüringen und Sachsen. Bei den Montagsdemos in Leipzig war ich mal dabei, und als das erste Mal „Wir sind ein Volk!“ gerufen wurde, ist mir ganz anders geworden.
Offiziell war die DDR ein antifaschistischer Staat.
Manja Präkels: In Ostdeutschland gab es spätestens seit Anfang der 80er ganz klare Nazi-Strukturen, und die wurden verschwiegen. Da gibt es bis heute viele Tabus und viel zu besprechen.
Annalena Schmidt: Ich habe mich mit der juristischen Aufarbeitung von NS-Gewaltverbrechen beschäftigt. Im Westen gab es deutlich mehr Verfahren, auch wenn bei Weitem nicht alle Taten verfolgt wurden. In der DDR hörte man relativ schnell auf, die NS-Verbrechen von DDR-Bürgern zu ahnden. Der Staat wollte das Narrativ aufbauen, die Nazis seien alle im Westen.
Der ehemalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf hat gesagt, die Sachsen seien immun gegen rechts.
Annalena Schmidt: Und wenn man so ein Narrativ über Jahrzehnte bedient, glauben es die Leute. Besonders da die Neonazis heute nicht mehr Springerstiefel und Bomberjacke tragen.
Dennis, du hast uns erzählt, bei euch in Wolgast stand 2016 ein Feuerwehrmann zusammen mit anderen Männern in eurer Kneipe und wollte euch verprügeln. Wie ist es inzwischen?
Dennis Krauß: Fast alle Gerichtsverfahren sind gelaufen, und die sind voll gut weggekommen. Die hatten vier Anwälte, und ihre Freunde haben die Geschichte ganz anders erzählt, als ich und meine Freunde die erlebt haben. Die Cops sagten auch nichts.
Du hast uns auch mal erzählt, dass du dir nicht aussuchen kannst, ob du mit Nazis redest, weil schon der Kassierer im Supermarkt ein Nazi ist.
Dennis Krauß: In Wolgast, wo ich herkomme, war das so. Seit 2017 arbeite ich in Greifswald, da gibt es Studenten, die kennen was anderes, die kommen aus ganz Deutschland und waren auf jeden Fall schon mal weiter als Wolgast oder Usedom. Das hast du in Wolgast nicht. Ich musste da weg. Ich wurde mehrmals von Faschos zusammengeschlagen, und meine Familie wurde bedroht.
Angelika Nguyen: Gerade findet eine Verklärung statt, die mich sehr stört, dazu möchte ich mal was sagen. Da wird ernsthaft behauptet, Ostdeutsche hätten so traumatische Erfahrungen mit Massenarbeitslosigkeit und Ausgrenzung gemacht, dass sie Rassisten geworden sind. Diese Diskussion hat die Wissenschaftlerin Naika Foroutan begonnen, die sagt, Ostdeutsche sind auch irgendwie Migranten. Es ist fatal, die Täter der Pogrome Anfang der 90er Jahre damit zu entschuldigen, dass es ihnen schlecht ging.
Annalena Schmidt: Das geht mir ähnlich. Ich habe mich sehr über die sächsische Ministerin Petra Köpping und ihr Buch „Integriert doch erst mal uns“ geärgert. Sie wird Integrationsministerin, und was macht sie? Sie spricht erst mal mit alten weißen Männern.
Was ist daran falsch, Ostdeutschen zuzuhören, wenn sie über ihre Verlust- und Diskriminierungserfahrungen reden?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Angelika Nguyen: Dieses „Integriert doch erst mal uns“ ist für mich eine Abwandlung von „Deutsche zuerst“. Das ist Rassismus: Erst kommen wir, und dann kommen die. Und als dann noch von linker Seite kam: Wer hier Gastrecht verwirkt …
… das hat die Fraktionschefin der Linken, Sahra Wagenknecht, gesagt …
Angelika Nguyen: … da war ich wirklich erschrocken. Die Menschen, die es betraf und die verbal, medial und mit Gewalt angegriffen wurden, spielen in der Diskussion keine Rolle.
Naika Foroutan hat der taz im Interview gesagt: Ostdeutsche sind auch irgendwie Migranten. Sie setzt nicht Rassismus und Diskriminierung von Ostdeutschen gleich. Sie sagt nur, dass es Ähnlichkeiten gibt. Was haltet ihr von der These?
Sarah Mouwani: Wenn der deutschlandweite Rassismus anerkannt wird und auch, dass weder Nationalsozialismus noch Kolonialgeschichte aufgearbeitet wurden, dann können wir natürlich schauen: Wie hat sich die Lage in bestimmten Regionen entwickelt, wodurch wurden Menschen nach dem Mauerfall traumatisiert? Da könnte ich mitgehen. Aber nicht diese entschuldigende Opferperspektive, als könnten die Leute, wenn sie arbeitslos sind oder Diskriminierung erfahren, nichts dafür, wenn sie andere Menschen angreifen.
Manja Präkels: Ja, mir ist diese Entschuldigung auch zuwider. Die Situation von Ostdeutschen ist natürlich tatsächlich anders als die von Westdeutschen, zum Beispiel beim Einkommen oder beim Eigentum. Es gab und gibt Benachteiligungen im Beruf. Wenn man die Diskriminierung von verschiedenen Gruppen zusammen betrachtet und fragt, wie sich das für alle zum Besseren wenden lässt, dann wäre ich dabei.
Naika Foroutan sagt auch, dass verschiedene Gruppen, die Marginalisierung erlebt haben, Allianzen schließen können. Also auch Ostdeutsche und Migranten.
Sarah Mouwani: Nach dem Mauerfall sind ganze Lebensläufe zerbrochen, die Ausbildungen wurden nicht anerkannt, dann kam noch diese traumatische Erfahrung durch die Bespitzelung hinzu, teilweise durch die besten Freunde. Das ist auch meine Familiengeschichte. Bloß verstehen weiße Deutsche selten, dass ich und andere People of Color auch zu dieser Geschichte gehören.
Angelika Nguyen: Ich bin eine Generation älter und habe diesen Bruch erlebt. Ich hatte zur Zeit des Mauerfalls schon gearbeitet. Dann wurde der Betrieb, das DEFA-Spielfilmstudio, abgewickelt. Es gab diesen Bruch in vielen ostdeutschen Biografien. Es spielt auch eine Rolle, wie alt du warst, in welchen Lebensumständen, welcher Generation. Ostdeutsche sind viel diverser, als es kommuniziert wird. Das ist eine Ähnlichkeit zwischen Migranten und Ostdeutschen: Sie werden als homogene Masse wahrgenommen. People of Color aus dem Osten – das ist vielen zu kompliziert.
Ein rechtsextremer Politiker hat mal gesagt: „Die DDR war das deutschere Deutschland“. Ist daran etwas richtig?
Angelika Nguyen: Na ja, ich bin ein Beispiel dafür, dass die DDR nicht ganz so homogen war. Aber ich war tatsächlich damals in einer komplett weißen und sehr normierten Umgebung unterwegs. Das war in den sechziger und siebziger Jahren. Da gab es in der DDR noch keine Vertragsarbeiter*innen, nur ein paar Studierende aus anderen Ländern. Dann sind Menschen in Gruppen per Vertrag eingereist, das war extrem kontrolliert. Insofern ist da was dran. Die DDR war weißer, und Ostdeutschland ist es heute auch.
Ist es deshalb zu einem Sehnsuchtsort für Rechtsradikale geworden? Zahlreiche westdeutsche Rechte sind ja nach der Wende in den Osten gezogen, auch wichtige Köpfe der Ost-AfD stammen aus dem Westen.
Manja Präkels: Diese Enge und der Muff der DDR waren sehr speziell und sehr deutsch. Häkeldeckchen sind bei uns Jahrzehnte später aus der Mode gekommen als in Westdeutschland. In der DDR ist die Zeit angehalten worden. Und es wurde wahnsinnig viel marschiert, das fällt mir auf, wenn ich an meine Kindheit denke. Dieses Marschieren und Strammstehen, dieses Preußische.
Wegen dieses preußischen Wesens der DDR konnte ein Nazi im Alltag weniger Probleme haben als ein Punk mit bunten Haaren. Der Staat hat die Erzählung propagiert, alles Böse, alles, was nicht ins gängige Bild passt, komme aus dem Westen.
Annalena Schmidt
Annalena Schmidt: Das ist zum Teil immer noch so. Ich komme aus dem Westen, also bin ich schuld. Ich werde dafür verantwortlich gemacht, dass in Bautzen ein hässliches rotes Haus steht, weil das angeblich ein Westdeutscher dorthin gesetzt hat. Ich habe inzwischen selbst ein ordentliches Ost-West-Denken entwickelt, das finde ich schade.
Wieso? Die Unterschiede sind doch augenfällig.
Annalena Schmidt: Ich bin 1986 geboren und erinnere mich nicht an die Teilung. Als ich 2015 überlegt habe, wo ich hingehe, ging es nicht um Ost oder West. Ich wollte nicht nach Bayern, weil ich die Sprache nicht mag und das Essen auch nicht. Das war’s. Sachsen war für mich nicht Osten. Ich dachte: Da sind die Sorben, ist bestimmt super, da zieh ich hin.
Und dann wurdest du die Westdeutsche.
Annalena Schmidt: Es fing an den ersten Tagen am Sorbischen Institut an. Da kamen so Fragen: Habt ihr das da drüben auch? Ich fand das absurd. Viele konnten sich nicht vorstellen, dass ich freiwillig dahin gezogen bin. Ich kann aber mittlerweile nachvollziehen, dass Gleichaltrige aus Bautzen noch viel stärker dieses Ost-West-Denken haben.
Warum?
Annalena Schmidt: Weil sie zur dritten Generation Ost gehören und ihre Eltern in einer Transformationsgesellschaft aufgewachsen sind. Meine Eltern sind 2010 zum ersten Mal überhaupt in ein Bundesland östlich von Hessen gefahren. In Westdeutschland müssen viel mehr Geschichtsvermittlung und politische Bildungsarbeit geleistet werden, sonst wird sich kein Verständnis für Ostdeutschland entwickeln.
Manja Präkels: Klar, für jemanden, der irgendwo in Hessen aufgewachsen ist, für den hat sich die Welt 1989 erst mal nicht verändert. Im Osten hat sich alles verändert. Bis heute herrschen auf beiden Seiten unglaubliche Ignoranz und Desinteresse. Im Westen heißt es: Der Osten ist halt rechts, und das ist nicht unser Problem. Und die Ostdeutschen sagen: Die Westdeutschen sind schuld an unserem Elend. Das kann so nicht weitergehen.
Angelika Nguyen: Dabei waren manche Erfahrungen völlig gleich. Ich habe viel mit der zweiten Generation der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen im Osten und den Kindern von Boatpeople im Westen zu tun. Wir haben mal unsere Kindheiten übereinandergelegt: dieselben antiasiatischen Schimpfworte, dieselbe Diskriminierung.
Gibt es eine ostdeutsche Identität?
Manja Präkels: So etwas in der Art gibt es, aber viele wollen sich gar nicht zu ihrer ostdeutschen Identität bekennen. Bei Lesungen im Westen begegnen mir Lehrer*innen, die sich zum ersten Mal als Ostdeutsche outen. Die haben sich eher verleugnet und angepasst und das nicht zum Thema gemacht, weil sie wissen, dass es so einfacher für sie ist.
Angelika Nguyen: Ja, das kenne ich auch von Leuten, die in den Westen gegangen sind. Ostdeutsche können ihr Ostdeutschsein verbergen. Man sieht es eben nicht. Das ist der Riesenunterschied zu den People of Color. Aber ich habe auch schon nicht „Plaste“ gesagt, um nicht identifiziert zu werden.
Muss es eine Bedrohung sein, wenn Menschen ihre ostdeutsche Identität entdecken?
Angelika Nguyen: Für mich hört es in dem Moment auf, wenn Leute mit ihrer Osterfahrung Rassismus und Gewalt legitimieren. Wenn aber weiße ostdeutsche Menschen in ihre Erzählung einschließen, dass Ostdeutsche zu Tätern geworden sind, dann geht da für mich was zusammen.
Manja Präkels: Die Geschichte von der sozialen Katastrophe nach dem Mauerfall müssen sich die Ostdeutschen nicht gegenseitig erzählen. Sie erinnern sich doch. Es ist ein Problem innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft, dass man sich gegenseitig kaum aushält, weil man ständig gegenseitig diese Traumata triggert. Die Westdeutsche sollten sich diese Geschichten anhören. Und die Ostdeutschen müssten über Rassismus sprechen. Das ist ein Wort, das kaum ausgesprochen wird.
Dennis Krauß: Also, für mich spielt dieses ostdeutsche Thema keine Rolle. Ich kenne bloß die schlauen Sprüche, die bei uns am Bahnhof gesprüht werden: „Wessis aufs Maul!“ Warum? Wir sind ein Land. Wir sprechen alle eine Sprache, und da kommt es auch nicht darauf an, ob ich jetzt weiß, braun, schwarz oder sonst was bin. Für mich zählt einfach der Mensch, nicht, wo du herkommst.
Dass alle Menschen gleich sind, ist eine schöne Wunschvorstellung. Das Problem ist nur, dass man die Unterschiede benennen muss, wenn man auf Diskriminierungen hinweisen will.
Sarah Mouwani: Als Jugendliche hatte ich zu der sogenannten linken Szene in Leipzig null Kontakt. Ich habe gedacht: Okay, es gibt halt Nazis, und dann gibt es nette weiße Deutsche, die dagegen demonstrieren. Heute ist mir bewusster, dass Rassismus als eine Struktur dieser Gesellschaft von klein auf vermittelt und verinnerlicht wird. Wenn die linke Szene in Leipzig „Rassismus“ mit „Rechtsradikalismus“ gleichsetzt und glaubt, sie hätte dann nichts damit zu tun, macht sie es sich zu einfach. Und anderen leider viel zu schwer.
Annalena Schmidt: Meine Freundin, die sich auch bei „Bautzen bleibt bunt“ für Refugees eingesetzt hat, verlässt jetzt wegen Rassismus die Stadt. Ihr ist, noch mehr als mir, aufgefallen, wie rassistisch selbst linke oder alternative Gruppen sind. In jedem Menschen steckt Rassismus, aber entscheidend ist, ob man es reflektiert. Und das tun viele nicht. Da heißt es dann: Wir kümmern uns um Flüchtlinge, wir können gar nicht rassistisch sein.
Sarah Mouwani: Ja, genau. Meistens wird der Unwille in homogenen Gruppen, sich mit Machtverhältnissen wie Sexismus und Rassismus auseinanderzusetzen, mit Pragmatismus begründet: Wir haben genug zu tun und keine Ressourcen für Luxusprobleme. Aber Luxusprobleme sind es nicht, nur anscheinend nicht ihre Probleme.
Sensible Sprache wirkt auf manche Menschen belehrend. Wird das in Ostdeutschland als Bevormundung aus dem Westen empfunden?
Sarah Mouwani
Annalena Schmidt: Meine Eltern – meine Mutter ist Erzieherin, mein Vater ist Schlosser, sie wohnen in einem hessischen Kaff – haben mir gesagt, dass meine Sprache komisch geworden sei. Das hat nichts mit dem Ost-West-Ding zu tun, sondern damit, in welchen Kreisen man sich bewegt, ob man einen akademischen Abschluss hat. Und es hat auch etwas mit urbanen und ländlichen Räumen zu tun.
Ostdeutschland ist zum großen Teil ländlicher Raum. Habt ihr eigentlich ein schlechtes Gewissen, weil ihr von dort weggegangen seid? Leute wie ihr fehlen da jetzt.
Sarah Mouwani: Ich hatte ein schlechtes Gewissen, als ich aus Leipzig weggegangen bin. Ich dachte: Da kann sich etwas entwickeln. Aber ab 2015 hat sich die Situation deutlich verschlechtert. Viele Familien sind zurück in afrikanische Länder oder in größere deutsche Städte gezogen: Frankfurt am Main, Berlin, Hamburg.
Dennis Krauß: Ich bin aus Wolgast weg, aber nicht aus der Region, ich will sie nicht komplett den Nazis überlassen. Ich will meinen jüngeren Geschwistern zeigen: Hier gibt es nicht nur diese Glatzen.
Ihr hab mal eine linke Kneipe betrieben, gibt es die noch?
Dennis Krauß: Nein, die Kesselbar gab es vier Jahre lang, nach zwei Jahren etwa fing es an, dass wir angeblich zu laut sind, schließlich wurden wir rausgeschmissen. Wir vermuten, dass dabei auch die AfD eine Rolle gespielt hat. Dass die unserem Vermieter Druck gemacht hat.
Manja Präkels: Das ist auch ein großes Drama mit den AfD-Erfolgen: Für die Leute, die sich da den Arsch aufreißen, wird es immer schwerer. Es gibt ja diese großartigen Inseln: Theater, Vereine, Jugendzentren.
Dennis Krauß: Aber die werden schlechtgemacht: Wir waren nachher die versiffte Drogenbande.
Sarah Mouwani: Und sie werden als Linksextremisten abgestempelt.
Manja Präkels: Ja ja, das sind Nestbeschmutzer. Statt Respekt und Unterstützung zu bekommen, wird dir der Hahn abgedreht, wenn du die AfD im Stadtparlament hast. Das ist die absolut fatale Sache, die ich nach den Wahlen auf uns zurollen sehe und vor der sich viele Leute in Ostdeutschland fürchten.
Annalena Schmidt: Es ist nicht nur die AfD. In Sachsen macht die CDU schon seit Langem allen, die links von ihr stehen, den Vorwurf des Linksextremismus. Die AfD ist da nur aufgesprungen. Wir müssen CDU, FDP et cetera irgendwie zu uns ins Boot holen und dürfen sie nicht nach rechts abdriften lassen.
Dennis, die Rechten waren deine Schulfreunde. Du hättest auch ein Rechter werden können.
Dennis Krauß: Ja, natürlich. Ich hab erst durch eine Party in der Kesselbar mitbekommen: Hey, da gibt es auch noch andere Leute, die sind cool, und mit denen kannst du auch feiern.
Wie war das in der Schule?
Dennis Krauß: Im Geschichtsunterricht hat der Lehrer zwei Stunden vom Zweiten Weltkrieg erzählt und zwei, drei Leute in der Klasse so: Nö, Papa sagt was anderes. Ein Vater kam zwei Wochen später in die Schule und hat unserem Lehrer gesagt: Du hältst jetzt die Fresse, ich erkläre das jetzt mal: Den Holocaust gab es nicht so wirklich. Der Lehrer hat den eine halbe Stunde erzählen lassen, weil er Angst hatte. Das war für mich ein entscheidender Moment. Ich will nicht wie dieser Lehrer werden, der vor seiner Klasse verängstigt in der Ecke sitzt.
Musstest du vor deinen Schulfreunden wegrennen?
Dennis Krauß: Nicht vor einzelnen. Aber wenn die sich zusammentun, sind sie gefährlich. Die haben mal mit einer Schreckschusswaffe auf Leute in der Kesselbar geschossen und mich und meine Freunde mit Baseballschlägern gejagt. Dann kamen die Cops und nahmen erst mal uns fest, die Zecken. Und dann haben sie vor Gericht gesagt: Nein, wir sehen keinen politischen Hintergrund.
Manja Präkels: Uns hilft nur, wenn die mal einen Hitlergruß machen.
Dennis Krauß: Na ja, nicht mal das. Dann heißt es: War das denn wirklich ein Hitlergruß?
Angelika Nguyen: Ja, Wahnsinn, was sich da verschiebt. Diese Verharmlosung zieht sich für mich durch Deutschland, West oder Ost, ist mir dann auch egal. Seit der Gewalt in Rostock, Solingen, Hoyerswerda in den 90ern spätestens fällt es mir auf, das ermutigt die Leute.
Dennis Krauß: Die fühlen sich im Recht.
Angelika Nguyen: Genau. Die Verharmlosung gibt den Rechtsextremen das Gefühl, da steht noch eine Macht hinter ihnen. Das ist eine Ermutigung, immer weiter zu gehen.
Manja Präkels: Wenn es eine Wiedervereinigung gab, dann die der Nazis. In den neunziger Jahren ging es los mit dem Ausnahmezustand, der zu einem Dauerzustand wurde. Diese Gewöhnung ist ein ganz brutales Mittel.
Dennis Krauß: Die machen einen gleichgültig.
Manja Präkels: Als ich meine Mutter einmal in meiner Heimatstadt Zehdenick in Brandenburg besucht habe, sind mir an einer Hauswand neue Hakenkreuzschmierereien aufgefallen. In dem Moment biegt der Bus der Fußballmannschaft der A-Jugend um die Ecke, und die Spieler singen das Horst-Wessel-Lied. Ich erzähle meiner Mutter, was ich gerade erlebt habe. Und sie meint: Das passiert immer nur, wenn du da bist.
Ist das Ignoranz als Überlebensstrategie?
Manja Präkels: Meine Mutter ist keine Faschistin und keine dumme Frau, sie neigt nicht zur Verharmlosung. Aber wenn du dort lebst, musst du es aushalten. Das erzeugt eine Form von Dummheit oder Blindheit, die ist nicht zu unterschätzen.
Angriffe, auch mit Todesopfern, gab es auch im Westen. Ist die Erfahrung im Osten anders, weil die Polizei – zum Beispiel in Lichtenhagen – vor der Gewalt zurückgewichen ist?
Manja Präkels: Ja, das Sonnenblumenhaus und die rapide bundesweite Einschränkung des Asylrechts danach, das war ein Fanal. Inzwischen frage ich mich aber, ob es nicht in Ost und West sehr ähnlich ist. Diese Geschichten, da kamen die Nazis, und die Polizei hat nichts gemacht, die höre ich immer wieder.
Auch im Westen?
Manja Präkels: Ja, in Orten, in denen eine Kameradschaft stark ist oder wo es einen Hotspot von rechten Konzerten gibt.
Gibt es also keinen Unterschied zwischen Rechtsextremismus in Ost- und Westdeutschland?
Manja Präkels: Doch, selbstverständlich.
Annalena Schmidt: Die westliche Zivilgesellschaft geht anders mit Rechtsextremismus um. Die NPD hat mal in Gießen vor der Erstaufnahme für Geflüchtete eine Demo angemeldet. 24 Stunden später standen drei Hanseln von der NPD dort und 500 Leute dagegen. Wenn dasselbe in Bautzen passiert, steht nur die NPD da.
Angelika Nguyen: Ich saß kürzlich in Dresden mit vielen Schwarzen Menschen zusammen, ganz jungen, aber auch ein paar ehemaligen Vertragsarbeitern aus Mosambik. Die haben gesagt: Rassismus im Osten ist anders. Der ist direkter, roher und findet in öffentlichen Verkehrsmitteln statt, auf Plätzen, in der Schule. Im Westen ist es versteckter. Dass es bei Angriffen Todesopfer gibt, passiert im Osten häufiger am helllichten Tag, und gerade in den 90ern waren es oft von Menschenmengen getragene Attacken. Im Westen waren es eher nächtliche Anschläge.
Sarah Mouwani: Bei Gesprächen über Rassismus, die ich in Workshops führe, formulieren die Teilnehmer*innen im Westen sehr schnell und klar ihre Fragen und Widerstände. Bei Ostdeutschen gibt es am Anfang ein langes Schweigen, und dann bricht die Wut raus: „Ich will jetzt endlich meine Meinung sagen.“ Und dann sagen sie, dass ihnen ihr Leben lang staatlich die Moral aufgepresst wurde, nicht sexistisch und rassistisch zu sein.
Bringt es etwas, mit Rechten zu reden?
Dennis Krauß: Ich spreche manchmal mit denen. Bevor wir uns unterhalten, sage ich, dass ich nicht über Politik sprechen will. Wir können gerne über Fußball oder sonst irgendwas reden, Hauptsache, der erzählt mir nichts von seinem Nationalsozialismus, und ich lasse meinen linken Scheiß auch sein.
Das geht?
Angelika Nguyen
Dennis Krauß: Selten.
Sarah Mouwani: Ich habe kaum noch Kontakt zu langjährigen Freunden aus Leipzig. Als ich mich immer tiefer mit Rassismus auseinandergesetzt habe, war ihnen das zu viel. Das waren Jugendliche aus der Mittelschicht, die sich als evangelisch, links, weltoffen verstanden haben.
Dennis Krauß: Irgendwie hoffe ich ja doch, dass der Nazi im stillen Kämmerlein überlegt, was er gerade macht oder was er in der Zukunft vorhat. Bei mir hat es schließlich auch klick gemacht. Und solange gequatscht wird, wird nicht geschlagen.
Manja Präkels: Wir haben immer so viel geredet, und dann haben die doch zugeschlagen. Aber ich will dich nicht ausbremsen, ich mache es eigentlich genauso.
Annalena Schmidt: Das ist super vereinfachtes Denken. Es geht nicht nur darum, ob Rechtsextreme zuschlagen, sondern wir haben es mit Rechtspopulisten zu tun, die in Bautzen eigene Zeitschriften haben, es gibt eigene Fernsehkanäle. Wir Demokrat*innen sind aktuell nicht für die Diskussion gewappnet, um deren Verschwörungsideologien zu widerlegen. Wir brauchen dringend mehr Bildungsarbeit.
Sarah Mouwani: Als Jugendliche habe ich gedacht, vielleicht kann ich mit Rechten reden, wenn ich mich nur genug anstrenge, mich verständlich mache. Aber das hieße auch, die Menschen, bei denen das nicht geklappt hat, die ermordet wurden, hätten etwas falsch gemacht. Haben sie aber nicht. Heute konzentriere ich meine Energie darauf, mit den Menschen zu reden, die Unterstützung brauchen, auf Selbstorganisation. Gerade People of Color sind oft isoliert aufgewachsen, es ist wichtig, dass wir reden.
Was lässt sich in Städten wie Manjas Heimatort Zehdenick machen?
Manja Präkels: Ich habe in all den Jahren verschiedene Dinge versucht und bin da immer gegen die Wand gelaufen. Es gibt eine verwaiste Sternwarte in meiner alten Schule, und ich kenne einen Physiker und Hobbysternegucker, der gerne sein Wissen vermitteln würde, der ist Schwabe. Ich habe versucht, das zusammenzubringen, aber die Schule hat nie zurückgerufen.
Warum nicht?
Manja Präkels: Die Abwehr des vermeintlich Fremden ist wichtiger als die Sorge um die eigenen Kinder. In solche Städte müssten junge Lehrer hin, die brauchen Extrageld, da braucht es einfach Schwung und die ganze Ladung Aufklärung, Tag und Nacht. Und die ganze Stadtverwaltung braucht Antirassismustrainings.
Dennis Krauß: Stadtverwaltungen, die das schon seit Jahrzehnten machen, die kann man nicht mehr belehren. Die muss man austauschen.
Annalena Schmidt: Austausch Ost-West?
Manja Präkels: Ja, vielleicht.
Annalena Schmidt: Interessante Idee. Anfang der 90er sind angehende Beamt*innen aus Sachsen nach Baden-Württemberg gegangen und haben dort für einige Monate das Verwaltungssystem kennengelernt. Jetzt, 30 Jahre nach dem Mauerfall, ist es eigentlich absurd: Aber wir brauchen ein Begegnungsprogramm Ost-West. Oder Städtepartnerschaften, Schüleraustausch.
Dennis Krauß: Wollen die beiden Parteien das überhaupt?
Annalena Schmidt: Das kann man sehr niedrigschwellig machen. Die freiwillige Feuerwehr könnte zum Bierfest aus Bautzen in die Partnerstadt Heidelberg fahren. Man muss das nicht als Ost-West-Begegnung verkaufen, sondern halt als gemeinsames Biertrinken.
Dennis Krauß: Mit Sauerkraut und Bratwurst.
Annalena Schmidt: Ja, genau. Und Bautzener Senf.
Manja Präkels: Die Leute müssen wieder zur Sprache kommen, ihre Bedürfnisse äußern, einander helfen können. Es hapert schon an einfachen Strukturen. Es gibt auf dem Land kaum öffentliche Orte. In Zehdenick gibt es keinen Buchladen, kein Kino, gar nichts. Die öffentlichen Plätze sind verwaist.
Dennis Krauß: Das ist in Wolgast auch so.
Woran liegt das?
Manja Präkels: Das ist eine Folge der Nazi-Rasur der 90er Jahre. Damals fuhr eine riesige Szene nur zum Zeitvertreib herum und machte Menschen platt. Die haben die Gasthöfe auf dem Land plattgemacht, die der Hort der Subkultur und Freiheit waren, wo der Schäfer neben dem Punker saß, Hauptsache, das Bier war günstig und man ging sich nicht auf den Keks. Wo früher Orte der Begegnung waren, haben die Nazis Orte der Angst geschaffen. Und diese Tabuzonen bestehen bis heute.
Angelika Nguyen: Das mit der Angst ist für mich ein ganz wichtiger Punkt. In Großstädten wird das total unterschätzt, weil die Menschen diese Angst nicht kennen, in bestimmten Zonen offen zu agieren. Das erstickt das soziale Miteinander. Und den Nazis und der AfD fällt es dann umso leichter, ihre eigenen Begegnungsstätten zu schaffen.
Wie könnte es nach vorne gehen, was wünscht ihr euch?
Dennis Krauß: Wir brauchen Jugendzentren und andere Projekte, wir brauchen Streetworker. Da muss mehr Geld rein. Nicht in Städten wie Berlin, sondern auf dem Land.
Sarah Mouwani: In Berlin gibt es auch Probleme. Aber wenn mich jemand hier fragen würde, wie kann ich mich organisieren, wie kann ich mir helfen, dann könnte ich – bam, bam, bam – Stellen nennen, wo sich jemand Hilfe suchen kann, wo es Möglichkeiten der Selbstorganisation gibt. In Leipzig würde mir nicht viel einfallen. Ein paar Sachen, aber die brauchen wirklich Förderung.
Würdet ihr in die ostdeutsche Provinz gehen oder zurückgehen?
Sarah Mouwani: Nein, auf keinen Fall.
Angelika Nguyen: Nein.
Manja Präkels: Ganz ausschließen würde ich es nicht.
Annalena Schmidt: Wir sollten Verwaltung und Bildungseinrichtungen oder Universitäten dezentraler machen und auch auf dem Land ansiedeln, damit Menschen zum Studieren gar nicht so weit weggehen müssen und andere junge Menschen deshalb hinziehen. Wir können die Alten nicht austauschen, die sterben aber irgendwann. Wir können demokratisch nur gewinnen, wenn wir junge Menschen in der Region halten.
Dennis Krauß: Ich bleibe da. Eine Stadt wie Berlin wäre mir zu groß. Und ich will meine Gegend nicht den Nazis überlassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier