NGO-Chef über den Krieg in Gaza: „Es geht darum, Leben zu retten“
Viele in Israel werfen dem Roten Kreuz vor, zu wenig für die Geiseln zu tun. Menschenrechtler Guy Shalev sieht die Verantwortung woanders.
taz: Herr Shalev, Physicians for Human Rights Israel hat jüngst ein Positionspapier zur sexualisierten Gewalt am 7. Oktober veröffentlicht. Darin sehen Sie deutliche Hinweise, wonach die Hamas bei ihrem Angriff sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt hat.
41, ist medizinischer Anthropologe. Seit anderthalb Jahren ist er zudem Direktor der NGO Physicians for Human Rights Israel.
Guy Shalev: Ja. Wir müssen ein vollständiges Bild noch bestimmen. Aber die Beweise und Berichte über sexuelle Gewalt während der Angriffe vom 7. Oktober reichen aus, um eine Untersuchung der Vorfälle als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu rechtfertigen.
Israel stellt sich dennoch gegen eine Untersuchung durch die Vereinten Nationen, da sie diese für voreingenommen hält. Israelische Behörden führen derzeit eigene Untersuchungen durch. Sollte Israel in Ihren Augen mit der UNO kooperieren?
Unbedingt. Israel kann nicht verlangen, dass sich internationale Gremien mit den Beweisen für die von der Hamas begangenen geschlechtsspezifischen Verbrechen befassen – und gleichzeitig deren Fähigkeit, ordnungsgemäß zu ermitteln, behindern. Israels Weigerung hat in meinen Augen weniger mit der Voreingenommenheit der UNO zu tun, sondern eher mit Bedenken gegenüber internationalen Ermittlungen zu israelischen Verbrechen. Wenn sie die Ermittlungen zu den Verbrechen der Hamas legitimieren, wird es für sie schwieriger sein zu behaupten, dass die Ermittlungen zu israelischen Verbrechen voreingenommen und daher illegitim sind.
Immerhin hat Israel nun den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs ins Land gelassen, um sich mit Geisel-Angehörigen zu treffen.
Ja, das ist interessant. Zumal dieser seit der Ankündigung, wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gazakrieg 2014 gegen Israel zu ermitteln, keinen Zugang bekommen hatte – weder nach Israel noch in das Westjordanland und in den Gazastreifen.
In der internationalen Öffentlichkeit herrschte lange Schweigen über die sexualisierte Hamas-Gewalt, sogar von der UN-Abteilung zum Schutz der Frauen. Viele Israelis machen ihnen das zum Vorwurf.
Meines Erachtens lenkt das den Blick von denjenigen ab, die diese Verbrechen tatsächlich begangen haben – die Hamas-Kämpfer. Wir haben uns jetzt für ein vorläufiges Positionspapier entschieden, weil wir denken, dass es bereits ausreichend Informationen gibt, um etwas dazu sagen zu können, und dass es wichtig ist, dass wir nicht zu lange warten – für die Opfer und für den internationalen und lokalen Diskurs über dieses Thema. Ich würde aber etwa Human Rights Watch nicht die Schuld dafür geben wollen, dass sie keine Erklärung abgeben, die nicht ihren Protokollen zur Validierung der Daten entspricht. Und was wir auch nicht vergessen dürfen: dass viele der derzeitigen Debatten in der israelischen Öffentlichkeit von der Schuld der israelischen Regierung ablenken.
Wie meinen Sie das?
Wir sehen Demonstrationen gegen das Rote Kreuz, als ob das Rote Kreuz für das, was am 7. Oktober geschah, verantwortlich gemacht werden sollte. Dabei sind die eigentlichen Schuldigen das Militär und die Regierung, die die Bürger*innen nicht beschützen konnten.
Die Wut auf das Rote Kreuz ist in Teilen der israelischen Öffentlichkeit dennoch groß. Es kursieren beispielsweise Bilder, auf denen das Rote Kreuz zu einem Hakenkreuz verlängert wird. Wie denken Sie darüber?
Seit Beginn des Krieges haben wir versucht, Medikamente zu den Geiseln zu bringen. Ein Grund, warum das noch nicht geklappt hat, ist, dass der israelische Angriff in vollem Gange war. Einer unserer Versuche scheiterte, weil das Rote Kreuz nicht riskieren konnte, dass dessen Leute dorthin gelangen, wo wir sie haben wollten, damit die Medikamente möglicherweise zu den Geiseln gelangen konnten. Israel hat 50 Tage lang hintereinander bombardiert, ohne dass es Sicherheitskorridore oder sichere Orte gab, an denen das Rote Kreuz seine Arbeit tun konnte. Das Rote Kreuz ist keine Kommandotruppe, die die Geiseln finden und besuchen kann.
Physicians for Human Rights Israel ist eine von wenigen israelischen NGOs, die derzeit einen Waffenstillstand fordern. Befürchten Sie nicht, dass ein solcher das Überleben der Hamas sichern könnte?
Für uns ist klar: Alle Geiseln müssen sofort freigelassen werden und es braucht einen sofortigen Waffenstillstand. Es gibt keine Möglichkeit, diesen Krieg fortzusetzen, ohne Zivilist*innen großen Schaden zuzufügen und viele Menschen zu töten. Im Süden des Gazastreifens sitzen 1,7 Millionen Binnenvertriebene fest, die nun darauf warten, erneut angegriffen zu werden, nachdem man ihnen gesagt hat, dass der Süden ein sicherer Ort für sie sei. Ein Waffenstillstand ist also keine politische Lösung. Es ist eine Menschenrechtsfrage. Und es ist eine ethische Frage. Die politische Frage ist für uns eine sekundäre Ebene der Diskussion. Auf der ersten Ebene geht es darum, Leben zu retten, und das ist der einzige Weg, das zu tun.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz
„Jesus hat wirklich sozialistische Sachen gesagt“
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht