Medienforscher zu Nazis auf Social Media: „Faschismus ist heute Lifestyle“
Simon Strick erklärt, warum Rechte im Netz längst kultureller Mainstream sind – und chronische Opposition auf Social Media immer gewinnt.
taz: Herr Strick, schlittern wir in einen neuen Faschismus?
Simon Strick: Nein, wir wachsen in einen hinein. Die Neue Rechte ist seit Langem keine Subkultur mit Glatze und Spingerstiefeln mehr. Sie ist eine leicht erreichbare Mediensphäre, die den klassischen Öffentlichkeiten Konkurrenz macht. Neofaschismus ist heute Lifestyle, Gegenkultur und Parallelöffentlichkeit. Er greift nicht als totalitäre Struktur von oben, im Gegenteil: Er wird in sozialen Netzwerken von Influencern, Alternativmedien und NutzerInnen von unten gebildet.
forscht zu digitalem Faschismus. In seinem Buch „Rechte Gefühle“ beschreibt er, wie rechtsextremes und völkisches Gedankengut seit Jahren systematisch im Internet verbreitet werden, am Beispiel der USA und Deutschland.
taz: Das herkömmliche Faschismusverständnis ist also überholt?
Strick: Aus meiner Sicht ja, völlig überholt. Faschismus beschreibt für mich heute eher eine Atmosphäre als eine Ideologie. Die Neue Rechte benutzt die Sprache der Identitätspolitik, des Marktes und der alltäglichen Bedrohungsgefühle. Im Netz sind ihre Akteure stark und professionell. Die AfD ist nur ein Beispiel dafür: Sie war als erste Partei auf allen Plattformen präsent, das wiederholt sich auf TikTok. Dort erzielt sie mit Masse und Provokation die höchsten Reichweiten, alle anderen laufen hinterher. Im Netz sind Rechte der kulturelle Mainstream. Faschismus ist keine subkulturelle Nische mehr. Rassismus, Antisemitismus und Sexismus sind längst Breitenphänomene.
taz: Es geht nicht mehr um Ideologie?
Strick: Natürlich geht es bei der Neuen Rechten auch um Ideologie. Seit Jahren sprechen Rechtsextreme wie Björn Höcke und Martin Sellner offen über den sogenannten großen Austausch, den „Volkstod“ und die „Remigration“. Nichts davon ist geheim. Neue Rechte kommunizieren unverhüllt und finden im Netz riesige Resonanz. Seit den 1980ern stellen Studien fest, dass etwa 40 Prozent der Deutschen Angst vor „Überfremdung“ haben. Da knüpfen die Rechtsextremen an, das drücken sie aus. Die Recherchen der Correctiv-Redaktion im Januar haben also nur enthüllt, was eigentlich allen bekannt sein muss.
taz: Die Ideologien wabern im Netz und die gesellschaftliche Mitte begreift es nicht?
Strick: Genau, man möchte immer noch überrascht sein, dass es große rassistische und rechtsextreme Potenziale in Deutschland gibt. Im Netz zeigen sich diese alltäglich, mal strategisch provoziert von Rechtsextremen, mal spontan von NutzerInnen artikuliert, die sich über irgendwas aufregen. Im Netz arbeiten sie zusammen, um ein rechtsgerichtetes autoritäres Programm in Alltagsdiskurse und Feindbilder zu übersetzen. Rechte Ideologie wird heute nicht mehr vom Führer persönlich verkündet, es ist Schwarmtätigkeit.
taz: Das heißt konkret?
Strick: Es sind teilweise völlig banale Sachen: der Aldi-Katalog hat jetzt schwarze Models? Das muss der große Austausch sein! Ein anderes Szenario: Auf Meldungen in Zeitungen oder Rundfunk wird mit „Lügenpresse“ oder „Staatsfunk“ reagiert, die wieder neue Unwahrheiten in die Welt setzen würden. Social Media sind der Ort, wo jeder genau das sagen kann. Dieser Mechanismus passt zum Grundkonstrukt des Faschismus: Das unterdrückte und entmündigte Volk begehrt gegen die Elite auf, um die Nation vor dem Untergang zu retten. Hier entsteht weniger eine ideologische Gleichschaltung als ein geteilter Gefühlsraum der Bedrohung. Eher ein Flächeneffekt als Führerbefehl.
taz: Werden soziale Medien für den Aufstieg der Rechten noch immer unterschätzt?
Strick: Was heißt unterschätzt: Social Media dominiert längst die Berichterstattung und damit die Wahrnehmung der politischen und gesellschaftlichen Realität. Konventionelle Medien – also Zeitungen oder der öffentliche Rundfunk – referieren ständig auf soziale Netzwerke wie X. Dort verbreiten politische Akteure ihre Inhalte, vermischt mit NutzerInnen, gesteuert von Algorithmen. Das Ganze hat Folgen, deren umwälzende Wirkung wir gar nicht überschätzen können. Große Teile der gesellschaftlichen und politischen Kommunikation haben sich auf Social Media verlagert. Mit allen Nebenerscheinungen wie Informationsflut, Emotionalisierung, Verkürzung, Filterblasen, Dekontextualisierung und so weiter. Diese Unübersichtlichkeit treibt unter anderem den Rechtsextremismus, denn schnelle, polarisierende Botschaften haben in dieser Situation taktische Vorteile.
taz: Wie können wir Information von Emotion trennen?
Strick: Ich halte die Trennung gar nicht für sinnvoll. Social Media ist genau für deren Vermischung da. Man teilt nicht nur eine Information mit, sondern auch seine Reaktion darauf. Das erleben Sie nach jeder „Markus Lanz“-Sendung, wenn Ausschnitte verschickt und skandalisiert werden und sich viele über „die da oben“ aufregen. Eine Partei der Fundamentalopposition wie die AfD hat in diesen Dynamiken quasi Heimvorteil. Das ist wie eine endlose Kommentarspalte oder Kneipendiskussion, die oft nur die größtmögliche Übersicht zulässt, und das ist „Volk gegen Elite“, also das rechtspopulistische Grundkonzept.
taz: Welche Rolle spielt X?
Strick: Wie andere Netzwerke ist X ein Medium der Verkürzung und der Zuspitzung. Regierungsmeldungen und Journalismus funktionieren hier nur als Trigger. Was funktioniert, ist das laute Infragestellen, die Polemik, der Shitstorm. Rechte Parteien als chronische Opposition gewinnen dieses Spiel immer. Das machen sie glaubhaft und damit hören sie auch nicht mehr auf. Donald Trump hat selbst als regierender Präsident der USA noch behauptet, er sei Opposition. Mit Elon Musk ist Twitter zu einer Plattform geworden, die rechtsextreme Accounts protegiert und als Ganzes in Fundamentalopposition zu Leitmedien und System gegangen ist. Das muss allen JournalistInnen und PolitikerInnen klar sein. Sind sie dort aktiv, agieren sie auf einer Plattform, wo Rechte hegemonial sind. Rechte bestimmen, was Sie in Ihrer Timeline überhaupt zu sehen bekommen. Ein unglaubliches Experiment aus meiner Sicht.
taz: Es posten aber ja nicht nur Rechtsextreme dort.
Strick: Nein. Das ist das Witzige an Social Media, das machen quasi alle. Und es gibt ja auch viel an offiziellen Nachrichten zu kritisieren, im Nahostkonflikt zum Beispiel bietet das Netz derzeit eine wichtige Vielfalt an Berichterstattung; an Propaganda natürlich auch. Nur: Wenn die Grunderzählung einer politischen Bewegung ist, dass Medien und System gegen die eigene Gruppe – oder Volksgruppe – arbeiten, dann hat sie einen Vorteil in den sozialen Medien. Wenn zum Beispiel über die Straftat einer migrantischen Person nichts in der „Tagesschau“ läuft, wird dies als Verschwörung gedeutet, über kriminelle Migranten werde nicht berichtet. Diese Verschwörungstheorien sind eine partizipative Veranstaltung, das ist Mitmach-Propaganda. Setzen die Rechten eine effektive Provokation, schließen sich viele Leute an.
taz: Lässt sich nichts dagegen tun?
Strick: Man kann sehr viel dagegen tun, das Netz ist ein partizipativer Laden mit vielen verschiedenen Stimmen. Höchste Aufmerksamkeit erhalten aber oft strategische Provokationen über den „Untergang des Abendlandes“. Gute Sozialpolitik, gelungene Integration oder die faktische multikulturelle Realität schaffen es selten zur Nachricht. Migration als Problem dagegen erreicht immer höchste Aufmerksamkeit in allen Medien, sie ist laut fast allen Parteien angeblich „die Mutter aller Probleme“. Ich denke, das ist ein neurechter Erfolg der letzten zehn Jahre, diese breite Durchsetzung von „Migration als Hauptproblem“.
taz: Machen sich die Medien mitschuldig am Aufschwung der Rechten?
Strick: Seit Jahren wird empfohlen, rechten Provokationen nicht hinterherzulaufen, ihre Akteure nicht hochzuschreiben. Selbst ein Faktencheck lenkt die Aufmerksamkeit auf rechte Welterklärungen und Feindbilder. Rechte Themen und Provokationen – „Remigration“, „Volkstod“, oder derzeit der AfD-Vorschlag, Migranten von Volksfesten auszuschließen – so was wird rauf und runter diskutiert. So gelingt Themensetzung. Medien haben eine große Verantwortung, da gegenzusteuern. Natürlich braucht es Analyse der derzeitigen rechten Hegemonie, aber die besteht nicht darin, über deren explizite Programme immer wieder neu schockiert zu sein. Seit den 1990ern ist klar, was rechte Positionen sind und wie viel Zustimmung man für „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ bekommen kann – in der breiten Bevölkerung wie bei einigen Eliten. Wer da noch überrascht ist, simuliert. Es ist auch klar, was man dagegen tun kann: Menschen und Strukturen schützen, andere Weltbilder und Problemlösungen öffentlich vertreten.
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