Mesut Özil rechnet ab: Der Fall Özil ist ein Fall Grindel
Einer der wichtigsten DFB-Nationalspieler tritt zurück: Mesut Özil will den deutschen Rassismus nicht mehr ertragen.
Nie zuvor ist es passiert, dass ein deutscher Fußball-Nationalspieler in dieser Weise Klartext redet. Mesut Özil hat es getan, und was er zu sagen hat, ist das beste, was der deutschen Multikultidebatte passieren konnte. Der 29-jährige, der kürzlich bei der WM in Russland sein 92. Länderspiel für den DFB absolvierte, erklärte gestern seinen Rücktritt aus dem Kader von Joachim Löw. Im dritten Teil seiner per Twitter auf Englisch verbreiteten Stellungnahme zur Debatte um ihn als Spieler schreibt er: „Ich fühle mich ungewollt und denke, dass das, was ich seit meinem Länderspiel-Debüt 2009 erreicht habe, vergessen ist.“
Aber er hat noch viel mehr zu sagen. Der Mann aus dem Ruhrpott schließt sein beißend-klares Statement mit Sätzen, die faktisch den echten, nicht nur gutherzig-gefühlten Stand der Debatte ums Zusammenleben mit migrantisch geprägten Bürger*innen zusammenfassen: „Mit schwerem Herzen und nach langer Überlegung werde ich wegen der jüngsten Ereignisse nicht mehr für Deutschland auf internationaler Ebene spielen, so lange ich dieses Gefühl von Rassismus und Respektlosigkeit verspüre.“
Weiter: „Ich habe das deutsche Trikot mit solchem Stolz und solcher Begeisterung getragen, aber jetzt nicht mehr. Diese Entscheidung war sehr schwer, weil ich immer alles für meine Teamkollegen, den Trainerstab und die guten Leute in Deutschland gegeben habe. Aber wenn hochrangige DFB-Funktionäre mich so behandeln, meine türkischen Wurzeln missachten und mich egoistisch als politisches Propagandamittel nutzen, dann ist es genug. Dafür spiele ich nicht Fußball, und ich werde mich nicht zurücklehnen und nichts dagegen tun. Rassismus darf nie und nimmer hingenommen werden.“
Özil stand fast neun Jahre im Kader von Joachim Löw, 2009 in Baku feierte der fußballerisch hochbegabt-feingliedrige Mittelfeldspieler sein Debüt als DFB-Spieler in einem Qualifikationsmatch für die nahende WM in Südafrika. Seit der WM in Russland, bei der das deutsche Team mit überwiegend zähen Performances schon nach der Vorrunde nach Hause fahren musste, ist der gebürtige Gelsenkirchener der Sündenbock für die sportliche Havarie der DFB-Auswahl.
Kein Raum für eigene Befindlichkeiten
Dass Özil, einer der Wichtigsten beim deutschen WM-Sieg in Brasilien 2014, zum einzigen Spieler wurde, an dem sich die giftige Diskussion um den schlechten deutschen DFB-Fußball entzündete, liegt allerdings auch an ihm selbst. Mitte Mai hatte er sich in England, zusammen mit dem ebenfalls aus einer türkischstämmigen Familie erwachsenen Ilkay Gündogan, mit dem türkischen Staatspräsidenten Recec Tayyip Erdoğan nicht nur getroffen, sondern diesem auch ein Fußballshirt mit seinem Namenszug darauf geschenkt. Die Geste provozierte starke Kritik – vor allem, weil Erdoğan ein autokratischer Präsident mit beinah diktatorischen Befugnissen ist, in der Türkei alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens säubert und die Staatsapparate nach eigenem politischem Geschmack „islamisiert“.
In Wahrheit wurde dieses Özil-Rendezvous in seiner neuen, englischen Heimat – der Ex-Schalker spielt seit gut fünf Jahren beim FC Arsenal – mit Erdoğan als selbst angezeigte Ambivalenz im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zu Deutschland gewertet. Anders als sein DFB-Mannschaftskollege Gündogan aber erklärte sich Özil öffentlich bis Sonntag nicht: Zwar reagierte er auf die Einbestellung zum Gespräch bei DFB-Präsident Reinhard Grindel. Doch der CDU-Politiker, seit 2016 als Präsident des DFB amtierend, bot dem Fußballer keinen Raum, die eigene Befindlichkeit mitzuteilen.
Vielmehr, so Özil in seinem aktuellen Statement, stelle es sich für ihn so dar: „Die Sache, die mich wahrscheinlich am meisten in den vergangenen Monaten frustiert hat, war die schlechte Behandlung durch den DFB, und vor allem durch den DFB-Präsidenten Reinhard Grindel. Nach meinem Bild mit Präsident Erdoğan wurde ich von Joachim Löw gebeten, meinen Urlaub zu verkürzen, nach Berlin zu reisen und ein gemeinsames Statement abzugeben, um alle Diskussionen zu beenden und die Sache richtig zu stellen. Als ich Grindel mein Erbe, meine Vorfahren und die daraus entstandenen Gründe für das Foto zu erklären versuchte, war er viel mehr daran interessiert, über seine eigenen politischen Ansichten zu sprechen und meine Meinung herabzusetzen.“
„Gegen die Wand gefahren?“
Grindel also qualmte den Mann, der ihm den sonnigen Posten an der Spitze des mächtigsten deutschen Sportverbands überhaupt erst mit verschafft hat, zu – und wollte nichts davon hören, dass die psychologischen Verhältnisse im wahren Leben eines Mannes wie Özil komplizierter sind als es eine deutsche Person von hartleibigem Charakter sich auszumalen wünscht.
Özil wollte nämlich erzählen, dass er sich nichts Politisches dabei gedacht habe, Erdoğan – und dies nicht zum ersten Mal – zu treffen, eher sei es eine selbstverständliche Sache gewesen, den türkischen Präsidenten zu treffen. Der sei immerhin der Staatschef des Landes seiner Eltern.
Immer klarer schält sich heraus, dass der Fall Özil tatsächlich ein Fall Reinhard Grindel ist. Ende voriger Woche kritisierte bereits Karl-Heinz Rummenigge, Bayern-München-AG-Vorstandsvorsitzender, das Management der DFB-Spitze mit dem sogenannten Fall Özil: „Amateure haben Geschehen im DFB übernommen“ – und das zielte auf den DFB-Vorstand mit Reinhard Grindel an der Spitze.
Der notorisch am rechtskonservativen Rand der Union segelnde, eher Horst Seehofer als Angela Merkel politisch zungeneigte, hat aus seiner ablehnenden Haltung eines multikulturellen Deutschland nie ein Geheimnis macht. Die Integration von neudeutschen Bürger*innen ist für ihn „Ausländerpolitik“, Multikulti überhaupt ein unzumutbarer „Kuddelmuddel“. „Gegen die Wand (gefahren)“, Grindels Mahnung vor 14 Jahren im Bundestag mal ernst genommen, ist jetzt die Integrationsarbeit des DFB: In den Nachwuchsligen seines Verbands sind alle Spieler aktiv, die dereinst Deutschland auch international repräsentieren können. Besser: könnten.
Es spricht viel dafür, dass Özils bittere Abrechnung mit dem undankbaren DFB zu einem Verzicht türkischstämmiger deutscher Spieler auf die Dienste für den DFB führt. Sie könnten schließlich auch für die türkische Nationalmannschaft spielen. Man darf insofern formulieren: Reinhard Grindel hat, aus intellektueller Unterkomplexität oder politischer Dummheit, Deutschlands Fußballzukunft zu einer offenen Frage gemacht.
Die Angst deutschtürkischen Community
Und als dürfe einer wie der DFB-Präsident in Sachen Respektlosigkeit nicht allein in der kleinen deutschen Welt bleiben, kartete jetzt Bayern-München-Mogul Uli Hoeneß nach. Bild.de gegenüber formulierte er: „Ich bin froh, dass der Spuk vorbei ist. Der hat seit Jahren einen Dreck gespielt. Den letzten Zweikampf hat er vor der WM 2014 gewonnen. Und jetzt versteckt er sich und seine Mist-Leistung hinter diesem Foto.“
Dass in der deutschtürkischen Community spätestens seit 1990, mit dem Fall der Mauer, kollektive Ängste vor Rassismus und Abwertung stärker denn je geworden sind, dass es eine Wahrnehmung als neudeutsche Bürger*innen gibt, die Herzenskälte und Desinteresse an ihnen signalisieren, hat der DFB nie merken wollen: Die Brandanschläge auf ein türkisches Wohnhaus in Solingen, die fehlende Trauer um deren Opfer, die Serie der NSU-Morde an Menschen meist türkischer Herkunft, die zunächst nicht für neonazistisch inspiriert eingeschätzt werden sollte, sprechen eine Sprache, auf die Menschen wie Mesut Özil verstört reagieren mussten und müssen.
Mesut Özils Abrechnung mit seinem Verband, der Rücktritt als Nationalspieler, die Kritik an Rassismus an der DFB-Spitze und andernorts, wurde von SPD-Justizministerin Katarina Barley zurecht als „Alarmzeichen“ charakterisiert. Es ist mehr als das: Özils wütender Hilferuf ist auch ein Symbol für die Wünsche im DFB (und Deutschland), aus der Fußballnationalmannschaft wieder die kernige Truppe früherer Tage zu gestalten – ohne „Multikulti-Kuddelmuddel“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos