Nachruf auf Mevlüde Genç: Die Großzügige
Mevlüde Genç verlor ihre Familie, als Nazis 1993 ihr Haus in Solingen anzündeten. Sie warb für Versöhnung. Zuerst aber forderte sie, gehört zu werden.
Der Prozess war einer der größten in der Geschichte der Bundesrepublik. 18 Monate Dauer, 127 Verhandlungstage, 267 Zeugen, die Mitte der Neunzigerjahre vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf erschienen, zur Verhandlung über den Brandanschlag in Solingen 1993. Fragt man Prozessbeteiligte nach ihren Erinnerungen, so kommen beinahe alle auf den 41. Prozesstag zu sprechen. Es ist der Tag, an dem Mevlüde Genç gehört wurde.
Die Frau, die in der Nacht vom 29. Mai 1993 zwei Töchter, eine Nichte und zwei Enkelinnen verlor: Gürsün Ince, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç waren im Schlaf von den Flammen überrascht worden. Vier Neonazis hatten das Feuer im Hauseingang der Unteren Wernerstraße in Solingen gelegt. Die Mädchen und Frauen starben im Feuer – oder bei dem verzweifelten Sprung aus dem Fenster. Auch Gençs Sohn Bekir, damals 15, hatte sich in Panik aus einem Fenster des Hauses gestürzt. Er überlebte schwer verletzt, 36 Prozent seiner Haut waren verbrannt, die Knochen gebrochen.
Mevlüde Gençs Aussage vor Gericht ist erhalten, unter anderem weil die türkischen Journalisten Metin Gür und Alaverdi Turhan sie für ihr Buch „Die Solingen-Akte“ protokollierten: „Wie alt sind Sie?“, fragte der Vorsitzende Richter die Zeugin Genç.
„Ich bin 51, aber mein Herz ist 90. Ich bin eine lebende Leiche.“
„Was sind Sie von Beruf?“
„Ich bin die Pflegerin meines verbrannten Sohnes Bekir.“
„Können Sie mal erzählen, was Sie von der schrecklichen Nacht noch in Erinnerung haben?“
„Wenn Sie erlauben, möchte ich gerne darüber sprechen, was ich empfinde.“
Sie machte den ersten Schritt zur Heilung
Dann erzählt Genç, das Rückgrat der Familie, wie sie im Türrahmen zusammensackt, als sie ihren Sohn das erste Mal im Krankenhaus besucht. Wie sie ihre Kraft zusammennimmt und an das Bett tritt, in dem Bekir liegt, von den Flammen entstellt und einbandagiert. „Ich wollte mich runterbeugen und ihn küssen“, sagt sie. „Aber ich fand keine Stelle dafür.“
„Mutti, warum kommen Gürsün und Hatice mich nicht besuchen?“, fragt der Sohn sie einige Tage später. Die Mutter holt tief Luft: „Die sind nach Holland gefahren, ich soll dir schöne Grüße bestellen.“ Und Hülya und Saime? „Die waren da, aber die Ärzte haben sie nicht zu dir ins Zimmer gelassen.“ Mevlüde Genç weiß, so erzählt sie es vor Gericht, dass ihr Sohn ahnt, was vor sich geht. Als er ein paar Tage später wieder nach den Schwestern fragt, fasst sie sich ein Herz und sagt: „Der Rauch hat sie geholt.“ Da versteht er.
Gerichtssäle sind nüchterne, bürokratische Orte. Der Raum, der den Opfern und ihrem Leid zugestanden wird, ist begrenzt. Mevlüde Genç nahm sich an jenem 41. Verhandlungstag den Raum, den sie brauchte. Die Richter und Verfahrensbeteiligten, beeindruckt von ihrem Auftreten, ließen sie gewähren.
Dass ihr Leid und das ihrer Familie vor Gericht anerkannt wurde, war wohl der erste Schritt auf dem Weg zu einer gesellschaftlichen Heilung. Für die hat Genç seither gekämpft, bis zu ihrem Tod am Sonntag. Genç, die 1996 für ihr Engagement das Bundesverdienstkreuz erhielt, wurde 79 Jahre alt. „Obwohl ich fünf Kinder und mein Zuhause verloren habe, bezeuge ich trotzdem Zuneigung. Wir sind alle Brüder. Das lässt sich auch durch Verbrennen und Kaputtmachen nicht verhindern“, sagte sie noch vor Gericht.
Kohl hatte „wichtigere Termine“
Zeit ihres Lebens bemühte Mevlüde Genç sich um Versöhnung. Nicht mit den vier Tätern, aber mit einer Gesellschaft und Politik, die 1993 zwar nicht das Feuer gelegt, doch aber den rassistischen Zündstoff geliefert hatten: Dem sogenannten Asylkompromiss, drei Tage vor dem Solinger Brandanschlag mit Zustimmung der SPD-Opposition beschlossen, war eine beispiellose Hetzkampagne der CDU-Regierung gegen Eingewanderte und Geflüchtete vorangegangen.
CDU-Innenminister Rudolf Seiters zum Beispiel sagte auf einer Pressekonferenz zu den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen 1992: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben.“ Bundeskanzler Helmut Kohl ließ sich bei der Trauerfeier in Solingen 1993 entschuldigen. Man wolle keinen „Beileidstourismus“, hatte sein Regierungssprecher schon bei einer Pressekonferenz nach dem Anschlag in Mölln 1992 gesagt, und Kohl habe „nun weiß Gott auch andere wichtige Termine“.
Sich diese gefährlichen Unverschämtheiten erinnernd vor Augen zu führen, schärft das Bewusstsein für die Leistung Mevlüde Gençs. Es braucht Größe, es braucht schier grenzenlose Menschenliebe, um nach der Ermordung fünf seiner Kinder und Kindeskinder zur Versöhnung aufzurufen – während das Land der Täter sich in Ausflüchten und Abwiegelung übt. Die Schritte, die Deutschland seit dem Brandanschlag 1993 in Richtung einer Verarbeitung der Tat gegangen ist, sind einzig diesem großzügigen Vorschuss an Versöhnungswillen der Mevlüde Genç zu verdanken.
Jahrzehnte später, am 30. Mai 2021, dem 28. Jahrestag des Brandanschlags, empfängt Genç noch einmal ein paar Journalisten in ihrem Haus im türkischen Dorf Mercimek. Dort filmen die Kameraleute die vielen Fotos an den Wänden, immer sind Mevlüde Genç und ihr Mann Durmuş darauf zu sehen, daneben wechselnde deutsche und türkische Politiker. Der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau, Armin Laschet, auch Angela Merkel.
Inzwischen kommen sie, demonstrieren Betroffenheit. An diesem Tag in Mercimek zeigt Mevlüde Genç das Foto mit Frank-Walter Steinmeier. Sie erzählt, wie sie zum Bundespräsidenten sagte: „Ich bin das Familienoberhaupt meiner gestorbenen Kinder, Sie sind das Oberhaupt des deutschen Staates. Wir beide müssen dafür sorgen, dass unsere Kinder nach vorne schauen und nicht nach hinten.“
Anmerkung der Redaktion:
Dieser Artikel wurde nach einer Presseratsbeschwerde korrigiert.
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