Nationale Strategie gegen Antisemitismus: Gefährliche Normalität
Die Bundesregierung legt eine Strategie gegen Antisemitismus vor. Den Handlungsbedarf zeigen nicht nur jüngste Anschläge auf jüdische Einrichtungen.
Es war zu Monatsbeginn, als Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, einen weiten Bogen schlug. Am Gedenktag an die NS-Pogrome vom 9. November 1938 erinnerte er an die damals flächendeckenden Angriffe auf Juden, an den „schlimmsten Tag der deutschen Geschichte“, der „direkt in die Shoah“ führte. Und er verwies darauf, dass auch heute noch und wieder Hakenkreuze an Schulen geschmiert werden, dass Geflüchtetenunterkünfte brennen. Wohin dieser Hass zuweilen führe, das könne man „nicht häufig genug betonen“, mahnte Schuster. Man müsse diese Erinnerung „immer wieder aufs Neue verteidigen“.
Wie nötig das ist, zeigte sich erst vor wenigen Tagen. In Essen schlugen mehrere Schüsse in das Rabbinerhaus der Alten Synagoge ein. Kurz darauf wurde ein Mann festgenommen, der am gleichen Abend einen Brandsatz auf eine Schule neben der Bochumer Synagoge geworfen und einen weiteren Mann angestiftet haben soll, einen Brandanschlag auf das Gebetshaus in Dortmund zu verüben, wozu es glücklicherweise nicht kam. Der Vorfall sorgte für bundesweites Entsetzen. Noch laufen die Ermittlungen, noch ist einiges unklar. Klar ist aber: Hier wurden offensichtlich Jüd:innen gezielt ins Visier genommen.
Und es ist bei Weitem kein Einzelfall. Laut Bundeskriminalamt stiegen antisemitische Straftaten im Jahr 2021 um 28 Prozent an, von 2.351 auf 3.027 Delikte. Im Schnitt acht Straftaten jeden Tag also. Auch in diesem Jahr zählte die Polizei allein bis Mitte Oktober erneut 1.555 Straftaten: Übergriffe auf Kippaträger, antisemitische Beleidigungen oder Hetzpostings. Der Hass hört einfach nicht auf. Und das, obwohl nach dem Fanal von Halle im Jahr 2019, dem rechtsterroristischen Angriff auf die dortige Synagoge, allseits entschlossene Gegenwehr versprochen wurde.
Wirklich und nachhaltig aufzurütteln scheinen die antisemitischen Vorfälle aber inzwischen nur noch wenige. Es droht vielmehr schleichend eine Gewöhnung einzusetzen. Deshalb kommt es zur rechten Zeit, dass die Bundesregierung über ihren Antisemitismusbeauftragten Felix Klein am Mittwoch erstmals eine „Nationale Strategie gegen Antisemitismus“ vorlegte, gut 50 Seiten stark. Zwei Jahre lang wurde sie erarbeitet, sie ist das Ergebnis eines Auftrags der EU an ihre Mitgliedstaaten. Von einem „Meilenstein“ spricht Klein.
Antisemitismus auf Pro-Palästina-Demos
Alle hiesigen Maßnahmen gegen den antisemitischen Hass sollen darin gebündelt und geprüft werden, in fünf Säulen. Was wissen wir über die Bedrohung durch Antisemitismus? Wie lässt sich dieses Wissen vermitteln, an Schulen, in Arbeitsstätten, im Alltag? Wie wird an Antisemitismus und NS-Verbrechen erinnert? Wie konsequent werden die Straftaten bekämpft? Und, fünftens, wie stärken wir jüdisches Leben und machen es sichtbar? „Jüdinnen und Juden sollen sich des Rückhalts in der Bevölkerung sicher sein“, heißt es in der Präambel des Textes. Aber dessen sicher können sie sich eben nicht sein.
Davon zeugen nicht nur die Polizist:innen, die bis heute vor Synagogen oder jüdischen Kindergärten und Schulen stehen. Die Bedrohungen kommen aus fast allen Richtungen. Dem Rechtsextremismus bleibt der Antisemitismus bis heute immanent, für ihn bleiben Juden ein zentrales Feindbild, es bietet dem Hass weiter den größten Nährboden.
Aber auch auf Pro-Palästina-Demonstrationen ertönen hierzulande antisemitische Parolen. Die jüngste documenta und die BDS-Bewegung unterstreichen, dass auch Kultur und Intellektualismus anfällig sind. Auch auf den Coronademonstrationen florierten offen antisemitische Verschwörungsmythen, Protestierende raunten von einer geheimen, jüdischen Elite, die im Hintergrund das Weltgeschehen lenke. Dazu bricht sich im Internet antisemitischer Hass auf Social-Media-Kanälen Bahn, mit gefährlich grenzenloser Reichweite.
Dass der Antisemitismus auch in der Mitte der Gesellschaft wuchert, ist dabei keine neue Erkenntnis. Die gerade erst veröffentlichte Mitte-Studie der Universität Leipzig unterstreicht das noch einmal. Knapp 30 Prozent der Befragten stimmten dort zumindest teilweise der Aussage zu, dass der Einfluss von Juden „zu groß“ sei. Knapp ein Viertel erklärte auch teilweise, Juden würden „nicht so recht zu uns passen“. Einem „Schuldabwehrantisemitismus“, wie es die Forscher:innen nennen, stimmten gar 60 Prozent der Befragten zu, mit Aussagen wie: „Wir sollten uns lieber gegenwärtigen Problem widmen als Ereignissen, die mehr als 70 Jahre vergangen sind.“
Hier schlummert die wohl größte Gefahr: dass sich der Antisemitismus in der Breite einnistet, im Alltag. Das er hingenommen wird – und sich die Vorurteile immer weiter verstärken. Ein Nachlassen der Ressentiments ist jedenfalls momentan nicht absehbar. Krisenzeiten verschärfen gesellschaftliche Polarisierungen, auch die Suche nach Sündenböcken – als die Jüd:innen von jeher herhalten müssen. Die Coronaproteste illustrierten dies bereits eindrücklich.
All das ist nicht hinzunehmen, weshalb eine Maßnahmennachschärfung laut der „Nationalen Strategie“ richtig ist. Immer wieder werden antisemitische Straftaten vor Gerichten mit milden Strafen geahndet, statt klare Zeichen zu setzen. Immer mehr frisst sich eine Schlussstrichdebatte in die Mitte der Gesellschaft. Auf Schulhöfen oder in Fußballstadien ist „Jude“ wieder ein gängiges Schimpfwort. Dabei liegt der Text auch richtig, wenn er festhält, dass dies nicht nur Jüd:innen bedroht, sondern die Gesellschaft als Ganzes. Denn der Hass zeigt auf, wie gefestigt unsere Demokratie im Ganzen ist – oder eben nicht.
Bei alldem bleibt die Strategie aber erst mal nur Papier. Jetzt müssen die Maßnahmen auch in der Gesellschaft Entfaltung finden, in den Schulen, Sportvereinen, Behörden – im Alltag. Wir alle sind gefordert, dem Antisemitismus entgegenzutreten und das Papier mit Leben zu füllen. Dass der Hass nicht einfach von selbst verschwinden wird, auch daran erinnerte Zentralratspräsident Josef Schuster Anfang November. „Wir dürfen als Gesellschaft hier nicht wegschauen und das einfach so hinnehmen“, erklärte er damals. Diese Lehre aus dem 9. November 1938 müsse „uns jeden Tag im Jahr bewusst sein und leiten“.
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