Neuer Verfassungsschutzbericht: Eine Zeitenwende der Sicherheit

Der neue Verfassungsschutzbericht ist da. Präsident Haldenwang und Innenministerin Faeser warnen vor russischer Spionage.

Nancy Faeser in der Bundespressekonferenz

Rechtsextremismus bleibt die größte extremistische Bedrohung für die Demokratie, erklärt Faeser Foto: Political Moments/imago

BERLIN taz | Seit einem guten Jahr tobt nun schon der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Und er markiert auch für den Verfassungsschutz eine Zäsur. Von einer „Zeitenwende auch für die innere Sicherheit“, spricht Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Dienstag bei der Vorstellung des neuen Jahresberichts des Geheimdienstes. Deutschland werde durch Spionage, Desinformation und Cyberangriffe bedroht.

In dem Jahresbericht wird vor Spionageaktivitäten gewarnt, die immer „vielgestaltiger und ausgefeilter“ würden. Sie seien eine „ernsthafte Bedrohung für Deutschland und deutsche Interessen“. Aktiv seien hierzulande China, Iran, die Türkei oder Nordkorea. Allen voran sei aber für Russland seit dem Angriffskrieg die Spionagearbeit „von hoher Bedeutung“ – mit Fokus auf die westlichen Sanktionen gegen Moskau und die Unterstützungshandlungen für die Ukraine. Das klare Ziel Russlands sei es, diese Unterstützung zu schwächen.

Im Visier stünden die deutsche Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, das Militär – und Fragen der Energieversorgung, so der Verfassungsschutz. Eine mögliche Gasmangellage in Deutschland und eine gestiegene Inflation nutze Russland, um „Ängste in der Gesellschaft zu vertiefen“. Auch Desinformation durch staatliche russische Akteure oder durch In­flu­en­ce­r:in­nen spiele eine Rolle. Zudem gebe es Hinweise auf russische Versuche, in Deutschland verbotene Rüstungsgüter zu beschaffen und Sanktionen zu umgehen, erklärt der Verfassungsschutz.

Deutschland hatte bereits im April 2022 reagiert und 40 russische Diplomaten ausgewiesen, die als Geheimagenten tätig waren. Zuletzt hätten die russischen Geheimdienste versucht, neue Mitarbeiter in den Botschaften zu platzieren oder noch vor Ort befindliche Botschafter zu reaktivieren. Zukünftig sei damit mit noch „klandestineren und aggressiveren Spionageoperationen Russlands“ zu rechnen, auch im Cyberraum, warnt das Bundesamt.

„Heißer Herbst“ verpuffte

Und der Ukrainekrieg schlug sich auch auf deutschen Straßen nieder. Insgesamt 1.229 Straftaten zählte die Polizei hierzulande im Zusammenhang mit dem Krieg im vergangenen Jahr. Diese fallen in den Bereich des „auslandsbezogenen Extremismus“, dessen Delikte damit um 154 Prozent anstiegen. Darunter fielen etwa prorussische Autokorsos, Bedrohungen, Sachbeschädigungen, aber auch Gewalttaten.

Auch die rechtsextreme Szene habe 2022 den russischen Angriffskrieg zu instrumentalisieren und zu rechtfertigen versucht, konstatiert der Verfassungsschutz. Der beschworene „Heiße Herbst“ und „Wutwinter“ habe indes wenig Resonanz gefunden. Die Szene habe sich daraufhin wieder auf das Thema Migration verlegt, so der Bericht.

Insgesamt bleibe der Rechtsextremismus die größte extremistische Bedrohung für die Demokratie, erklärt Faeser. Und die Szene sei um knapp 5.000 Personen auf 38.800 Extremisten deutlich angewachsen, 14.000 davon gelten als gewaltbereit. Ein Grund für den Anstieg: Erstmals ist nun auch die AfD-Gesamtpartei dabei, die der Verfassungsschutz im März 2022 als Verdachtsfall einstufte und der er 10.200 Ex­tre­mis­t:in­nen zurechnet. Der Partei wirft der Geheimdienst eine „generelle Herabwürdigung und Verächtlichmachung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland“ vor, statt sachliche Auseinandersetzungen zu führen.

Eine „besondere Herausforderung“ in der rechtsextremen Szene seien auch selbstradikalisierte Täter ohne Szeneanbindung, wie die Attentäter von Hanau und Halle, warnt der Verfassungsschutz. Diese seien vor allem in Messengerdiensten und auf Internetplattformen aktiv, ideologische Merkmale seien hier zunehmend „aufgeweicht“.

Reichsbürgerszene wächst

Auch in der Reichsbürgerszene konstatiert der Verfassungsschutz „Narrative der russischen Staatspropaganda“. Hier würden vor allem die jüngsten Umsturzpläne und die Waffenaffinität zeigen, wie gefährlich das Milieu sei. Und auch hier wuchs die Szene: von 21.000 auf 23.000 Personen. Nur 1.250 von ihnen bewertet der Verfassungsschutz jedoch als klar rechtsextrem – er spricht von einer „Mischszene“. Jeder zehnte Reichsbürger gilt als gewaltorientiert. Und – trotz gegenläufiger politischer Ansagen – hätten Ende 2022 immer noch 400 Reichsbürger waffenrechtliche Erlaubnisse besessen.

Zuletzt warnt der Geheimdienst auch von einer andauernden Gefahr durch Islamisten, deren Szene er 27.480 Personen zurechnet, ein leichter Rückgang. Anschlagsgefahr drohe hier vor allem durch Einzeltäter mit einfachen Tatmitteln wie Messern. Eine islamistische Motivation oder psychische Erkrankung bleiben beim Tatmotiv inzwischen häufig „unklar“. Die Bedrohung bleibe aber real, wie die Festnahmen mutmaßlich islamistischer Anschlagsplaner in Castrop-Rauxel und Hamburg im Januar und April dieses Jahres bewiesen.

Auf linksextremer Seite sei der Krieg gegen die Ukraine dagegen „überwiegend scharf verurteilt“ worden, bemerkt der Jahresbericht. Aber auch hier wird gewarnt: Die Szene sei leicht auf 36.500 Personen gestiegen – die Zahl der Straftaten indes sank um 37 Prozent auf 3.874 Delikte. Einzelne Gewalttaten, vor allem gegen Rechtsextreme, wie im Fall der Gruppe um Lina E., seien aber „besonders erheblich“. Auch schotteten sich Teile der Szene ab und radikalisierten sich. Gehe das so weiter, könne das zu einer „Radikalisierungsspirale führen, die im schlimmsten Fall auch eine Entwicklung hin zu terroristischen Strukturen als möglich erscheinen lässt“, warnt der Verfassungsschutz.

Als Gegenmaßnahme zu den mannigfaltigen Sicherheitsbedrohungen setzt Faeser unter anderem auf ihre Cybersicherheitsstrategie. Inklusive Gegenschläge auf angreifende IT-Infrastrukturen – die sogenannten „Hackbacks“, die in der Ampel durchaus strittig sind. Daneben plädiert Faeser auch für „repressive und präventive Maßnahmen“ der Sicherheitsbehörden sowie auf Maßnahmen der politischen Bildung und Demokratieförderung.

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