Nahost-Autor über Frieden: „Es wird ein Land für alle sein“
Die Chancen auf ein Ende der Gewalt in Israel und Palästina sind gering. Dennoch glaubt Peter Beinart an eine besser Zukunft. Wie sie gelingen könnte.

taz: Herr Beinart, was ist Ihre Vision von einem gerechten Frieden in Israel und Palästina?
Peter Beinart: Ich wünsche mir ein politisches System, in dem jüdische Israelis und Palästinenser:innen nebeneinander leben und dabei vor dem Gesetz gleich behandelt werden. Ob in einem oder in zwei Staaten, ist letztlich nicht ausschlaggebend. Aber der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz ist für mich unverhandelbar. Ich leite ihn aus dem theologischen Prinzip ab, dass alle Menschen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind. Daraus folgt für mich, dass Staaten alle Menschen vor dem Gesetz gleich behandeln sollten, unabhängig von Religion, ethnischer Zugehörigkeit oder Hautfarbe.
taz: Und in Israel/Palästina gilt dieser Grundsatz nicht?
Beinart: Nicht für alle. Im Westjordanland gibt es zwei Rechtssysteme. Eines für jüdisch-israelische Siedler, die Staatsbürger mit Wahlrecht sind, sich frei bewegen können und ordentliche Gerichtsverfahren nach zivilem Recht bekommen. Und eines für Palästinenser:innen, die keines dieser Rechte haben und auch nicht die Möglichkeit, israelische Staatsbürger:innen zu werden. Es ist ein System, das sogar Israels eigene Menschenrechtsorganisationen wie Yesh Din und B’Tselem als Apartheid bezeichnen. Für mich ist es ein moralischer Widerspruch, wenn Menschen dieses System in Israel/Palästina dulden, während sie in ihren eigenen Ländern auf Gleichberechtigung pochen.
ist Autor und Redakteur bei der jüdisch-amerikanischen Zeitschrift Jewish Currents. In seinem neuesten Buch, „Being Jewish after the Destruction of Gaza“, kritisiert er die Haltung des liberal-konservativen jüdischen Establishments in den USA zu Israel.
taz: Große Teile Ihrer Jugend haben Sie in Apartheid-Südafrika verbracht und nennen diese Erfahrung oft als Inspirationsquelle für einen möglichen Friedensprozess. Was haben Sie dort gelernt?
Beinart: In meiner Jugend haben wir mit Verwandten in Cape Town oft zum Schabbat zusammengesessen. Mit der Zeit bemerkte ich dann die Menschen, die nicht mit uns am Tisch saßen. Menschen, die sich im Hintergrund hielten, die in der Küche arbeiteten oder im Garten. Sie waren uns rechtlich untergeordnet. Wenn ich meine Verwandten danach fragte, sagten sie mir, dass das notwendig sei.
taz: Warum?
Beinart: Weil die Schwarzen Terroristen uns sonst töten würden, sagten sie. So dachten damals viele weiße Südafrikaner:innen. Sie wussten, dass der African National Congress (ANC) einen militärischen Flügel hatte, bewaffnete Angriffe plante und seine Waffen aus der Sowjetunion bezog. Und sie dachten: Wenn wir die Apartheid abschaffen und sie frei entscheiden können, dann werden sie kommen und uns massakrieren.
taz: Und was passierte tatsächlich, als das Apartheid regime fiel?
Beinart: Nichts dergleichen. Umkhonto we Sizwe, der militärische Flügel des ANC, vor dem die weißen Südafrikaner:innen so viel Angst hatten, löste sich auf, als Schwarze Menschen das Wahlrecht erhielten. Genauso wie die Irisch-Republikanische Armee ihre Waffen niederlegte, als die Katholiken politische Gleichberechtigung erhielten. Denn sobald man wählen kann und eine Stimme in der Regierung hat, verfügt man über einen gewaltfreien Mechanismus, um den Staat dazu zu bringen, auf die eigenen Bedürfnisse zu reagieren.
taz: Trotzdem war die Angst weißer Südafrikaner:innen vor Gewalt bei einem Ende der Apartheid weit verbreitet. Wie kann man diese Angst überwinden?
Beinart: Ich glaube leider nicht, dass moralische Appelle an die Gleichwertigkeit aller Menschen reichen. Wenn Menschen an Vorherrschaft gewöhnt sind, werden sie sich meist dafür entscheiden, diese fortzusetzen. Diese Systeme ändern sich nur, wenn es genug Widerstand gibt. Auch in dieser Hinsicht ist das Beispiel des ANC lehrreich. Denn auch wenn wir uns heute an Nelson Mandela vor allem als Friedensnobelpreisträger erinnern, wollte Mandelas ANC nicht auf Gewalt verzichten, bis ein Termin für freie Wahlen feststand.
taz: Gleichzeitig hat Mandela immer wieder versöhnliche Worte gegenüber der weißen Bevölkerung gefunden.
Beinart: Mandela hatte damals den Mut, auf weiße Südafrikaner:innen zuzugehen. Er sagte: Wir werden uns militant gegen die Apartheid wehren, aber wir haben auch eine Vision, die euch in dieses zukünftige Südafrika einbezieht. Und Mandela gab sich viel Mühe, die Afrikaaner kennenzulernen und zu verstehen. Er machte es ihnen leichter, weniger Angst vor einer von Schwarzen geführten Regierung zu haben, weil er ganz ausdrücklich sagte: Dies wird kein Land nur für schwarze Südafrikaner:innen sein. Es wird ein Land für alle sein.
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taz: Sollten auch Palästinenser:innen nachdenken, was so eine gemeinsame Vision wäre, die sie Israelis anbieten könnten?
Beinart: In der jetzigen Situation, in der laut unzähligen Expert:innen Israel in Gaza einen Völkermord begeht, mag das unfair klingen. Aber ja, ich denke, dass die palästinensische Bewegung erfolgreicher sein wird, wenn sie genau das tut. Sobald dieser Krieg endet, wird es hoffentlich eine Gelegenheit geben, diese Vision gemeinsam mit Israelis zu entwerfen. Orientieren könnte man sich dabei an Nordirland, wo Katholiken und Protestanten sich auf ein System der Machtteilung geeinigt haben. Die Gruppe, die nicht die Vorsitzende des regierenden Exekutivkomitees stellt, darf demnach immer dessen Stellvertreter ernennen.
taz: Welche Foren wären Ihrer Meinung nach für eine solche Zukunftsvision notwendig?
Beinart: Die Geschichte Südafrikas zeigt, dass es erst mal Druck auf die politischen und wirtschaftlichen Eliten braucht, um Verhandlungsbereitschaft zu erzeugen. Erst als die südafrikanische Führung in den 1980er Jahren erkannte, dass sie die Aufstände nicht einfach unterdrücken konnte und die Sanktionen der US-Banken die Wirtschaft beeinträchtigten, begann man einen Plan B zu entwickeln.
taz: Die EU-Kommission hat Sanktionen gegen Israel angekündigt, Deutschland ist dagegen.
Beinart: Ich habe keine Freude an Sanktionen gegen Israel. Ich sorge mich um viele mir nahestehende Menschen dort. Aber die politische Führung in Israel hat einen monströsen Weg eingeschlagen, der zu immer mehr Gewalt führen wird. Ich will nicht, dass der Widerstand Formen annimmt, die Zivilist:innen das Leben kosten. Aber dass es wirksamen Protest braucht, davon bin ich überzeugt. Idealerweise nimmt er Formen an, die unangenehm sind, aber nicht gewaltvoll. So wie wenn Israel nicht mehr am Eurovision Song Contest teilnehmen kann oder israelische Unternehmen auf dem Weltmarkt Einbußen erleiden. Ich glaube, dass es Israelis – genau wie den weißen Südafrikaner:innen – langfristig besser gehen wird, wenn die Welt die israelische Elite unter Druck setzt, von dieser unerbittlichen Gewalt abzurücken und den Palästinenser:innen Grundrechte zu gewähren.
taz: Ein wichtiger Teil der Aufarbeitung der Gewalt unter dem Apartheidregime war die Wahrheits- und Versöhnungskommission. Ist ein ähnlicher Prozess auch in Israel/Palästina vonnöten?
Beinart: Derzeit ist es schwer vorstellbar. Aber wie wichtig so ein Prozess ist, sieht man in der jüdischen Geschichte. Die Stolpersteine, die Gedenktafeln, die Gedenkstätten in Deutschland – ohne dieses öffentliche Gedenken würde ich heute anders auf das Land blicken. Sollte es in Israel/Palästina je einen Aufarbeitungsprozess geben, müssten in diesem Zuge auch die Gräueltaten palästinensischer Gruppen aufgearbeitet werden, insbesondere der 7. Oktober.
taz: Während des Zweiten Weltkriegs verwehrten auch Länder wie Großbritannien und die USA vielen Jüd:innen die Einreise. Eine der Lehren daraus ist, dass Jüd:innen sich in der Stunde größter Not nicht auf andere verlassen können. Braucht es nicht auch deshalb weiterhin Israel als explizit jüdischen Staat?
Beinart: Ich kann diese Sorge gut nachvollziehen. Ich bin selbst mit dem Impuls aufgewachsen, zu glauben, dass die Antwort auf unsere Verfolgung die jüdische Vorherrschaft sei, also ein Staat, in dem Jüd:innen regieren. Die zionistische Bewegung entstand auch aus der Desillusionierung heraus, dass Jüd:innen in Europa nie gleichberechtigt behandelt werden würden. Aber die Ironie ist, dass Israel für Jüd:innen mittlerweile der unsicherste Ort zum Leben ist, verglichen mit anderen großen jüdischen Gemeinschaften weltweit. Das ist kein Zufall, sondern eine Folge des Apartheidsystems. Unterdrückung führt zu einem Kreislauf aus Gewalt und Gegengewalt, während Systeme, in denen jeder Mensch eine Stimme hat, tendenziell friedlicher sind.
taz: Die Logik von Gewalt und Gegengewalt ist tief in Israel/Palästina verankert. Wie kann man ihr entkommen?
Beinart: Am ehesten können es jene Menschen, die ihre vermeintlichen „Feinde“, seien es Palästinenser:innen oder Israelis, unter Bedingungen kennenlernen, die gleichberechtigte Beziehungen ermöglichen. Beziehungen, in denen man die Menschlichkeit der anderen Seite sieht. Aus meiner Sicht entmenschlicht es Palästinenser:innen, wenn wir sie immer nur in die Schablone des ewigen Judenhasses pressen. Viele jüngere amerikanische Jüd:innen haben ein differenzierteres Bild. Sie sehen Palästinenser:innen weder als Heilige noch als Monster, sondern als Menschen, die großes Leid erfahren haben und auf teilweise unmoralische Art und Weise auf Unterdrückung reagieren.
taz: Was hat zu dieser veränderten Wahrnehmung geführt?
Beinart: Zu einem großen Teil die sozialen Medien. Dort können Palästinenser:innen für sich sprechen, während sie in den etablierten US-Medien oft nicht gehört werden. Heute gibt es viele Palästinenser:innen, die in den USA geboren sind und eine Sprache sprechen, die amerikanische Jüd:innen verstehen, eine Sprache der Gleichheit und Freiheit.
taz: Die Chancen auf ein Ende der Gewalt stehen trotz der Friedenspläne schlecht. Gibt es etwas, das Ihnen dennoch Hoffnung macht?
Beinart: Die jüdischen Studierenden, die an der Columbia University gegen die Entführung ihres Freundes Mahmoud Khalil protestiert haben. Khalil hatte dort palästinasolidarische Proteste organisiert und wurde dann von Agenten der Abschiebebehörde ICE für mehr als 100 Tage inhaftiert. Und auch die Campus-Zeltlager gegen den Gaza-Krieg. Sie waren nicht perfekt, aber man sah dort muslimische und jüdische Studierende nebeneinander beten, Palästinenser:innen, die zu Schabbat-Gottesdiensten und Pessach-Sederfeiern kamen. Das sind Verbindungen, die die USA in den kommenden Jahrzehnten prägen werden.
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