Offener Brief: Psychiater:innen gegen Merz
Expert:innen wehren sich gegen die Vereinnahmung des Messerangriffs in Aschaffenburg. Ihre Meinung: Stigmata befeuerten Probleme, statt sie zu lösen.
Die Union und insbesondere Merz fordern seitdem noch vehementer als zuvor eine Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik, am Mittwoch stimmten sie im Bundestag für einen entsprechenden Fünf-Punkte-Plan – und nahm dafür in Kauf, dass die Mehrheit nur mit den Stimmen der AfD zustande kam.
Keiner der Vorschläge des Oppositionsführers hätte die Tat in Aschaffenburg jedoch verhindern können, heißt es in dem Brief der Psychiater:innen, der der taz vorliegt. Im Gegenteil: Der Generalverdacht gegenüber Schutzsuchenden mit psychischer Erkrankung und der dadurch entstandene öffentliche Druck könne „die seelische Situation von Migranten nur verschlimmern“.
Mit dem Umgang mit psychisch kranken Straftätern hat sich am Montag auch die Innenminister:innenkonferenz beschäftigt. Das Ergebnis: Nicht etwa mehr Unterstützung für Betroffene, sondern mehr Kompetenzen für Nachrichtendienste und Polizei.
Zugriff auf Gesundheitsdaten
Die Innenminister:innen von SPD und Union wollen „die Schaffung ausdrücklicher Rechtsgrundlagen zum biometrischen Abgleich“ von Daten mit Bild- und Audiomaterial etwa aus sozialen Netzwerken, biometrische Gesichtserkennung in Echtzeit und die „frühzeitige Erkennung der Risikopotenziale bei psychisch Erkrankten“. Dazu solle den Sicherheitsbehörden umfangreicher als derzeit Zugriff auf Gesundheitsdaten psychisch kranker Menschen ermöglicht werden.
Mit den Forderungen der Expert:innen aus dem offenen Brief hat das nichts zu tun. Diese mahnen explizit eine bessere psychiatrische und psychotherapeutische Diagnostik an sowie nachhaltige Hilfen „für alle, die psychiatrische Hilfe benötigen“ sowie mehr Akzeptanz für Menschen „in existenzieller seelischer Not“.
Die politischen Reaktionen auf den Angriff gehen für sie an den Erfordernissen vorbei. „Politische Schnellschüsse bei gleichzeitiger Mittelkürzung migrationsspezifischer Hilfen lösen das Problem sicher nicht“, heißt es in dem Brief. Sie beschwören Friedrich Merz im Anschreiben per Mail: Dadurch könne „eine toxische Mischung entstehen, die Übergriffe in alle Richtungen eher wahrscheinlicher macht“.
Die psychiatrische Hilfe für Geflüchtete in psychischen Notsituationen steht vor zwei Problemen: zu wenige Kapazitäten und zu wenig Geld. Auch die Psychosozialen Zentren, welche die Lücken der Regelversorgung zu schließen versuchen, sind vom Staat nur prekär finanziert. Das Bundesprogramm für die psychosoziale Versorgung Geflüchtete wurde gar gerade um knapp die Hälfte zusammengekürzt.
Warnung vor Stigmatisierung
„Wir stehen immer in dem Spannungsfeld zwischen Therapie und Ordnungspolitik“, sagt Arno Deister, Vorsitzender des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit und Unterzeichner des offenen Briefes. Die Frage der Gewalt durch Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen sei für jene, die in der Psychiatrie arbeiten, eine alltägliche. „Was wir brauchen, ist eine höhere Sensibilität insbesondere in den Bereichen, die dafür berufen sind.“
So müssten etwa Sicherheitsbehörden dafür sensibilisiert werden, „wo Menschen gefährdet und im Zweifelsfall auch gefährlich sind“, sagt Deister. Die Frage nach der Weitergabe von Informationen sei bei Risiken essenziell. „Jedoch nicht pauschal wie mit einem Register, sondern indem man differenziert und sensibilisiert auf die Menschen schaut“.
Eine der Forderungen der IMK nach einem besseren Zugriff auf „gefährdungsrelevante Erkenntnisse zu psychisch Erkrankten“, hält Deister für zu vage formuliert. „Die psychisch Kranken“ gebe es nicht, sagt der ehemalige ärztliche Direktor des Klinikums in Itzehoe. „Wenn man Menschen mit einer psychischen Erkrankung pauschal in eine Gefährdergruppe abschiebt, ist das eine hochgradige Stigmatisierung“. Eine Politik, die solche Stigmata gegenüber einer der verletzlichsten Gruppen der Gesellschaft schüre, befeuere die Probleme, anstatt sie zu lösen.
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