Nach dem Krieg im Nahen Osten: Die Hassdynamiken umkehren
Das Konzept Konfliktmanagement ist zusammengebrochen. Wie kann ein Ausweg aus der Katastrophe im Nahen Osten aussehen? Eine philosophische Annäherung.
I m gegenwärtigen Krieg zwischen Israel und der Hamas ist kaum etwas unumstritten. Doch nur wenige würden diese Beobachtung leugnen: Die Vorstellung, dass der Konflikt jemals bewältigt werden könne, hat einen schweren Rückschlag erlitten. Seit dem Scheitern des Osloer Friedensprozesses und nach dem Ende der zweiten Intifada haben sich viele Israelis einem falschen, giftigen Optimismus verschrieben, auch „nüchterner Realismus“ genannt: Der Konflikt kann demnach nicht gelöst, aber er kann gemanagt und eingedämmt werden, was den Israelis genügend Sicherheit bietet, um sich anderen gesellschaftlichen Problemen zu widmen.
ist Philosoph und unterrichtet am Coleman Management College und an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem. Demnächst erscheint sein Buch „Unwritten no More: New Authoritarianism and the Digital Obscene“, MIT press.
Das jüngste dieser Probleme ist die von Netanjahus rechtsextremer Regierung vorangetriebene sogenannte Justizreform, die Massenproteste und beispiellosen Widerstand in der israelischen Bevölkerung auslöste. Dies war eine dramatische Phase, die die Gesellschaft spaltete – aber sie beruhte auch auf einem kollektiven „Vergessen“ des israelisch-palästinensischen Konflikts.
Kann der zerstörte Status quo zu einem friedlichen „Danach“ führen? Mit dem Zusammenbruch des Paradigmas von conflict management gibt es nur noch zwei logische Möglichkeiten: entweder ein zunehmend zerstörerischer Krieg, der auf einem „Entweder wir oder sie“ beruht, oder eine tragfähige friedliche Lösung des Konflikts. Die Gefahr liegt jedoch darin, diese Alternativen als gleichwertig zu betrachten.
Obwohl sehr viel auf dem Spiel steht, zeigt sich die erste Option derzeit erschreckenderweise als nahezu unvermeidlich, während die zweite noch nie so schwer vorstellbar war. Es ist aber so: Die Unmöglichkeit, sich derzeit eine friedliche Lösung realistischerweise vorzustellen, sollte gerade als dringendes Zeichen verstanden werden, einen solchen Weg nach vorn zu ebnen. Israel ist seit Jahrzehnten ein Labor für moderne Kriegsführung und nationale Sicherheit. Israel und Palästina müssen zu einem Labor für innovative Politik und Diplomatie werden, um weitere Katastrophen zu vermeiden.
Ein solches Experiment könnte beginnen, indem eine einfache Heuristik befolgt wird: So zu handeln, dass man von dem derzeit eingeschlagenen destruktiven Weg abweicht. Vielleicht eröffnet die Umkehrung der Mechanismen und Dynamiken, die diesen Konflikt auf einen katastrophalen Pfad gebracht haben, eine Chance, ihn umzulenken. Die Katastrophe liegt auf der Hand: ein Krieg ohne Ende. Was treibt diesen Krieg an? Was könnte dem entgegenwirken? Bei der Beantwortung dieser Fragen sollten wir unsere jeweiligen Rollen ehrlich bewerten: Tragen meine Ideen und Handlungen zur Deeskalation bei? Wenn nicht, könnten sie durchaus mitschuldig sein.
In dieser Hinsicht sind alternative Ideen wie eine israelisch-palästinensische Föderation, eine Regierung unter internationaler Kontrolle für Ostjerusalem und sogar eine Nahost-Union nicht unrealistischer als die alte Zweistaatenlösung und ihr extremes Gegenstück, der eine Staat. Wenn sich Israelis und Palästinenser endlich als Schicksalsgefährten anerkennen und sich bemühen, Partner zu sein, könnten realistischere Wege beschritten werden als eine harte räumliche Trennung oder die utopische Vorstellung einer politischen Einheit.
Aber ist die israelische Linke überhaupt in der Position, eine Alternative anzubieten, nachdem der Glaube an das hehre conflict management erst einmal beerdigt ist? Es kann kaum mehr auf dem Spiel stehen, denn es muss einer immer offeneren genozidalen Denkweise entgegengetreten werden. Nun hat die israelische Linke einen schweren Schlag erlitten und braucht jede Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen.
Viele der Opfer des Massakers vom 7. Oktober waren nicht nur Mitglieder von Kibbuzim – die zum Kern der traditionellen israelischen Linken gehören –, einige von ihnen waren auch Mitglieder in Friedensgruppen. Während die Trauer noch in den Anfängen steckt, werden wir weltweit mit entsetzlichen Reaktionen konfrontiert – viele davon von selbsternannten Progressiven –, die von der Leugnung der an israelischen Zivilisten begangenen Gräueltaten bis hin zu deren Rechtfertigung reichen.
Selbsternannte pro-palästinensische „Progressive“, die den Schrecken des Massakers vom 7. Oktober entweder rechtfertigen, leugnen oder einfach herunterspielen, stimmen – welche bittere Ironie – in einer Sache voll und ganz mit der Grundposition der israelischen Rechten überein: Palästinenser und die Hamas seien ein und dasselbe. Die Schlussfolgerungen sind nur scheinbar gegensätzlich: Für solche „Pro-Palästinenser“ ist das Ziel eine simple Vorstellung von „Dekolonisierung“, die faktisch das Verschwinden der Juden aus dem Land between the river and the sea bedeuten würde. Für die israelische Rechte ist die Schlussfolgerung, dass der Krieg gegen alle Palästinenser gerichtet ist – Palästina gleich Hamas.
Unterscheidung zwischen zwei Kämpfen
Die „postkoloniale“ Unterstützung für die Palästinenser mag dazu dienen, das Image des „gerechten Kriegers“ in digitalen Echokammern aufzupolieren, aber im wirklichen Leben befördert sie nicht nur Gewalt gegen Israelis und Juden weltweit, sondern auch die Ängste der Israelis und ihr Gefühl der Isolation – was wiederum dazu führt, die Palästinenser einer unerbittlichen Gewalt und Wut von israelischer Seite auszusetzen.
Jede Hoffnung auf Frieden muss mit einer politischen und moralischen Unterscheidung zwischen zwei Kämpfen beginnen, die sich überlagern: einerseits dem Kampf der Palästinenser für Freiheit und Gleichheit und andererseits dem islamistischen Programm von Gruppen wie der Hamas und ihren Verbündeten, deren völkermörderisches Ziel abscheulich ist und für die Gewalt und Terror mehr als ein bloßes Mittel zum Zweck sind.
Es wäre die zentrale Aufgabe der israelischen Linken, diesen Unterschied deutlich zu machen: Es gibt berechtige Forderungen der Palästinenser einerseits und andererseits den Terrorismus, der sich zunehmend als lautestes und vermeintlich einziges Mittel ihrer Befreiung zeigt. Nur ist es leider so: Der Wind ist derzeit gegen diejenigen gerichtet, die gegen die ständig eskalierende Gewalt ankämpfen – und die ohnehin zu den schwachen Kräften in Israel gehören.
Eine zweite Nakba
Was indes die Illusion von conflict management zerstörte, war der abscheuliche Angriff auf Zivilisten. Was am 7. Oktober geschah, war ein realer Albtraum: Die Israelis erlebten ein Pogrom innerhalb der souveränen Grenzen ihres Nationalstaats, und ihr grundlegendes Sicherheitsgefühl wurde erschüttert, wenn nicht gar gebrochen. Mit der militärischen Reaktion Israels (und dem zynischen Spiel der Hamas, die auf eine solche Reaktion setzte) erleben die Palästinenser eine zweite Nakba, erleiden unvorstellbare Verluste, werden aus ihren Häusern vertrieben und werden zu Vertriebenen auf ihrem eigenen Territorium.
Die neue Katastrophe im Nahen Osten nach dem Massaker hat sich auch als neuer Tiefpunkt im öffentlichen Diskurs weltweit erwiesen. Man wird praktisch gezwungen, zwischen zwei inakzeptablen Positionen zu wählen: „Pro-Palästinensisch“ zu sein bedeutet demnach, den Schrecken des 7. Oktober zu rechtfertigen oder zu verharmlosen; „pro-israelisch“ zu sein ist gleichbedeutend damit, die zivilen Opfer in Gaza als unausweichlichen Kollateralschaden zu rechtfertigen oder herunterzuspielen und die Jahre der Besatzung zu ignorieren.
Das extrem polarisierende Echo des Krieges sollte von der Öffentlichkeit auf der ganzen Welt mit Sorge zur Kenntnis genommen werden. Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass Social Media eine erschreckende Macht hat, politische Diskussionen so stark zu radikalisieren, dass sich ein regionaler Krieg zu einer globalen Katastrophe ausweiten könnte. Die Reaktionen auf den Krieg haben deutlich gemacht, dass die berühmten digitalen Echokammern keine frei schwebenden, isolierten Teilräume der öffentlichen Meinung hervorbringen – was schon schlimm genug wäre –, sondern unlösbare Konfliktpositionen erzeugen. Man fokussiert sich auf das Negative und die Irrtümer der anderen Seite. Die Punkte, bei denen die andere Seite recht haben könnte, werden ausgeblendet.
Moral von Politik unterscheiden
Können wir einen Ausweg aus der wachsenden Enttäuschung finden über die hehren Ideale der Aufklärung, die mehr und mehr nicht nur als gescheitert, sondern geradezu als heuchlerisch wahrgenommen werden (und was die zentrale ideologische Botschaft des neuen, überall auf dem Vormarsch befindlichen Autoritarismus ist)? In einer Zeit, in der unsere Welt mit hochgradig politisierten Katastrophen konfrontiert ist – von Krieg über Hungersnot bis hin zu Massenmigration –, ist in immer komplexeren politischen Situationen moralische Klarheit erforderlich.
Wir müssen lernen, Moral von Politik und Machtdynamik zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. In diesem Krieg besteht die Reaktion der Handelnden allzu oft darin, sich entweder hinter der Komplexität zu verstecken, um unmoralische Handlungen zu rechtfertigen, oder Moral und Vernunft zu zerstören.
Es sollte nicht so schwer sein, zu erkennen, dass Macht zwar moralische Erwägungen beeinflusst, diese aber nicht außer Acht lassen sollte: Israel, die stärkere Partei im Konflikt, trägt mehr Verantwortung, trägt aber nicht die ganze Verantwortung. Sowohl aus moralischen als auch aus praktischen politischen Gründen kann die Unterstützung der Palästinenser nur mit einer absoluten Ablehnung der von der Hamas begangenen Gräueltaten einhergehen. Dies heißt – nochmal – anzuerkennen, dass der gerechte Kampf für die palästinensische Befreiung von den abscheulichen Taten der Hamas unterschieden werden muss.
Die Unterstützung Israels wiederum kann nur mit einer Ablehnung zerstörerischer Kriegsführung, die zivile Opfer hinnimmt, und auch der Ablehnung der jahrzehntelangen Besatzung und der damit verbundenen siedlerkolonialen Dynamik einhergehen. Dies würde bedeuten, zwischen einem Existenzrecht, das allen gewährt werden sollte, und einem Recht auf Unterdrückung, das niemandem gewährt werden sollte, zu trennen.
Übersetzung aus dem Englischen: Gunnar Hinck
Yuval Kremnitzer unterrichtet Philosophie an der Universität Tel Aviv und forscht am Franz Rosenzweig Minerva Center. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Krise moderner Gesellschaften als Problem des Nihilismus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“