Maßnahmen gegen Coronavirus: Keine Evaluierung geplant
Was bringen Kontaktverbote und Schulschließungen? Derzeit kann das niemand sagen. Wissenschaftlich untersucht wurde es noch nicht.
Der Bußgeldkatalog für, nun ja, Coronabrecher hat es in sich: 200 Euro für Zusammenkünfte von mehr als zwei nicht miteinander wohnenden Personen in der Öffentlichkeit. 250 Euro für ein Picknick (pro Person). 1.000 Euro für eine Sportveranstaltung. Und so geht es weiter, bei wiederholten Verstößen werden bis zu 25.000 Euro fällig.
Nun wäre es anzunehmen, dass, wer die Grundrechte so empfindlich einschränkt und Verstöße dagegen mit saftigen Bußgeldern bedroht, Daten vorlegen kann sowohl zur Wirksamkeit der Maßnahmen als auch zu ihrem möglichen Schaden oder ihren unerwünschten – sozialen, psychischen, bildungspolitischen und wirtschaftlichen – Nebenwirkungen. Anzunehmen wäre ebenfalls, dass, sollten diese Daten noch nicht vorliegen, man keine Mühen scheuen würde, diese schnellstmöglich zu erheben.
Denn dies würde es ermöglichen, die Effektivität der Maßnahmen, begleitend zu ihrem Einsatz, zu evaluieren und ins Verhältnis zu setzen zu ihren unerwünschten Nebenwirkungen. Daten können politische Entscheidungen nicht ersetzen. Aber sie können helfen, politische Entscheidungen zu legitimieren.
Überprüfung nicht geplant
Doch an verlässlichen Daten, Messungen und Erhebungen zu der Frage, welche positiven wie negativen Effekte genau Schulschließungen, Kontakt-, Aufenthalts- und Arbeitsverbote sowie weitere „nicht-pharmakologische Interventionen“ (NPI) eigentlich haben, ist denjenigen, die sie lautstark befürworten, offenbar nicht gelegen.
Deutschland greift zu drastischen, womöglich ruinösen Maßnahmen, ohne diese durch begleitende Forschung zu bewerten und vor allem: auf ihre Effektivität hin zu überprüfen. Das ergaben Anfragen der taz beim Bundesgesundheitsministerium (BMG), beim Bundesforschungsministerium (BMBF) und beim Robert-Koch-Institut (RKI).
„Eine Evaluierung der Effekte dieser Maßnahmen“, teilt ein Sprecher des Gesundheitsministeriums der taz mit, „kann aufgrund der Kürze der Einschränkungen noch nicht stattfinden.“ Auch auf absehbare Zeit wird es sie wohl nicht geben: „Das BMBF hat keine Studien beauftragt“, erklärt eine Sprecherin lapidar.
Nur aus China lägen „vorläufige Ergebnisse solcher Studien“ vor. Jedoch: „Gegenwärtig ist unklar, ob diese auf die deutsche oder europäische Situation übertragbar sind. Belastbare Erkenntnisse aus Deutschland oder Europa liegen dem BMBF nicht vor.“ Und kurzfristig, so die Sprecherin, werde sich daran auch nichts ändern: „Es wurde keine Begleitforschung beauftragt.“ Warum das so ist? Die Ministerien und auch das staatseigene RKI schweigen. Auch auf schriftliche Nachfrage gibt es keine Begründung.
Screenings nicht vorgesehen
Ebenfalls keine Antwort gibt es auf die Frage, weshalb in Deutschland immer noch keine Corona-Screenings durchgeführt werden, für die sich unter anderem der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ausgesprochen hatte. Gemeint ist eine Testung von verschiedenen Kohorten bisher nicht auf das Virus getesteter Personen, die herausfinden könnte, wie weit das Virus bereits in der Bevölkerung verbreitet ist.
„Man wüsste dann, ob social distancing überhaupt den gewünschten Effekt erzielen kann“, sagt der Bioethiker und Vizedirektor des Quest-Center am Berlin Institute of Health, Daniel Strech. Und man könnte Antworten auf die Fragen geben, die sich auch in China stellen: Gibt es dort kaum noch neue Diagnosen wegen der effektiven nicht-pharmakologischen Interventionen? Oder vielleicht, weil bereits die Mehrheit der Bevölkerung infiziert ist, aber keine Symptome zeigt?
Immerhin, räumt das Bundesforschungsministerium ein, könnten sich interessierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf eigene Initiative an einem jüngst gestarteten Förderaufruf des Ministeriums zur Erforschung von Covid-19 beteiligen; eine Projektförderung auch zu epidemiologischen Fragestellungen und zu ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten „im Zusammenhang mit dem Ausbruchgeschehen“ sei über einen Zeitraum von 18 Monaten möglich.
Die Ausschreibungsfrist hierzu endet am 11. Mai. Danach werde über die Vergabe der Mittel entschieden. Wer jemals an einer deutschen Universität mit öffentlichen Mitteln geforscht und den bürokratischen Bewilligungsdschungel durchlitten hat, weiß: Vor dem Herbst geht da gar nichts los.
„Wir brauchen die Daten aber bald“, mahnt der Bioethiker Strech. Es sei „wichtig, auch den möglichen Schaden zu untersuchen: Wie viele pflegebedürftige, alte Menschen leben nun isoliert in Pflegeheimen ohne Begleitung ihrer Angehörigen oder in der Häuslichkeit ohne Fürsorge einer ausländischen Betreuungskraft? Wie viele Menschen erleiden gesundheitlichen Schaden, weil sie nicht operiert werden? Wie ist das Familienleben beeinträchtigt? Wie viele Unternehmerinnen oder Unternehmer verzweifeln an ihrer Insolvenz? Hierzu benötigen wir medizinische und sozialwissenschaftliche Begleitforschung“, so Strech. Doch danach sieht es nicht aus.
Wie kann das sein? Auf welcher Grundlage werden Millionen Kinder vom Schulunterricht ausgeschlossen, werden weitere Millionen Menschen ins Homeoffice verbannt oder in die Arbeitslosigkeit geschickt? Wenn diese Maßnahmen – und zwar zeitnah, also begleitend zu ihrer Durchführung –, nicht auch wissenschaftlich überprüft und hinterfragt werden?
Einmal innehalten
Der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) immerhin wagte am Mittwoch sanfte Kritik an der vermeintlichen Alternativlosigkeit der bislang ergriffenen Maßnahmen: „Ich bin überzeugt, es ist höchste Zeit, einmal innezuhalten, um darüber nachzudenken, ob wir wirklich auf dem richtigen Weg sind“, schrieb er in einem Gastbeitrag für die Rheinische Post. Geholfen sei niemandem, wenn ein ganzes Land auf unabsehbare Zeit in Quarantäne genommen werde.
Doch auch zu der Frage, wie lange der Ausnahmezustand andauern soll und wann welche Einschränkung nach welchen Kriterien überprüft und möglicherweise gelockert werden kann, gibt es keine Auskunft. Der Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, orakelte am Mittwoch bloß, die Epidemie werde sicher „noch einige Wochen“ im Land bleiben. Derzeit würden die Bewegungsströme der Bevölkerung anhand aggregierter und anonymisierter Handy-Daten der Telekom ausgewertet. Er sei „optimistisch“, dass die Maßnahmen griffen.
Worauf genau dieser Optimismus gründet und wie berechtigt er ist, ist indes schwer nachzuvollziehen. Auf Nachfrage verweist das RKI, Deutschlands oberste Behörde zum Schutz vor Seuchen, auf den „Nationalen Pandemieplan, Teil 2“. Dort werde „das Thema“, schreibt eine Sprecherin, zumindest für Influenza, „ausführlich diskutiert“.
Und es stimmt. Im Nationalen Pandemieplan findet sich ein Kapitel mit dem Titel „Nicht-pharmakologische Maßnahmen“, in dem auch gefragt wird: „Welche Evidenz liegt für die einzelnen Maßnahmen vor, dass diese eine Übertragung von Influenza zu reduzieren vermögen“, und „welche Aspekte (über die Effektivität hinaus) sind für Entscheidungen zu berücksichtigen, um bestimmte Maßnahmen zu ergreifen oder zu empfehlen?“
Datengrundlage über 100 Jahre alt
Die Ergebnisse der Literaturrecherche freilich sind ernüchternd: Die Entscheidung etwa, im Fall einer Pandemie Schulen zu schließen oder Massenveranstaltungen abzusagen, beruhe bis heute vor allem auf Daten, die während der Grippe-Epidemie von 1918 gewonnen wurden, Daten also, die mehr als 100 Jahre alt sind. „Modellierende Berechnungen legen zwar einen Effekt der damaligen Bemühungen nahe, allerdings bestehen Zweifel bezüglich der Übertragbarkeit auf die heutige Situation“, heißt es denn auch im Pandemieplan.
Die logische Schlussfolgerung haben die für die Seuchenbekämpfung Verantwortlichen übrigens auch bereits gezogen, zumindest theoretisch und als Hinweis versteckt auf Seite 77 des Nationalen Pandemieplans: „Insgesamt besteht ein großer Forschungsbedarf, da zu vielen der hier untersuchten Maßnahmen nur wenige belastbare Daten und verallgemeinerungsfähige Studien vorliegen.“
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